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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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„Oh, ihr blüht noch immer, Kirschen am Kudanhügel..." schluchzte eine schon ziemlich abgespielte Grammophonplatte. Die Melodie stieg zum Himmel auf, der sich über den nebelverhüllten Bergen verfinsterte, und versetzte die Dorfbewohner, die sich vor dem Kwannontempel versammelt hatten, in eine freudigerregte Stimmung.
Gelangweilt hörten die jungen Burschen zu, wie die Festordner die Spenden für das Fest und die Namen der Geber verlasen. Die Tanzmusik berauschte die jungen Leute - sie hatten ja bisher immer nur Soldatenlieder und Märsche gehört. Sie standen dichtgedrängt, hatten einander untergefasst und schrien aus vollem Halse: „Schon gut! Ist klar! Noch schneller!" - „Hoo, hoho..."
Die Burschen schnitten Fratzen und vollführten komische Verrenkungen und versuchten, mit den
Bauernmädchen anzubandeln, die vor der Bühne standen. Die Mädchen stoben kreischend auseinander, und die ausgelassene Stimmung erreichte ihren Höhepunkt.
In dem hellen Licht einer Hundert-Watt-Lampe, die an einem Ast einer alten Zeder angebracht war, boten die vergnügten Menschen ein heiteres Bild. Der ganze Platz von der Bühne bis zur Mitte des Maulbeerhains war überfüllt. Vorn saßen auf Bastmatten die Alten und die Kinder, hinter ihnen standen die andern Dorfbewohner. Viele hockten sogar auf der steinernen Einfriedung. Die Blätter der Bäume waren feucht vom Nebel und glänzten im Schein des elektrischen Lichts wie junges Frühjahrsgrün. Auch die Gesichter und die Augen der Leute schienen verjüngt.
Ein Bursche im Soldatenhemd, einer von den Demobilisierten, stand auf der Bühne und sang, mit vor Anstrengung krebsrotem Gesicht, das „Wellenlied". „Schluss mit dem Unsinn! Herunter von der Bühne!" rief einer.
„Ruhe! Lass ihn doch singen!" ertönte eine andere Stimme.
Völlig verwirrt durch das Lachen, Schreien und Applaudieren, stützte der Sänger eine Hand auf den Notenständer, schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Aber er hörte nicht auf. Es klang wahrhaftig nicht wie Gesang, sondern eher wie das klagende Rufen eines blinden Amma (Anm.: Masseur, ein Beruf, den in Japan von alters her Blinde ausüben. Sie streifen durch die Straßen und bieten ihre Dienste an mit dem monotonen, langgezogenen Ruf „Amma-Amma".).
Zu beiden Seiten der Bühne hingen weißrote Vorhänge, die gewöhnlich bei sportlichen Veranstaltungen der Schule verwendet wurden, und die Papierbogen, auf denen die beigesteuerten Geldbeträge verzeichnet waren. Die Namen aller Honoratioren der Gemeinde waren in geziemender Reihenfolge aufgeführt, beginnend mit Torisawa Kintaro, der 300 Jen „geopfert" hatte, bis zu Takenoutschi Tadaitschi mit einem Beitrag von 30 Jen.
Diese Rangordnung kam sogar in der Reihenfolge zum Ausdruck, in der die Zuschauer vor der Bühne ihre Plätze eingenommen hatten. Ganz vorn, etwas erhöht, saßen die angesehensten Leute mit ihren Familien, an der Spitze Torisawa Mosuke, der Vorsitzende der Jugendorganisation.
Torisawa Ren und Komatsu Nobujoschi aber, die etwas abseits auf einem hohen Steinwall standen, ragten über alle andern hinaus.
Auf einer schmalen Mauer ihnen gegenüber hockten Hatsue und Kiku mit ihren Freundinnen und hielten sich nur mit Mühe im Gleichgewicht. „Sieh mal, wie schön sie gekleidet ist!" Kiku stieß Hatsue an und zeigte auf Torisawa Ren, die einen grellroten Rock und eine weiße Flauschjacke trug. Der Schein der Glühbirne drang kaum bis dorthin, aber die elegante europäische Kleidung des Mädchens fiel in diesem Halbdunkel besonders auf.
Komatsu hatte seine Offiziersuniform an, und darum wagten sich die dreisten Dorfburschen nicht näher heran.
Das Lied war zu Ende, und die Zuhörer applaudierten. Jamanaka Kisuke, mit seiner unvermeidlichen roten Sportmütze auf dem Kopf, zog den Vorhang zu. Das war sein Amt. Einer der Festordner trat vor; er hielt ein Blatt Papier in der Hand, auf dem die Tusche noch nicht getrocknet war, und verkündete laut: „Bitte einen Augenblick um Aufmerksamkeit. Es wurden 200 Jen gezeichnet von Herrn Nogami Tsutomu aus Hirajama."
