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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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26

Mitte Dezember 1945 fuhr Araki mit dem Nachtzug nach Tokio.
In Kofu wurde es so eng im Abteil, dass man sich kaum bewegen konnte. Im Gang und zwischen den Bänken standen die Fahrgäste dicht gedrängt. Manche saßen auf ihren Bündeln und Rucksäcken mit Lebensmitteln, die sie auf dem Lande eingehandelt hatten, und schliefen. Einige hatten es sich in den Gepäcknetzen bequem gemacht und ließen ihre Beine in Soldatenstiefeln herunterbaumeln. Andere unterhielten sich, wieder andere schimpften laut. Kinder weinten. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben wehte der Wind den Rauch der Lokomotive herein. Die unbeleuchteten Wagen holperten klappernd und kreischend durch das nächtliche Dunkel und schwankten so stark von einer Seite auf die andere, dass sie jeden Augenblick umzustürzen drohten. Ab und zu verschwand der Zug in einem Tunnel.
Was tun? - Araki hockte in unbequemer Stellung, die langen Beine hochgezogen, am äußersten Ende einer Bank und wiederholte in Gedanken immerzu diese beiden Worte. Er hatte das Buch von Lenin, „Was tun?", mitgenommen in der Absicht, es unterwegs zu lesen. Doch bisher war er über die ersten Seiten nicht hinausgekommen.
Fortwährend wurde er angestoßen, und manchmal schlug ein Stiefel an seinen Kopf. Was tun? Was tun?
Das „Beratungskomitee" war aufgeflogen, die gesammelten „Vorschläge" waren abgelehnt worden, und die Arbeiter schienen nicht geneigt, sich zum Kampf zu erheben, obgleich das alles sie empörte.
Man war auf sich allein angewiesen. Die achthundert Arbeiter der Fabrik glichen einer blinden Herde.
Araki stellte den Kragen seines Mantels hoch, um sich gegen die Zugluft zu schützen, die durch das Abteil strich, schloss die Augen und ließ im Geist die Gestalten seiner alten Mutter, seiner Frau und seiner Kinder vorüberziehen, die er in der Dienstwohnung zurückgelassen hatte. Der Gedanke war wie eine Versuchung - sich seine eigene kleine Welt zu schaffen, seine Lieblingsbücher zu lesen, zu arbeiten. Seine eigene Welt, die ihm allein gehörte und in die niemand eindringen könnte! Dort würde er frei und unabhängig sein. Wenn er sich ruhig verhielt, dann war ihm die Stellung eines Abteilungsleiters, zumindest eines Werkhallenleiters, sicher.
Er verzog das Gesicht, als wäre ihm etwas Bitteres auf die Zunge geraten, biss die Zähne fest zusammen und öffnete die Augen weit. Auf seinem Schoß lag das Buch „Was tun?" Die Rückseite des Umschlages trug den Stempel „Araki", und darunter stand, mit der Hand geschrieben, der Name Araki Fumio. Es war die Unterschrift seines verstorbenen Bruders. Was tun?
Araki benutzte ein paar Urlaubstage, um nach Tokio zu fahren. Die Erkenntnis, dass er als einziger von achthundert Menschen, die in der Fabrik arbeiteten, die Dinge einigermaßen begriff, ließ ihm keine Ruhe. Man musste etwas tun. Der Zug erreichte Sarubaschi. Draußen wurde es allmählich hell.
Auf jeder Station stiegen neue Fahrgäste ein. Mit Säcken auf den Rücken kletterten sie durchs Fenster. Überall gab es Wortwechsel und Streitereien. Einmal wollte eine ältere Frau, die einen Sack über der Schulter trug, einsteigen. Sie hatte schon ein Bein durch den Fensterrahmen geschoben, als sie zurückgestoßen wurde und auf den Bahnsteig stürzte. So war es, wenn die Leute nicht verstanden, einmütig und geordnet zu handeln! Sie dachten ja nicht einmal darüber nach, warum sie das alles durchmachen mussten!
„Selbstbewusstsein! Klassenbewusstsein!"
Araki hatte den Eindruck, dass er allein in dem ganzen Eisenbahnwagen ein solches Bewusstsein besaß. Er glaubte, die Bedeutung dieses Bewusstseins noch nie so klar empfunden zu haben.
Ungewöhnlich lebendig waren in seinem Herzen die Erinnerungen an seinen verstorbenen Bruder.
