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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Der Lärm auf dem Hof flaute ab. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, aber der Menschenstrom war bereits versiegt. Ab und zu nur eilte ein Arbeiter aus Tokio oder ein Mann aus einem der Fabrikheime über die langen Galerien. Die Scharen junger Mädchen und die Werkleute aus den umliegenden Ortschaften hatten sich längst davongemacht.
Als Ikenobe sich allein wusste, wickelte er vorsichtig das Päckchen auf. Ein paar grünliche Augustäpfel rollten heraus. Dann kam eine kleine Puppe aus gelber Seide zum Vorschein, und darunter lag ein rosafarbenes Briefchen. „An meinen lieben Schinitschi", stand in schöner Handschrift auf dem Umschlag, und auf der Rückseite: „Von Ren, dem Mädchen aus den Bergen."
Erschrocken schob Schinitschi die Puppe und den Brief in den Hals ausschnitt seines Hemdes und blickte unwillkürlich zur Tür.
Er presste seine Hand auf den Brief und blieb eine Zeitlang still liegen. Deutlich fühlte er sein Herz klopfen. Eine unerklärliche Unruhe befiel ihn. Habe ich sie denn überhaupt gern? fragte er sich, als müsste er sich noch einmal vergewissern.
Die Antwort kam wie von selbst: Ja, ich habe sie gern.
Dann zog er den Umschlag wieder hervor, sah ihn an und suchte den Inhalt des Briefes zu erraten. Gleich würde er ihn öffnen. Was schrieb sie? Wusste er, um was es ging?
Ja, er wusste es. Trotzdem zögerte er.
Ren war ein Rätsel für ihn. Dieses zarte Mädchen erschien ihm seltsam und unbegreiflich. Da war etwas, gegen das er sich wehren musste, aber er vermochte es nicht. Er fühlte, wie er ihrem mächtigen Zauber erlag, und er empfand dunkel, dass seine Unruhe eben daher rührte. Widerspruchsvolle Gedanken bestürmten ihn, als er schließlich den Umschlag aufriss. „Mein geliebter Schinitschi! Verzeihen Sie, dass ich so kühn bin, Ihnen zu schreiben. Schuld daran sind die Gefühle, die meine Seele und mein unerfahrenes Mädchenherz bewegen..." So begann der Brief.
Die Schriftzeichen waren nicht mit dem Pinsel, sondern mit der Feder gezogen, wie es die Collegeschülerinnen gern tun. Manche waren sogar nur flüchtig hingeworfen; Rens hitziger Charakter machte sich auch hier bemerkbar. „Ich weiß nicht, was ich von unserer Begegnung denken soll. Vielleicht soll ich sie als ein seltsames Spiel des Schicksals betrachten? Vor einem Jahr habe ich Sie zum ersten Mal in der Fabrik getroffen. Schnell wie ein Traum ist dieses Jahr für das sehnsuchtsvolle Mädchen aus den Bergen verflogen..."
Schinitschi spürte, dass jemand ins Zimmer getreten war, und schob den Brief hastig in seinen Kimono. In der Tür stand Nakatani und sah Schinitschi an. Seine Arme hingen kraftlos herab, mit müden Schritten ging er zum Tisch und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Schinitschi presste die Hand auf Rens Brief und holte tief Atem. Sekundenlang schien es ihm, als hörte er ganz dicht neben sich ihr tiefes, melodisches Lachen.
Nakatani schwieg eine Weile, dann sagte er: „Techniker - es ist schon ein Elend mit diesem Beruf, Ikenobe!"
Schinitschi hob den Kopf und sah den Obermeister erstaunt an. Es überraschte ihn, dass sich sein Vorgesetzter so merkwürdig und unbestimmt ausdrückte, denn Nakatani schwatzte niemals sinnloses Zeug und ließ sich nie zu Gefühlsausbrüchen hinreißen. Die Kollegen in der Abteilung machten oft spöttische Bemerkungen über Schinitschis Beziehungen zu Ren, nur Nakatani hatte sich nicht den geringsten Scherz darüber erlaubt. Dabei war es Schinitschi klar, dass Nakatani besser Bescheid wusste als die andern.
