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Araki hörte der Rede zu und fühlte, wie der Ärger in ihm hochstieg. Er wurde wütend.
Die Mittagspause, die sonst fünfundvierzig Minuten dauerte, war heute auf eine Stunde verlängert worden. Aber die schwülstige Begrüßung Takenoutschis und die Auslassungen des Direktors hatten schon mehr als die Hälfte der Zeit in Anspruch genommen. Außerdem hatten es die Leiter aus Mangel an Erfahrung nicht verstanden, den Ablauf der Versammlung straff zu organisieren. Wahrscheinlich würde die Verlesung der Arbeiterforderungen wegfallen.
Sagara sprach über den „Geist", der den Arbeitern der „Tokio-Electro-Company" eigen sei, darüber, dass alle Mitarbeiter der Gesellschaft, vom Lehrling bis zum verantwortlichen Vorstandsmitglied, der Company aufrichtig ergeben seien und dass eben dieser „Geist" die wahre demokratische Gesinnung sei. Er sagte, es sei nicht erwünscht, dass Organisationen wie die Gewerkschaften in der Fabrik auftauchten; denn sie wären nur geeignet, die Klassengegensätze zu verschärfen. Das „Beratungskomitee" des Werkes Kawasoi, das auf den gleichen Prinzipien der Übereinstimmung und des gegenseitigen Vertrauens beruhe wie die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, müsse alle seine Kräfte für den Wiederaufstieg Japans einsetzen und im Geiste gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Aufrichtigkeit wirken.
Alle, ob sie nun verstanden hatten, worüber Sagara sprach, oder ob ihnen seine Rede unklar geblieben war, klatschten Beifall, und der Direktor begab sich wieder in sein Büro.
Endlich erschien Kassawara auf dem Podium. „Also, im Sinne der Worte unseres Direktors haben wir unsere Wünsche aufgeschrieben und gesammelt..."
Die Zuhörer wurden unruhig. Hoffnung und Sorge zugleich erfassten die Arbeiter. Sie fühlten, dass diese Fragen in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrem alltäglichen Leben standen. Die Angestellten begriffen gar nicht, um was es sich handelte, und äußerten ihre Verwunderung und ihre Unzufriedenheit so offen, dass sich Araki beinahe wie ein Verschwörer vorkam.
„Ich bitte einen der Arbeiter, ein Mitglied des Organisationskomitees, vorzutreten und das Wesentliche der Sache zu erklären..." sagte Kassawara und verließ das Podium.
Zwei, drei Minuten vergingen.
„Na, schneller!"
Die Mitglieder des Komitees, die vor der Bühne saßen, stießen einander an. Im Saal ertönten bereits Pfiffe. Die Arbeiterinnen, die dem Komitee angehörten, versteckten sich hintereinander. Selbst die Gruppenältesten wagten sich nicht vor - es war ja das erste Mal, dass die Frauen mit den Männern eine Organisation bildeten. „Na, nun kommt schon!"
Gleich darauf lärmte der ganze Saal: „Los, auf das Podium!"
Nach einem kleinen Wortwechsel zwischen Onoki und Ikenobe stieg Schinitschi endlich auf die Bretter.
„Insgesamt wurden 721 Stimmen abgegeben, Enthaltungen 163...", las Ikenobe laut und hastig von einem Zettel ab. Er stand in seinem blauen, verschossenen Arbeitsanzug dort oben und hatte wider Erwarten keinerlei Hemmungen.
Nach jeder Forderung der Arbeiter, die er bekanntgab, ging es wie ein Seufzen durch den Saal.
„Erstens: Öfen im Arbeiterinnenheim setzen, Hibatschi (Anm.: Kleines Holzkohlenbecken zur Raumerwärmung.) in den Zimmern aufstellen - 258 Stimmen.
Zweitens: Die Wasserleitung in Ordnung bringen, damit die Rohre nicht einfrieren - 208 Stimmen."