Sein Vater hatte in Tokio bei der Eisenbahn gearbeitet. Er starb, als Toschio neun Jahre alt war. Die Familie - die Mutter und die beiden Söhne - lebte von einer einmaligen Unterstützung, die nach dem Tode des Vaters ausgezahlt wurde, und von einer kleinen Pension. Fumio, der ältere Bruder, wollte dem Jüngeren die Möglichkeit geben, etwas zu lernen; deshalb ging er arbeiten. So konnte Toschio die Schule und anschließend die ingenieurtechnische Fakultät der Universität Waseda besuchen. Dann bekam er eine Stellung im Werk Oi, das der „Tokio-Electro-Company" gehörte.
Fumio arbeitete als Setzer. Während der Massenverhaftungen im April 1929 wurde er festgenommen, nach etwa sechs Monaten wieder freigelassen und ein Jahr später erneut verhaftet. Diesmal zog sich die Untersuchung lange hin. Dreieinhalb Jahre saß er im Zuchthaus Tschiba. Als er herauskam, war seine Gesundheit zerstört. Einige Monate lag er im Krankenhaus; er starb, erst neunundzwanzig Jahre alt. Nach seinem Tode las Toschio manchmal heimlich die Bücher, die er hinterlassen hatte.
Er erinnerte sich nicht, mit Fumio jemals über den Kommunismus gesprochen zu haben. Er war selten
zu Hause, und wenn sie sich trafen, dann erkundigte sich Fumio, was das Studium mache, und bat seinen Bruder, sich um die Mutter zu kümmern. Er war ein eigensinniger Mensch. Toschio erinnerte sich noch ganz genau, wie er ihn mit der Mutter aus dem Zuchthaus Tschiba abgeholt hatte.
Tief gebeugt, scheinbar kleiner geworden, schlurfte er ihnen mit einem winzigen Bündel in der Hand zwischen den grauen Mauern entgegen. Dann gingen sie zu dritt durch einen langen Korridor in ein Zimmer mit weißgestrichenen Wänden und blieben vor einem hohen, kathederähnlichen Tisch stehen - in der Mitte die Mutter, zu beiden Seiten die Söhne.
Ihnen gegenüber saß der Anstaltsgeistliche, ein kahlköpfiger Mann mit scharf blitzenden Augen, der ein erstaunlich demütiges Wesen zur Schau trug. Aus seiner Westentasche baumelte eine mattglänzende Platinkette.
Er sprach lange und eintönig über die Reue und sagte, Fumio solle sich bessern.
Die Mutter stieß ihren Ältesten unauffällig in den Rücken. Sie hatte Angst, dass er versäumen könnte, eine Verbeugung zu machen.
Der Priester lächelte herablassend - er zeigte sein Verständnis für die mütterliche Besorgnis - und fuhr in seiner Rede fort. Da presste Fumio voller Zorn die Zähne aufeinander, drehte sich zur Wand und sagte leise, doch so, dass man jedes Wort verstehen konnte: „Was quatscht er bloß noch! Er soll machen, dass er fertig wird!"
Wie Araki Toschio jetzt so vor sich hin murmelte, glich er, ohne es zu wissen, seinem verstorbenen Bruder.
Er steckte das Buch in die Tasche, stand auf und drängte sich, mit seinen langen Beinen über die Bänke und die Köpfe der Menschen hinweg steigend, zur Toilette durch. Bei einer Schwankung des Wagens stieß er versehentlich einen grauhaarigen Mann an. Der hob den Kopf und rief überrascht: „Nanu, Arakisan!"
Das lächelnde Gesicht mit dem üppig wuchernden grauen Bart und den Runzeln in den Augenwinkeln sah aus wie das Bild des Gottes Daikoku. Ja, es war Torisawa Fumija. „Na, so was! Fahren Sie auch nach Tokio? Ich habe beim Bauernbund zu tun... beim Organisationkomitee im Bezirk Tschiba", begann Fumija wie immer mit lauter Stimme zu erzählen, obgleich niemand ihn gefragt hatte. „Auch bei uns in Kawasoi haben sich die Leute zusammengeschlossen - lauter ehemalige Mitglieder des Alljapanischen Bauernverbandes. Sie wollen die Sache energisch anpacken... Nun ja, und da hat man zu mir gesagt: ,Fahr nach Tokio und erkundige dich, wie dort die Dinge im Organisationskomitee stehen und wie es mit der Gründung des neuen Bauernbundes aussieht."'