„Wozu haben wir uns nur so angestrengt?" begann Nakatani von neuem.
Er sagte kein Wort darüber, dass soeben alle seine Zeichnungen verbrannt worden waren, und Schinitschi konnte den Sinn dieser Frage nicht begreifen. Gewiss, dachte er, wir haben gearbeitet, immerzu gearbeitet, für den „Sieg", wie man uns weisgemacht hat. Nun aber war es nicht der Sieg, sondern die Niederlage. Da war nichts zu machen. Ihm ging es nur um Arbeit und Lohn, alles andere kümmerte ihn nicht.
„Wenn Japan gesiegt hätte, dann hätten Sie zweifellos eine Auszeichnung erhalten, Nakatanisan."
„Ja, wenn..." Nakatani schlug die Hände vors Gesicht.
Die Niederlage war keine Überraschung für ihn. Als Techniker hatte er sich schon vor Jahren auf Grund seiner Untersuchungen der Stärke des Gegners eine eigene Meinung über den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen gebildet. Allerdings hatte er bis jetzt noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, wie viele Menschen mit den Waffen umgebracht wurden, die er schuf, wer diese Menschen waren und warum sie sterben mussten. Er glaubte, für die Entwicklung der Wissenschaft und für den technischen Fortschritt zu arbeiten, und bemühte sich, sein Gewissen durch die verworrene Anschauung zu beschwichtigen, dass die Wissenschaft die höchste Berufung des Menschen sei. Jetzt aber, da all das vernichtet war, was ihn so stolz gemacht hatte, erinnerte sich Nakatani an viele seiner Freunde und Bekannten, die dem Krieg zum Opfer gefallen waren. Japan hat den Krieg verloren - also sind sie vergebens gestorben? Nakatani erkannte das, wollte es aber nicht einsehen. Krieg? Was ist das eigentlich -Krieg? Sind wir Menschen denn allesamt nur Marionetten, über die der Krieg willkürlich verfügt?
„Wissen Sie, Nakatanisan", begann Schinitschi leise, „ehrlich gesagt, ich bin gar nicht so traurig über die Niederlage..." Er redete das nicht nur so daher, um den Meister zu trösten. Nein, dieser Gedanke lag schon lange, seit Beginn des Krieges, irgendwo in der Tiefe seines Bewusstseins verborgen. Obgleich man Schinitschi bisher gezwungen hatte, Waffen herzustellen, hielt er den Krieg doch für ein Verbrechen.
In diesem Augenblick trat jemand ins Zimmer. Schinitschi sah sich vorsichtig um, doch als er Araki erkannte, beruhigte er sich. „Ich bin gegen den Krieg", fuhr er fort. Araki hatte offensichtlich schlechte Laune. Er griff nach einem der grünen Äpfel, die auf dem Bett lagen, und sagte schroff: „Jetzt ist es zu spät, darüber zu reden - nachdem Millionen Chinesen dran glauben mussten..."
Schinitschi und Nakatani blickten ihn verblüfft an. Araki wandte ihnen den Rücken zu und nagte an dem Apfel. Seine Heftigkeit setzte Schinitschi in Erstaunen. Er erinnerte sich, dass ihm Nakatani eines Tages von dem älteren Bruder Arakis erzählt hatte, der als Kommunist lange im Gefängnis gesessen habe und dort während des Krieges gestorben sei.
„Ich konnte sie kaum beruhigen." Araki berichtete aufgebracht von dem Tumult im Arbeiterinnenheim. Nakatani nickte von Zeit zu Zeit teilnahmsvoll, doch man sah, dass ihn seine eigenen Angelegenheiten mehr beschäftigten. „Der Direktor leistet sich ja schöne Sachen! Verbreitet provokatorische Gerüchte! Was soll man dazu sagen?" schloss Araki.
