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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Aufheulend verkündete die Sirene den Beginn der Mittagspause. Ikenobe Schinitschi aß stehend an seinem Arbeitsplatz. Dabei las er in dem Buch „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft". Ab und zu legte er die Essstäbchen beiseite und griff nach einem Rotstift, um eine Zeile anzustreichen. Nach dem Essen schob er das Buch in die Tasche und verließ die Werkhalle, in Gedanken noch immer mit dem Gelesenen beschäftigt. Er überquerte die Brücke über den Tenrju und stieg auf einem Fußpfad bergan.
„In der Warenproduktion, wie sie sich im Mittelalter entwickelt hatte, konnte die Frage gar nicht entstehen, wem das Erzeugnis der Arbeit gehören solle. Der einzelne Produzent hatte es in der Regel
aus ihm gehörendem, oft selbsterzeugtem Rohstoff mit eigenen Arbeitsmitteln und mit eigener Handarbeit oder der seiner Familie hergestellt. Es brauchte gar nicht erst von ihm angeeignet zu werden, es gehörte ihm ganz von selbst. Das Eigentum am Produkt beruhte also auf eigener Arbeit... Da kam die Konzentration der Produktionsmittel in großen Werkstatten und in Manufakturen, ihre Verwandlung in tatsächlich gesellschaftliche Produktionsmittel."
Alles ringsum - die Brücke, der Pfad, die Felder an den Berghängen - schien völlig menschenleer. Am Ufer des Flusses hatte sich Eis gebildet, und unten im Tal, zwischen den Fabrikschornsteinen, pfiff der Wind.
„Sei auf der Hut, auch wenn niemand zu sehen ist", hatte Araki ihn gewarnt, doch Schinitschi hatte die Mahnung vergessen. Er kannte die Gegend gut; an sonnigen Tagen kam die Fabrikjugend oft hierher, an diese kleine Brücke, um sich zu erholen.
In den letzten vier Wochen war Schinitschi ernst und nachdenklich geworden. Er fühlte, dass sein Gesichtskreis mit jedem Tag weiter wurde. Er kam sich sogar morgens anders vor als am Abend zuvor.
Es war ein schwerverständliches Buch. Saint-Simon, Thomas More, Fourier, Owen und die anderen ausländischen Namen klangen ungewohnt. Vieles begriff Schinitschi nicht. Was bedeutet zum Beispiel das Wort „Metaphysik"? Oder was für ein Ereignis in der Geschichte der europäischen Länder war die „Reformation"? Manche Seiten waren vollständig mit fremden, komplizierten Ausdrücken bedeckt.
Dafür übten die Stellen, die er gut verstand, einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn aus. „...So fuhr jetzt der Besitzer der Arbeitsmittel fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Produkt war, sondern ausschließlich Produkt fremder Arbeit."
Was für eine große Wahrheit! Schinitschi wusste zwar mit Worten wie „Produktionsweise" oder „Produktionsmittel" noch nichts anzufangen, aber die klaren und einfachen Formulierungen drangen in sein Bewusstsein und erhellten alles ringsum mit strahlendem Licht. Sie zogen ihn an wie ein Magnet. Die letzten Zeilen hatte er verstanden. Sein ganzes Leben bestätigte sie. Seit seiner Lehrzeit hatte er nichts anderes getan, als verschiedene „Produkte" herzustellen - elektrische Zähler, Drehzahlmesser, alle möglichen Apparate -, und nicht ein einziges Zahnrädchen gehörte ihm, nein, alles gehörte der Company. Er selbst war nur ein Arbeitssklave, der für einen kärglichen Lohn neue Werte schuf.
Plötzlich trat Kisuke hinter einem Hügel hervor. „Die Versammlung hat schon angefangen", erklärte er. „Seit Ikesan eine Liebste hat, kommt er ständig zu spät. Hab ich recht?" „Was ist los?" Schinitschi war noch immer mit seinen Gedanken beschäftigt und hatte gar nicht begriffen, was dieser Bursche mit dem roten Käppi von ihm wollte.
„Onokisan meint auch..." Der junge Mann steckte die Hände in die Taschen und stampfte frierend mit den Füßen. „Seit Rentjan wieder in der Fabrik ist, sagt er, hat Ikenobe ganz und gar den Kopf verloren."
„Rede keinen Unsinn." Schinitschi schnippte ihm mit den Fingern in den Nacken.
Die Felder waren zu Ende, und Schinitschi kam in den Wald.
Noch vor kurzem hatte er alle seine Anstrengungen darauf gerichtet, so gut wie möglich zu arbeiten und recht viel Geld zu verdienen. Mit etwas Glück konnte er es zum „niederen Angestellten der Gesellschaft" bringen. Jetzt sanken alle diese Pläne in sich zusammen.