Er holte eine Feldflasche unter dem Sitz hervor, zog einen in Zeitungspapier eingewickelten Zinkbecher aus der Brusttasche, goss etwas Reisschnaps hinein und reichte ihn Araki.
„Probieren Sie mal. Den hat meine selige Frau noch gebraut." Er leckte sich die Lippen. „Und wohin reisen Sie?"
Er hatte alles über sich berichtet und fragte nun Araki aus.
„Ich will nach Tokio, ins Hauptwerk", antwortete Toschio unbestimmt. Er wusste ja selbst nicht genau, warum er eigentlich nach Tokio fuhr. „Soso... in dienstlichen Angelegenheiten also." Fumija, der bedingungslos alles glaubte, was man ihm erzählte, sprach jetzt noch lauter, um das Rattern des Zuges zu übertönen. „Soso... Ähhm, gestatten Sie, dass ich Sie vorstelle... Dieser Herr ist ein Anwalt aus Okaja." Fumija schlug einem Mann in kurzer Joppe auf die Schulter, der vor seinen Füßen saß.
Die Arme um die Knie geschlungen, hockte der Anwalt auf einer ausgebreiteten Zeitung zwischen den Sitzbänken auf dem Fußboden. Er warf Araki einen Blick zu, wobei er leicht errötete und verlegen lächelte. Als er seine Mütze abnahm, sah man, dass sein Kopf schon fast kahl war.
„Doktor der Jurisprudenz Obajaschi Sentarosan. Und das ist Arakisan, Obermeister im Werk Kawasoi. Araki... Araki... Verzeihung, ich habe Ihren Vornamen vergessen."
„Araki Toschio."
„Ich bin gespannt, was nun aus Ihrem ,Beratungskomitee' wird", sagte der Anwalt unvermittelt.
Nanu? Woher weiß er etwas darüber? dachte Araki erstaunt.
Fumija schlug dem Anwalt wieder auf die Schulter. „Dieser Mann, jaja, dieser Mann hier, der wie ein junger Stutzer aussieht, hat schon in seiner Studentenzeit allerlei geleistet. Jaja...", rief Fumija und blickte von einem zum andern.
Obajaschi zog verlegen seinen Kopf ein. Fumija stieß jetzt mit dem Knie einen Mann an, der in einer Fensterecke lehnte und schlief. Er trug einen Mantel mit Pelzkragen. „Kintarosan, Kintarosan!" Der hagere Mann hob sein bleiches Gesicht, öffnete widerstrebend die Augen und begrüßte Araki kaum merklich durch einen kurzen Blick. „Das ist der Bruder von Torisawa Ren. Das Fräulein hat dieser Tage eine Stellung in Ihrem Büro angenommen." Während Fumija das erzählte, ließ sich Kintaro wieder gegen die Rückwand der Bank sinken und schloss die Augen. „Er fährt nach Tokio, um ein bisschen Geld zu machen, hehehe! Da haben Sie sich ja beide was Schönes vorgenommen", schwatzte der Alte. Offenbar hatte der Reisschnaps bereits gewirkt.
Torisawa Kintaro verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln, ohne dabei seine Augen zu öffnen.
Eine Bewegung ging durch den Wagen. Der Zug fuhr langsamer. „Sind wir schon in Assagawa?" fragte Obajaschi und richtete sich auf. Araki beeilte sich, an seinen Platz zurückzugelangen. Der Lärm und die Unruhe hörten nicht auf. Vor dem Fenster huschte ein reifbedeckter
Bahndamm vorüber, der Holzzaun der Station Assagawa tauchte auf. Man hörte das Klirren eingeschlagener Fensterscheiben, und laut rufend stürzten Polizisten in den Wagen. „Alles aussteigen! Einzeln aussteigen! Einer nach dem andern!" Die Polizisten waren mit Gummiknüppeln bewaffnet und hielten die Fahrgäste zurück, die zu den Türen drängten. Einige versuchten, der Razzia zu entgehen, warfen die Säcke über die Schultern und sprangen auf die Gleise. Aber dort standen auch Polizisten und hielten sie fest.