Applaus ertönte. Alle, selbst die verlegenen Arbeiterinnen, gerieten in freudige Erregung, als sie hörten, wie ihre Vorschläge verlesen wurden. „Drittens: Eine Trockenanlage schaffen - 137 Stimmen", fuhr Ikenobe rasch fort. „Viertens: Es soll erlaubt sein, die Dienstfahrräder auch außerhalb der Arbeitszeit zu benutzen - 91 Stimmen."
Dieser Vorschlag stammte offenbar von den Arbeitern aus den umliegenden Dörfern. Eine Stimme im Saal rief: „Richtig!"
Es folgten noch drei Punkte, die ebenfalls die alltäglichen Nöte und die dringlichsten Anliegen der Arbeiter betrafen.
In Wirklichkeit waren weit mehr Vorschläge gemacht worden. Es gab viele Zettel mit Bemerkungen wie „Die Preise sind zu hoch!" oder auch ganz persönliche Äußerungen wie „Ich habe jetzt alles satt!"
Die Vorschläge waren nicht unterzeichnet.
Da Araki und Kassawara nicht wussten, wie sie solche Sätze formulieren und verallgemeinern sollten, hatten sie die meisten gar nicht verlesen. Aber schon diese sieben Punkte, die Ikenobe bekanntgab, verursachten einen unvorhergesehenen Zwischenfall. Er wurde durch den überraschenden Schlusssatz von Ikenobes Rede ausgelöst: „Diese sieben Punkte sind also unsere Forderungen." Er wollte das Podium verlassen, als plötzlich der Applaus abbrach.
„Ich habe eine Frage, ich habe eine Frage!" schrie einer aus der Gruppe der Angestellten und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum.
Ikenobe blieb verdutzt stehen und wusste nicht, was er sagen sollte. Da stieg der Obermeister Tschidschiwa aus der Schleiferei, von mehreren Stimmen angefeuert, auf das Podium. Er trug eine Joppe aus hausgewebtem Stoff; sein Haar war korrekt gescheitelt.
„Ich habe keineswegs die Absicht, gegen die Wünsche unserer Arbeiter zu sprechen." Tschidschiwa war sogar bei den Mitarbeitern der Werkleitung wegen seiner Redegewandtheit berühmt. Er gestikulierte und lächelte; sein Gesicht aber war bleich vor verhaltener Erregung. „Ich möchte jedoch bemerken, dass ein Wort wie ,Forderungen' nicht gerade sehr friedfertig klingt. Nein, es klingt feindselig und provokatorisch..."
Araki sprang auf und rief, wenn das Wort „Forderungen" nicht angebracht sei, so könne man es ja durch „Vorschläge" ersetzen. Aber es war zu spät. Tschidschiwas Redekunst hatte ihre Wirkung getan. Zwischenrufe wurden laut: „Japan hat schmachvoll kapituliert! Was gibt's da zu fordern?"
Die Frauen, die mehr als die Hälfte der Belegschaft ausmachten, schwiegen. Aus den Reihen der Arbeiter, unter denen die Demobilisierten saßen, wurde gerufen: „Ausdauer und Geduld!"
„Bleib fest, Ikenobe!" überschrie auf einmal eine Stimme den Lärm.
Alle drehten sich um. Der Schrei kam aus den hinteren Reihen. Furukawa hatte ihn ausgestoßen.
Die ganze Zeit über schien er nicht gesehen und gehört zu haben, was rings um ihn vorging. Zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen und das Gesicht darin verborgen, hatte er in der äußersten Ecke des Saales gehockt und sich nach Kräften bemüht, nicht laut loszuheulen.
Jetzt aber reckte er sich zu seiner ganzen Größe empor. Seine Augen waren noch rot von Tränen. „Wir haben ja nichts zu verlieren - bleib fest!"
Ein gutmütiges Gelächter lief durch den Saal. Zu komisch wirkten dieser überraschende Zwischenruf und die ganze Gestalt Furukawas, wie er sich drohend nach Tschidschiwa umwandte, als wollte er fragen: Wie kommst du eigentlich hierher? Mitten in dem allgemeinen Lärm und Wirrwarr heulte die Sirene, die zum Arbeitsbeginn rief.
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