Es gab viele, die genauso waren, wie er selbst noch vor wenigen Tagen gewesen war. Jeder - der Kaiser und die Kapitalisten, die Grundherren und die Staatsbeamten, die Lehrer und die Polizisten - bemühte sich, die Wahrheit zu verbergen. Tausenden, aber Tausenden hatte man Scheuklappen aufgesetzt.
„Alle wissen das, alle...", scholl die vertraute, durchdringende Stimme Onokis an sein Ohr. Schinitschi trat auf eine kleine Lichtung hinaus.
„Alle wissen es schon; man spricht ja ganz offen darüber. Nur - wie soll ich sagen...", Onoki stockte und suchte nach dem passenden Ausdruck. „Kann man denn offen darüber reden? Man braucht nur davon anzufangen, gleich sieht einen der Meister so an, dass..."
Sie hatten sich hier in den Bergen versammelt, um die Möglichkeiten für die Gründung einer Gewerkschaft zu besprechen. Onoki berichtete, dass im Hauptwerk der Company bereits eine Gewerkschaft bestehe. Im Werk Kawasoi ging das Gerücht, man habe eine Lohnerhöhung um das Fünffache gefordert; aber die Leute waren durch den Ausgang der „Vorschlägesammlung" eingeschüchtert und wagten nicht, ihre Unzufriedenheit kundzutun.
„Mit anderen Worten, du willst sagen, dass es schön wäre, wenn sich eine Maus finden würde, die der Katze ein Glöckchen um den Hals hängt", bemerkte Nakatani, der im Grase saß, den Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt. Alle lachten.
„Wie wär's, wenn wir einen Aufruf in den Werkhallen aushängen würden?" schlug Araki vor, als wieder Ruhe eingetreten war, und ließ den Blick über die Versammelten schweifen. „Wenn wir eine ,Initiativgruppe des Werkes Kawasoi' bilden und für Lohnerhöhung und für Gründung einer Gewerkschaft agitieren würden? Mag es zuerst nur eine ,Initiativgruppe' sein, sobald ein Aktiv auftaucht, werden auch andere anfangen, offen zu sprechen." „Richtig!"  stimmte Kassawara  zu  und  meinte, jeder solle in der Abteilung, in der er arbeite, einen Aufruf aushängen. „Und wer macht es im Kontrollraum, in der Schleiferei und in der Montagehalle eins, wo niemand von uns beschäftigt ist? Solange wir keine Organisation haben, geht keiner in eine fremde Werkabteilung, selbst wenn er seit zehn Jahren in der Fabrik arbeitet."
Ich mache es, dachte Schinitschi. Er war in gehobener Stimmung. Jetzt, da sich die Wahrheit vor ihm auftat, fühlte er sich fähig, alles zu tun, was man von ihm erwartete. Doch da kam ihm einer zuvor. „Ich gehe hin." Alle schauten Furukawa an und lächelten unwillkürlich, weil er so niedergeschlagen und hoffnungslos aussah.
Er saß auf der Erde, hatte die Arme um die Knie geschlagen und den Blick abgewandt. Aus seiner Hosentasche ragte die Broschüre „Was muss man von den Gewerkschaften wissen?" heraus. Wohl oder übel hatte man ihn zu dieser Versammlung einladen müssen, kannte er doch ohnehin den Inhalt der ersten Nummer der „Akahata". Seine trübselige Miene schien zu sagen: Ich bin zu nichts nütze, aber das kann ich machen.
Selbst Schinitschi wusste nicht, ob Schiro die Broschüre über die Gewerkschaften gelesen hatte oder nicht, und wenn ja, ob er etwas davon begriffen hatte. Schinitschi hatte nur bemerkt, dass Furukawa seit den Vorhaltungen Arakis still und gedrückt war wie ein krankes Tier.
Während alle diskutierten, hockte Furukawa da und starrte zwischen den Felsen hindurch auf den Suwasee, dessen Eisdecke wie eine silberne Schale glitzerte. Aber er schien nichts zu sehen und zu hören.
„Montagehalle eins - Toki Hana - ,Lohnarbeit und Kapital' und ,Die Entwicklung des Sozialismus
von der Utopie zur Wissenschaft', je ein Exemplar; in derselben Abteilung - Jamanaka Hatsue und Jamanaka Kiku - die Broschüre ,Was muss man von den Gewerkschaften wissen?', je ein Exemplar; Montagehalle zwei - Kaischima Nobuko - ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft', ein Exemplar..." Kassawara las die Namen derer, die Bücher bekommen hatten, von einem Notizblock.
„Kaischima Nobuko? Ist das die Kontoristin aus der Montagehalle zwei?" fragte Araki. Er ließ im Geiste die Menschen vorüberziehen, die die Bücher lesen würden. Wenige, sehr wenige gab es unter ihnen, die den Inhalt verstehen konnten!
