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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Als Ren aus dem Salon lief, brachte der Briefträger gerade die Post. Auf den ersten Blick bemerkte sie zwischen Zeitungen und Briefen den viereckigen Umschlag - ein Schreiben von Ikenobe Schinitschi. Sie ging in ihr Zimmer, einen Eckraum, der auf die Terrasse hinausführte, schob die Schoji fest zusammen, ließ, sich auf die Bastmatten nieder und begann zu lesen. Ringsum lagen Stricknadeln, Knäuel orangefarbener und weißer Wolle, Strickmuster und ein halbfertiger Pullover verstreut. Aber Ren schien die Unordnung nicht wahrzunehmen.
Eine Zeitlang saß sie unbeweglich, wie versteinert. Dann hob sie den Kopf und richtete ihren Blick auf die zitternden, wirren Schatten der Baumzweige, die auf den grell von der Sonne beschienenen Schoji tanzten. Wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte, faltete sie ihre Hände über den Knien und starrte finster vor sich hin, ohne dass ihre weitaufgerissenen Augen etwas sahen.
Zwei weiße Briefbogen waren dicht mit deutlichen Schriftzeichen bedeckt. Sie reihten sich so exakt und gleichmäßig aneinander, dass sie wie gedruckt wirkten. Ren legte den Brief sorgfältig in den Kniffstellen zusammen, faltete ihn aber gleich darauf mit einer ruckartigen Bewegung wieder auseinander. Nein, ich muss doch wissen, was er schreibt!
„Ich war sehr überrascht, als ich Ihren Brief las. Zugleich aber sagte mir eine innere Stimme, dass ich mich nicht zu wundern brauchte. Ich spürte, dass etwas geschah, was geschehen musste. Ich war sehr froh und ganz verwirrt von diesem unerwarteten Glück. Zuerst wusste ich einfach nicht, was ich tun sollte - so habe ich mich gefreut! Aber merkwürdig, mit dem Gefühl der Freude zog Trauer in mein Herz. Ende August kehrte ich nach Hause zurück, nach Tokio. Fast eine Woche lang trug ich Ihren Brief bei mir und überlegte, überlegte...
Ich sage es ganz offen: Wenn Sie mich lieben, so seien Sie gewiss, dass ich Sie darum noch viel mehr liebe. Damals im Krankenzimmer konnte ich die ganze Nacht kein Auge zutun. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto eindringlicher bestürmte mich die Frage, ob ich Ihrer Liebe würdig sei. Und ich konnte Ihnen nicht sofort auf Ihren Brief antworten.
Kennen Sie mich denn überhaupt? Natürlich weniger als ich Sie kenne. Zumindest kommt mir das so vor.
Ich bin im Grunde ein schüchterner, unsicherer Mensch. Deshalb bemühte ich mich stets, energisch und fest zu erscheinen. Und sobald ich bedenke, dass Sie, die ich liebe, am Ende selbst dahinterkommen werden, dann verlässt mich aller Mut..." Ren ließ den Blick von dem Brief auf die Bastmatte gleiten. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, in der verblichenen Matte Schinitschis eigenartiges, nervöses Gesicht mit den dichten, geraden Brauen zu erkennen.
Sie nahm den Brief wieder auf und war etwas enttäuscht, als sie weiterlas: „Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Sie stammen aus einer reichen Familie und haben eine gute Schulbildung erhalten, ich hingegen bin der Sohn eines einfachen, armen Zimmermanns und habe nur die Dorfschule besucht. Doch darum handelt es sich nicht, denn ich glaube, ich habe mich selbst genügend weitergebildet und stehe Ihnen in dieser Hinsicht nicht nach. Vor allem, so meine ich, muss man ein guter, anständiger Mensch sein. Ich finde, dass das Vermögen dort, wo es um die Liebe geht, keine Rolle spielt. Glauben Sie mir also, dass ich den Standesunterschied nicht fürchte..."
Das ist nicht wahr, dachte Ren. Der ganze Ton des Briefes zeugte vom Gegenteil und berührte sie wie etwas Kaltes. Bitterkeit stieg in ihr auf, sie fühlte sich gekränkt.