Wieder klatschte die Menge, der Vorhang öffnete sich, und unter dem Beifall des Vorsitzenden und der andern Mitglieder der Gemeindeverwaltung stieg Takenoutschi Tadaitschi, geschniegelt und gebügelt, in seiner Milizuniform die Stufen zur Bühne hinauf.
Als „ihr" Takenoutschisensei auf dem Podium erschien, klatschten Hatsue und ihre Freundinnen ebenfalls Beifall. So hatten sie es auch gehalten, als sie in der Seidenspinnerei arbeiteten. Übrigens fühlte Hatsue eine gewisse Unruhe, wie stets, wenn Takenoutschi so süßlich lächelte.
„Verehrte Anwesende, verzeihen Sie, dass ich es wage, Sie mitten im schönsten Vergnügen zu stören", begann Takenoutschi, machte ein liebenswürdiges Gesicht und verneigte sich lächelnd nach rechts und links. „Unser hochverehrter, in ganz Japan berühmter Leiter der Bauernbewegung, Herr Nogami Tsutomu, hat es möglich gemacht, heute nach Schimo-Gawasoi zu kommen, um eine neue politische Partei zu gründen und auf einer Versammlung zu sprechen. Ich Unwürdiger habe nun in dem innigen Wunsch, dass Herr Nogami auch zu Ihnen sprechen möge, ihn, den Vielbeschäftigten, gebeten, uns einige Minuten zu widmen und uns mit seiner Anwesenheit zu beehren..."
Wieder ertönte Applaus, und Takenoutschi trat einen Schritt zurück. Allen war klar, dass er sich entschlossen hatte, sein Schicksal mit dem der neuen Partei zu verbinden. Aber was er dann weiter sagte, das hatte bisher noch keiner aus seinem Munde gehört: „Jetzt, da in Japan die Ära der Demokratie angebrochen ist, müssen wir den Massen voranschreiten, die alten feudalen Überreste vernichten und ein neues, demokratisches Japan aufbauen..."
Plötzlich rief jemand: „Hört auf mit den politischen Vorträgen!"
Takenoutschi stockte mitten im Wort und drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort saßen neben einer Steinmauer heimgekehrte Soldaten, meist ehemalige Reservisten. Unvermittelt ertönte aus dem Grammophon wieder Musik. Einige lachten. Takenoutschi streckte die Hände aus, als wollte er zur Ordnung rufen, und die Festordner stürzten auf das Grammophon zu, um es abzustellen.
Takenoutschi fuhr fort: „Erlauben Sie also, dass ich Ihnen unseren alten Freund und Lehrer vorstelle, der zehn Jahre schwerer, andauernder Kämpfe hinter sich hat - Herrn Nogami Tsutomu." Takenoutschi verließ das Podium.
Auf dem Platz vor dem Kwannontempel war es sehr laut; die feuchte, schwüle Luft strich in Wellen über die Menge hin. Als Nogami Tsutomu auf der Bühne erschien, wurde es still. Nogami Tsutomu, ein kleiner Mensch mit flachem Gesicht und Spitzbart, trug eine Joppe, Gamaschen und Strohsandalen. Er trat an das Pult, neben dem der Soldat das Lied gesungen hatte, und sagte mit ruhiger Stimme: „Unser leidgeprüftes japanisches Volk, das durch einen räuberischen Krieg, den die herrschenden Klassen entfesselt haben, in einen unabsehbaren Strudel von Katastrophen hineingezogen wurde..."
Die heisere, vom täglichen Reden angestrengte Stimme klang eindringlich. Hatsue klammerte sich an Kikus Schulter und lauschte vorerst angestrengt, um die ungewohnte, eigenartige Betonung und die schwierigen Fremdwörter zu verstehen, die der Sprecher in seine Ansprache einflocht. Schließlich gab sie dieses Bemühen auf; denn sie gewann bald den Eindruck, dass es sich nicht lohnte, dem Redner zu folgen. Seine Worte waren neu und unverständlich, im Ganzen aber flossen die Sätze ebenso leicht dahin und klangen ebenso feierlich wie bei all den anderen Rednern, die sie und ihre Freunde oft genug gehört hatten. Das ist wohl auch so einer von den hohen Herren, dachte Hatsue. Sie war dabei gewesen, wenn der Oberst, der Kontrolloffizier in der Fabrik, wenn die Vertreterin der Ortsgruppe der „Frauenvereinigung von Großjapan" und wenn die Vorstandsmitglieder der Company sprachen. Eine lange Reihe aller möglichen Redner, vom Direktor bis zu den Abteilungsleitern, stand vor ihrem geistigen Auge auf. Im Grunde hatten sie alle nichts anderes gewollt, als ihr immer wieder einzuhämmern: Tu, was ich dir befehle!
„Pst, hinter Rentjan - ist das Komatsusan? Er ist wohl ihr Bräutigam?" flüsterte Kiku, der es auch langweilig wurde, Nogami Tsutomu zuzuhören.