Über den ganzen Bahnsteig verstreut, lagen aufgerissene Taschen, Bündel und Rucksäcke. Die Polizisten stampften mit ihren amerikanischen Stiefeln auf verschütteten weißen Reiskörnern herum. Araki stellte sich in die Reihe und wartete. In dem allgemeinen Durcheinander hatte er Torisawa Fumija und den Anwalt aus den Augen verloren. Erschrockene Kinder begannen zu weinen, die Frauen jammerten und flehten, die Männer murrten dumpf, und die Polizisten brüllten und fluchten. „Wehe, rote Fahne, hoch empor..."
Ein Windstoß trug plötzlich die Töne eines Liedes herüber, das von hohen, jungen Stimmen gesungen wurde. Araki blickte sich nach allen Seiten um, konnte aber außer der reifbedeckten weißen Erde nichts sehen. Dieses Lied hatte er schon einmal gehört... „Lieber Herr, bitte, lassen Sie mir doch wenigstens das!" Die Polizisten zerrten eine ältere Frau mit wirrem Haar und geflickten Überhosen aus dem Wagen. Sie heulte und schrie, stürzte zu Boden, ließ aber das Bündel nicht aus den Händen. „Ich habe fünf Kinder! Sie hungern schon seit Tagen... und warten auf mich... Ich bitte Sie... Bitte, bitte, lassen Sie mir das doch! Aah!" Der Schrei brach plötzlich ab; die Frau hatte sich aufgerichtet und biss dem Polizisten in die Hand. Im gleichen Augenblick aber entfiel ihr das Bündel und rollte über den Bahnsteig. „Was tun Sie! Was... tun... Sie... aah!" „Wehe, rote Fahne, hoch empor..." Wieder drang der Kehrreim an Arakis Ohr. Und jetzt sah er die Sänger - eine Gruppe Jugendlicher auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, die offenbar auf den elektrischen Zug warteten. Es war eine kleine Gruppe - fünf, sechs junge Burschen in Soldatenhemden oder in Arbeitsanzügen und ein Mädchen in rotem Sweater.
Einer der Jungen schwenkte eine Bambusstange mit einem roten Tuch daran im Takt der Melodie hin und her. Sie sangen einträchtig, ihre Wangen waren gerötet, und mit jedem Wort drang eine kleine Dampfwolke aus ihren Mündern. Araki sah sie zum ersten Mal, diese stolze, rote Fahne! Wohin wollten die jungen Leute? Es waren wenige, aber ihre Einigkeit machte sie stark; sie strebten vorwärts. Und sie hatten so reine Stimmen und so offene Gesichter! „He du! Hierher!" Eine Hand senkte sich auf Arakis Schulter. Er schnürte seinen Rucksack auf, und sie nahmen ihm
die zwei oder drei Scho Reis und eine Portion Misobohnen weg, die er darin hatte. Nur ein paar kleine Reisplätzchen dürfte er behalten. „Fertig. Der nächste!"
Araki war fassungslos - es war das erste mal, dass er nach dem Kriege wieder in die Hauptstadt kam.
Er hing sich den leeren Rucksack auf den Rücken, stieg in die Straßenbahn und fuhr nach Schinagawa. Schließlich erreichte er den Stadtteil Sakuraki. Was er durch die Fenster der Bahnen von Tokio sah, war ein riesiger Schutthaufen. Von den großen Werken, die an der Eisenbahnlinie Tokio-Jokohama lagen, waren nur verbogene Stahlgerüste, Berge von Ziegelsteinen und rostigem Eisen und hohe Schornsteine übriggeblieben, die wie Grabmäler wirkten. Hunger und Zerfall ringsum...
Wer wird das alles wieder zum Leben erwecken? Das Hauptwerk der Gesellschaft mit seinen zahlreichen Abteilungen nahm ein ausgedehntes Gelände längs des Bahndammes ein und hatte eine besondere Zufahrt zum Bahnhof Kawasaki. „Ich möchte Tschibakun von der Lampenabteilung sprechen." „Und wer bist du?"
Als Araki vor dem Kontrollhäuschen am Eingang stand, kamen einige Männer auf ihn zu, befühlten ihn und drehten seinen Angestelltenausweis der „Tokio-Electro-Company" in den Händen hin und her. Schließlich sagte einer von ihnen: „Na schön, kann passieren."
Das alles erschien Araki merkwürdig. Er ging durch das Tor und blieb stehen, um den Fabrikhof zu betrachten. Er fühlte, dass hier etwas nicht stimmte, konnte sich aber nicht erklären, was es war.

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