Ren las Schinitschis Worte immer wieder und begriff nicht, was er eigentlich wollte. Jede Zeile wirkte gleichmäßig korrekt und klar, so wie auch das Wesen dieses Mannes war, doch sie konnte die feste Entschlossenheit, die sich in allem ausdrückte, nicht erkennen.
Er berichtete über die schrecklichen Zerstörungen in Tokio, über seine Erschütterung, als er das bei seiner Rückkehr zu sehen bekam. Über die amerikanischen Soldaten schrieb er und über die Jeeps, in denen sie umherfuhren... Dass die Fabrik in Kawasoi vielleicht wieder in Betrieb genommen und er dann gern wieder dort arbeiten würde... Dass er in der letzten Zeit eine Menge Broschüren gelesen habe, den „Wochenboten", „Die wahren Gründe für die Niederlage Japans", „Amerika und die Demokratie" und viele andere. „Ich möchte mir darüber klarwerden, was Demokratie ist, und mich ernsthaft damit beschäftigen. Ich habe den Krieg schon immer verurteilt, lange vor der Kapitulation, und jetzt ist mir die Militärclique ganz besonders verhasst."
All das interessierte Ren nicht. Es kränkte sie, dass Schinitschi jetzt nicht an sie dachte, sondern an solche Dinge. Und ich war bereit, auf seinen ersten Brief hin nach Tokio zu fahren, um ihn wiederzusehen!
Auf der Terrasse wurden Schritte laut. Komatsu Nobujoschi kehrte von einem kurzen Besuch bei seiner Großmutter zurück, die vor sechs Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte und seitdem gelähmt in einem Zimmer des Hauses lag. Ren faltete den Brief ruhig zusammen, schob ihn in den Ausschnitt ihres Kimonos und griff mit einem Seufzer nach ihrer Strickarbeit.
Nein, sie durfte diesen Brief nicht wichtig nehmen. Schinitschi war nun mal ein bisschen schwierig. Dabei litt er wahrscheinlich selbst. Gewiss hatte er hundertmal überlegt, was er ihr schreiben sollte. Ja, natürlich, so war es!
Plötzlich wurden die Schoji neben ihr auseinandergeschoben. Blendendes Sonnenlicht fiel herein. Ren blinzelte und hob den Kopf, ließ aber sofort die Augen wieder auf ihre Strickerei sinken. „Schön bist du geworden, Ren!" Nobujoschi ließ sich ihr gegenüber nieder und streckte ungeniert seine Beine aus. „Ich war ganz erstaunt, als ich dich vorhin auf dem Korridor sah."
„So? Danke." Ren blickte ihn nicht einmal an, sondern ließ die Stricknadeln eifrig weiterklappern. Komatsu betrachtete sie aufmerksam. Das nenne ich einen freundlichen Empfang! stand in seinem Gesicht zu lesen. Kartentasche und Ledergamaschen hatte er in eine Zimmerecke geworfen, nun glich er gar nicht mehr jenem Offizier, der kurz zuvor die feierliche Begrüßungszeremonie veranstaltet hatte. Ren schenkte ihm keine Beachtung - einmal, weil sie seit ihrer Kindheit an ihn gewöhnt war, und zum anderen, weil sie noch immer über Schinitschis Brief nachdachte. Was sollte sie antworten? Sie überlegte. Wenn man Zeile für Zeile las, dann erschien der Brief nüchtern, im Ganzen aber sprach ein starkes, verhaltenes Gefühl aus ihm.
„Au!" Eine schwere Hand legte sich plötzlich auf ihren Nacken. Die kleine Spange, die ein blaues Band in ihrem Haar hielt, sprang beinahe heraus. „Was fällt dir ein? Frechheit!" Sie schlug Nobujoschi mit voller Wucht auf die Hand.
„Vorsichtig, du - das tut weh!"
„Sei du doch nicht so unverschämt!" Nobujoschi war zurückgeschreckt und hatte sich auf die Bastmatten fallen lassen. Pfeifend musterte er jetzt von der Seite her verstohlen das Gesicht und die Figur des Mädchens.