„Sicher", antwortete Hatsue, blickte zu Ren und Komatsu Nobujoschi hinüber und zupfte zerstreut an den Schnüren ihres Haori. Plötzlich schrak sie zusammen; denn unmittelbar neben ihr ertönte ein lauter Ruf: „Was heißt zehn Jahre Kampf? Gib doch nicht so an!"
Die Versammelten waren schon seit einer Weile unruhig.
„Zehn Jahre Kampf? Schwindle nur noch mehr!"
Hatsue hatte bemerkt, dass dieser Ausruf von Torisawa Itschiro kam, dem Sohn des Bauern Kiju. Der glattrasierte Kopf des jungen Mannes glänzte unmittelbar vor ihren Füßen.
Torisawa Itschiro war vor fünf oder sechs Jahren, als er die Mittelschule in Okaja besuchte, als „Roter" verhaftet worden. Da das Gerede über ihn im Dorf nicht aufhörte, fuhr er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nach Nagoja, wo er bis jetzt in einer Fabrik gearbeitet hatte.
Die Menge begann zu lärmen; das Durcheinander wurde immer größer. Die alten Leute vorn auf ihren Bastmatten applaudierten von Zeit zu Zeit diesem „alten Bauernführer". Die jungen Burschen, die bei dem Grammophon in der Nähe der Mädchen saßen, schrien: „Genug geredet!" Sie wollten möglichst bald anfangen zu tanzen und zu singen. Die Atmosphäre wurde immer gespannter. Diese bedrückende Spannung ging von einer Gruppe heimgekehrter Frontsoldaten aus, die im Halbdunkel neben der steinernen Einfriedung standen.
„Und jetzt, nach diesen schweren zehn Jahren, ist dank der Tätigkeit der Vorkämpfer der proletarischen Klasse heute ein neues Japan im Entstehen, ein neuer Heute des demokratischen Japans..."
Spärlicher Beifall klang auf, und Nogami Tsutomu verbeugte sich.
Plötzlich schrie einer der Reservisten: „Weg mit dem Roten!"
„Wir müssen an der Spitze der hart arbeitenden Bauern vorwärtsschreiten!" Der Redner versuchte, den Zwischenruf zu ignorieren, wurde jedoch immer wieder unterbrochen. Jemand stellte das Grammophon an. Eine Lachsalve ertönte.
„Nach dem Sturz der Militärclique, die Japan an den Rand des Abgrunds gebracht hat...", fuhr Nogami Tsutomu unbeirrt fort.
In diesem Augenblick hörte man einen scharfen Knall, und alles ringsum versank in Finsternis. Ein Stein, der auf die Bühne geworfen worden war, hatte die Glühbirne zerschmettert.
Takenoutschi Tadaitschi und die Festordner stürzten auf die Bühne.
Ein unvorstellbarer Tumult brach aus. Mädchen kreischten auf, die Burschen lachten, Kinder weinten. Hatsue wurde von allen Seiten gedrängt. Vor Schreck stockte ihr der Atem. Da fiel ihr Blick zufällig auf die steinerne Einfriedung. Hinter Rens Rücken erhob sich unversehens eine Hand im Ärmelaufschlag einer Offiziersuniform und schleuderte so blitzschnell einen Stein, dass selbst Ren, die daneben stand, nichts bemerkte. In der nächsten Sekunde hatte Komatsus Gesicht wieder seinen gewohnten, unerschütterlichen Ausdruck angenommen.
„Oh, ihr blüht noch immer..."
dröhnte der Lautsprecher. „Schlagt die Roten!" schrien die Reservisten.
„Oh, ihr blüht noch immer, Kirschen am Kudanhügel... lalala..."
„Dreht die Musik ab!"
Hatsue wurde von der Mauer hinuntergestoßen; sie fiel auf eine Frau, diese wankte, verlor in dem Wirrwarr einen Getan und stürzte zusammen mit ihrem Kind, das sie sich auf den Rücken gebunden hatte, zu Boden.
„Mitten in der Stadt der Blüten, In der blühenden Stadt..."
„Nogami!   Weitersprechen!" - „Versuch   es   nur! Untersteh dich!"
„Ihr blüht noch immer... lalala..." Ein paar junge Burschen hatten sich Tücher um die Köpfe gebunden und tanzten. Kreischend liefen die Mädchen nach allen Seiten auseinander. Hatsue nahm alle Kraft zusammen und versuchte, aus der Menge herauszukommen. Man riss ihr fast den Haori von den Schultern. Der Menschenstrudel um sie herum wurde immer dichter. Von irgendwoher drang die Stimme Kikus an ihr Ohr. Sie rief um Hilfe, wurde aber sofort von der „Tokioter Weise" übertönt. „Hatsutjan, Hatsutjan!"
„Ihr blüht noch immer..."

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