„Tschidschiwasan aus der Schleiferei hat zu mir geschickt und um die Broschüre ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft' gebeten, aber ich habe es abgelehnt", erklärte Schinitschi energisch. Er erwähnte das nur nebenbei. Nakatani aber widersprach ihm: „Falsch. Du hättest es ihm geben sollen. Nicht wahr, Araki? Tschidschiwa ist doch  anscheinend   ein   zuverlässiger Mensch..." Dann setzte er misstrauisch hinzu: „Woher weiß er es überhaupt? Ist er selbst bei dir gewesen?" „Nein", begann Schinitschi verlegen, doch Onoki unterbrach ihn mit lauter Stimme: „Wahrscheinlich war Rentjan die Vermittlerin."
Alle lachten, und Schinitschi wurde dunkelrot, obgleich er fühlte, dass er gar keinen Grund hatte, sich zu schämen. Ren las dieses Buch ebenfalls, und Schinitschi glaubte, dass sie es ebenso gut verstand wie er selbst.
Araki entwarf einen Text für den Aufruf. Nachdem er ein paar Zeilen geschrieben hatte, hielt er inne, presste die Lippen fest zusammen und blickte auf das Papier. „An alle!
Wir gründen eine Gewerkschaft. Unser Ziel ist die Erhöhung der Löhne. Für unseren Lohn kann man gerade ein Kilogramm Reis kaufen. Im Hauptwerk der Company haben die Arbeiter bereits..."
Araki schob das Kinn in den Kragen seiner blauen Arbeitsjoppe. Er war bleich, und in seine Stirn gruben sich zwei tiefe Falten. Schinitschi kannte dieses Gesicht seit langem, jetzt aber erschien es ihm fremd.
Früher wirkten die Falten auf Arakis Stirn wie ein Zeichen ständigen, kummervollen Grübelns, als ließe ihn die Erinnerung an seinen verstorbenen Bruder nicht los. Jetzt aber sprach aus diesem Antlitz eine unbeugsame Kraft und das Bestreben, etwas Großes, Bedeutendes zu leisten.
„Das wirbelt gewiss viel Staub auf", bemerkte Kassawara und hockte sich neben Nakatani nieder. „Da hilft auch die Unterschrift ,Initiativgruppe' nichts. Der ,Frosch' sieht uns ohnehin schon lange scheel an." Nakatani nickte.
„Und zu allererst wird er über Araki herfallen: ,He, Araki, du bist entlassen!'" fiel Onoki ein.
Araki vollendete den Text für den Aufruf und blickte eine Weile nachdenklich mit zusammengekniffenen Augen über den See.
„Der Aufruf muss noch heute vor Feierabend geklebt werden", sagte er und überreichte Nakatani den Schreibblock. Dann setzte er sich bequemer zurecht und umfasste die Knie mit den Händen. „Noch eins sollten wir nicht die Mitglieder des ,Beratungskomitees' hinzuziehen? Man kann mit ihnen sofort ein Vorbereitungskomitee zur Organisierung der Gewerkschaft zusammenstellen." „Hm..."
„Auf diese Weise können wir die Initiative ergreifen und dem ,Frosch' zuvorkommen." Nakatani nickte bedächtig.
Schinitschi wurde ungeduldig. Das Gesicht des Direktors fiel ihm ein und sein Gebrüll: Macht, dass ihr rauskommt! Jetzt weckte dieses Gesicht keine Furcht mehr in ihm, sondern nur noch Hass.
Zwischen den Bäumen tauchte ein rotes Käppi auf, und Jamanaka Kisuke erschien. Man sah ihm an, dass er eine wichtige Meldung brachte. Er lief auf Araki zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Was? Takenoutschi?" schrie Onoki, der einige Worte aufgefangen hatte. „Verfluchter Spion! Dem werden wir einen Denkzettel verabreichen!"
Kassawara und Nakatani standen auf. Habe ich vielleicht nicht aufgepasst und ihn auf die Spur geführt? überlegte Schinitschi. Aber nun war es zu spät, etwas zu unternehmen. „Was sollen wir tun?
Takenoutschi ist immerhin Mitglied der Sozialistischen Partei. Er hat gewiss seine Pläne und wird nicht gegen die Gewerkschaft protestieren", meinte Araki.
Auf der Lichtung erschien Takenoutschi in seinem schwarzen Jackett, das er gewöhnlich bei der Arbeit trug. Die Hände hielt er auf dem Rücken verschränkt.
„Ach, da sind ja alle beieinander", rief er und tat, als wunderte er sich darüber. Ein süßliches Lächeln umspielte seine schlaffen Lippen. Die Äuglein unter den struppigen Brauen huschten von einer Seite zur andern.
Araki streifte ihn mit einem flüchtigen Blick. „Ich bringe ihn so weit, dass er sich einverstanden erklärt, in der Gewerkschaft mitzuarbeiten. Dadurch entwaffne ich ihn", sagte er leise zu Nakatani.

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