„Du hast dich aber auch nicht im Geringsten verändert, Nobujoschi", sagte Ren ruhig. Sie fürchtete ihren vier Jahre älteren Vetter durchaus nicht. Er war von klein auf etwas schwerfällig. Ren nutzte das geschickt aus und ärgerte und neckte ihn häufig. Hatte sie jedoch früher ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit ihm gehabt, so empfand sie heute, nach der langen Trennung, dass der Krieg einen anderen aus ihm gemacht hatte. Aber immerhin kannte sie ihn seit ihrer Kindheit, war an ihn gewöhnt und geriet darum nicht besonders in Verlegenheit.
„Sag mal, Nobujoschi, wie hast du das bloß gemacht, dass du im Krieg warst und ohne eine einzige Schramme nach Hause kommst?"
Nobujoschi antwortete nicht. Er stand auf, summte irgendein Liedchen vor sich hin und ging im Zimmer auf und ab. Ungeniert beklopfte er eine kleine antike, mit Metallvignetten geschmückte Kommode, die Ren von ihrer Urgroßmutter geerbt hatte. Der leuchtende rote Lack des Möbelstücks hatte noch nichts von seinem Glanz eingebüßt. Dann blätterte er in den Büchern, die auf einem Regal standen, das innen mit feiner Seide bespannt war, betrachtete die Reproduktionen der Bilder von Fukigaja Koji an den Wänden, einem
Maler, den die Collegeschülerinnen besonders schätzten, berührte einen Stickrahmen mit der angefangenen Stickerei eines Herbststraußes und strich über die Saiten einer Koto (Anm.: Japanisches Musikinstrument), die mit einem roten Stück Tuch bedeckt in einer Ecke stand. Er war offensichtlich oh, dass er sich wieder in diesem Raum befand, den er seit seiner Kindheit kannte. Aber immer, wenn er von der Seite her einen Blick auf den Nacken des jungen Mädchens warf, zeigten seine Augen einen Ausdruck, der vor drei Jahren nicht darin gewesen war.
Doch Ren bemerkte das nicht, denn sie sah ihn gar nicht an.
„Was singst du da?"
„Ich weiß es selbst nicht."
„Das ist doch etwas ganz Modernes!" Ren hob den Kopf. Komatsu hielt mit unwahrscheinlich ernster, gespannter Miene die Arme ausgebreitet, als wollte er jemanden umarmen, stellte einen Fuß vor und drehte sich dann auf den Absätzen um. Ren musste lachen, denn er hatte jetzt den gleichen Gesichtsausdruck wie vorhin im Salon, als er in strammer Haltung, die Hand am Mützenschirm, herunterschnarrte, er schäme sich, dass er ungeachtet der Niederlage der Kaiserlichen Armee am Leben geblieben sei.
„Hast du amerikanische Soldaten gesehen?"
„Ja."
„Und? Wie sehen sie aus?"
„Schick... Amerikanische Tänze habe ich auch kennengelernt", fügte er hinzu und machte wieder die komischen Bewegungen.
„Jaa? Wo denn?"
„In einer Bar, in Funabaschi."
„Jaa?" fragte Ren gedehnt. Dann wurde ihr klar, was Nobujoschis Verrenkungen bedeuteten. Sie legte ihre Handarbeit beiseite und beobachtete ihn neugierig.
„Bring mir das auch bei!"
„Ich kann es ja selbst nicht richtig. Ich mache es nur nach, wie ich's gesehen habe."
„Macht nichts. Zeig es mir, so gut du kannst." Und gleich darauf hielten Ren und Nobujoschi sich bei den Händen, stießen einander hin und her, schwankten von einer Seite zur anderen, hüpften und drehten sich - sie „tanzten". Vielleicht dachte Ren dabei an ihre gemeinsame Kindheit, an die Zeit, da Nobujoschi ihr auch jedes neue Spielzeug sofort zeigen musste, oder sie spürte gleichsam die Nachkriegsatmosphäre, die von seiner Uniform auszugehen schien - sie war jedenfalls wie verzaubert.

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