Das Wort „provokatorisch" war Schinitschi neu; doch er dachte jetzt nicht weiter darüber nach, seine Gedanken waren bei Rens Brief. Trotzdem bemerkte er, dass Araki zwar äußerlich wütend, im Grunde aber in gehobener Stimmung war. Der verlorene Krieg schien ihm nicht sonderlich nahezugehen.
Araki trommelte mit den Fingern auf den Tisch, wandte sich dann zum Fenster um und schob den Vorhang zur Seite. „Nakatani, wie hieß es im Potsdamer Abkommen?" fragte er nach einer kleinen Pause. „Was haben sie im Radio gesagt? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Weißt du es noch, Ikenobe?"
Schinitschi entsann sich auch nicht. Nakatani betrachtete Araki schweigend, zog den Tischkasten auf, nahm einen Notizblock heraus, in dem mehrere Zeitungsausschnitte lagen, und reichte einen davon Araki. Nakatani hatte die Angewohnheit, alles Mögliche aufzubewahren, was er vielleicht „noch einmal gebrauchen" könnte. „Da ist es schon."
Araki vertiefte sich in den Text. Einige Sätze las er laut vor: „Die Alliierten sind nicht gewillt, das japanische Volk zu vernichten oder in die Sklaverei zu stürzen..."
„Ja, so ist es..." Er warf das Papier auf den Tisch. „Man muss dem ,Frosch' mal tüchtig Bescheid sagen."
Er lächelte. Nakatani schwieg wie bisher, Schinitschi griff nach dem Zeitungsausschnitt. „Die japanische Regierung muss alle Hindernisse bei der Wiederbelebung und Festigung der demokratischen Tendenzen im japanischen Volk beseitigen. Die Freiheit des Wortes, der Religion und des Denkens wird wiederhergestellt ebenso wie die Achtung gegenüber den Grundrechten des Menschen..."
Er las diese Stelle noch einmal, doch die Worte „Freiheit des Denkens" waren ihm unfassbar. Er hatte sich über seine Denkweise bisher nie den Kopf zerbrochen und darum auch nicht empfunden, ob man ihm diese Freiheit streitig machte oder nicht. „Grundrechte des Menschen" - Menschenrechte, Grundrechte -, was bedeutete das? Schinitschi hatte solche Worte noch nicht auf Japanisch gelesen. Darin lag etwas, das grenzenlos und unermesslich war wie das weite Meer. Er schüttelte den Kopf und legte den Zeitungsausschnitt wieder aus der Hand. „Die Gesellschaft hat offenbar noch keine bestimmten Pläne", brachte er endlich heraus.
Die beiden Meister begannen, das weitere Schicksal der Fabrik zu erörtern.
„Sie wird wieder arbeiten! Kann denn Japan aufhören zu bestehen? Solche Maschinen, wie sie die ,Tokio-Electro' herstellt, liefert kein anderes Unternehmen bei uns. Die Frage ist nur, wer jetzt Eigentümer der Fabrik wird. Vielleicht die Alliierten?" meinte Araki.
Worte wie „Europa" und „Stalin" kamen in seiner Rede vor, und Schinitschi lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit auf diese neuen Ausdrücke. Vieles blieb ihm trotzdem unverständlich. Anscheinend war Araki selbst nicht genau im Bilde.
Auf dem Hof erschienen einige junge Mädchen aus dem Arbeiterinnenheim drei. Sie trugen Körbe und Säcke auf dem Rücken. Offenbar hatten sie den Zug verpasst.
Was soll aus uns werden, dachte Schinitschi, wenn das Werk die Arbeit nicht wiederaufnimmt? Wie wird es überhaupt jetzt auf der ganzen Welt?
Schinitschi fühlte Rens Brief an seiner Brust. Er sah aus dem Fenster. Hoch oben über den Berggipfeln schwebten schon weiße Herbstwolken. Ab und zu glaubte Schinitschi, Rens Lachen zu vernehmen, von weither, wie im Traum. Er fühlte eine furchtbare Schwäche, wie sie oft nach schweren Krankheiten auftritt.

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