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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Die Nacht brach an, im Tal des Tenrju tobte ein Schneesturm. Der Verkehr auf der Sumikurastraße war unterbrochen; alles ringsum schien erstarrt. In den Bergen, die an beiden Ufern des Flusses steil emporragten, heulte der Wind in kräftigen Stößen, wirbelte auf dem Werkgelände von Kawasoi einen feinen, körnigen Schnee auf und hüllte den mondlosen Himmel in weiße Schleier.
Hier und da blinkte in den Fabrikgebäuden noch rötlicher Lampenschein. Nicht nur im Pförtnerhaus,
auch im Arbeitszimmer des Direktors brannte Licht und gegenüber, in einem einstöckigen Häuschen, der früheren Sortierabteilung, das an das Arbeiterinnenheim grenzte und in dem sich jetzt das Gewerkschaftskomitee befand, waren die Fenster hell erleuchtet.
Der Januar war vorüber, und die Gewerkschaftsorganisation in Kawasoi hatte den Kampf um die „Kontrolle der Produktion" aufgenommen. Die Forderungen des Komitees - darunter auch die dringendsten wie „Erhöhung der Löhne", „realer Siebenstundentag", „Teilnahme an den Produktionsberatungen" - waren von der Company abgelehnt worden. Das hatte der Direktor erklärt, als er aus Tokio zurückkam. Daraufhin legte das Gewerkschaftskomitee zum zweitemal seine Forderungen schriftlich nieder und schickte den stellvertretenden Vorsitzenden Tschidschiwa und den Sekretär Kassawara nach Tokio, und sich mit dem Gewerkschaftskomitee des Hauptwerkes der Company in Verbindung zu setzen. Am nächsten Tag lief die Frist ab, die man dem Direktor für eine Antwort gesetzt hatte; doch er dachte nicht daran, nach Tokio zu reisen, sondern verschanzte sich hinter allen möglichen Ausreden - es sei unmöglich, eine Fahrkarte zu bekommen, er sei erkältet...
Schließlich würde alles von den Ergebnissen des Kampfes abhängen, den zur Zeit sämtliche Gewerkschaftsorganisationen gegen die Company führten, angefangen vom Gewerkschaftskomitee des Hauptwerkes, hinter dem die Konferenz der Arbeitervertreter des Bezirkes Kanagawa stand, bis zu den Gewerkschaftsorganisationen aller vier Fabriken, die zur „Tokio-Electro-Company" gehörten. Auch im Unterrichtszimmer brannte Licht. Hier wurden die Arbeiterkurse abgehalten. Schneeflocken klebten an den Fensterscheiben, und der große Raum war ungeheizt. Trotzdem saßen etwa hundertfünfzig Männer und Frauen an den langen Holztischen. „Wir behandeln heute den Abschnitt ,Die historischen Wurzeln des Leninismus'. Schlagen Sie auf...", sagte der Lektor - es war der Rechtsanwalt Obajaschi Sentaro - und blickte von einem Buch auf, das er in der Hand hielt. Er gab die zweite Unterrichtsstunde an Hand des Buches „Uber die Grundlagen des Leninismus".
„Der Leninismus entstand unter den Bedingungen des Imperialismus, den Lenin als ,sterbenden Kapitalismus' bezeichnete. Erinnern Sie sich - wir haben gestern schon darüber gesprochen", fuhr Obajaschi fort und ging, die Hände auf dem Rücken, vor der Tafel hin und her. Verlegen lächelnd ließ er den Blick durch den Raum gleiten, als wollte er ihn bis in den letzten Winkel erforschen. Die Jugend, die dichtgedrängt Schulter an Schulter saß, bestand zur Hälfte aus jungen Mädchen.
Hier starrte ein junger Mann im Soldatenhemd dem Lektor staunend ins Gesicht, dort sah ein junges Mädchen, in einen Schal gehüllt, die Hände in den Taschen ihres blauen Arbeitsanzugs vergraben, ernst zu Sentaro auf. Zwar beantworteten sie noch nicht jede Frage des Lektors, aber sie folgten seinen Ausführungen aufmerksam. So etwas hatte es bisher in der Geschichte des Werkes Kawasoi nicht gegeben.
„...unter den Bedingungen des Imperialismus, als sich die Widersprüche des Kapitalismus bis zum äußersten zugespitzt hatten... Von diesen Widersprüchen sind drei Widersprüche als die wichtigsten zu betrachten. Klar? Das ist sehr wichtig, passen Sie gut auf. Der erste Widerspruch ist der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Der Imperialismus ist die Allmacht der monopolistischen Truste und Syndikate, der Banken und der Finanzoligarchie in den Industrieländern.
Jamanaka Hatsue machte sich eifrig Notizen. „Widerspruch", „Finanzoligarchie", „Allmacht der Monopole". Natürlich hatte sie ebenso wie die anderen Mädchen ihre eigenen Bücher; doch manche Schriftzeichen waren ihnen unbekannt; deshalb verstanden sie nicht alles.
„Wie hat er gesagt: Finanzoligar... oligor..." Kiku stieß Hatsue verwirrt mit der Schulter an. Oikawa Mitsu, die vor ihnen saß, flüsterte rasch:„Oligarchie... Oligarchie, verstehst du?"
Hatsue errötete so heftig, als wäre das gesamte Blut ihres Körpers in ihr Antlitz geflutet. Was für eine Menge Schriftzeichen! Sie blickte abwechselnd auf den Mund des Lektors und auf ihr Heft, um hastig die Wörter niederzuschreiben. Sie hatte ein Gefühl, als ob sie stolpernd und fallend unbekannte Bergpfade erklimme und beharrlich dem Rücken eines Menschen vor ihr folge.
„Unser Japan ist auch eines dieser ,Industrieländer', über die in diesem Buch gesprochen wird. Und obgleich Japan den Krieg verloren hat, da bei uns das Monopolkapital herrscht..."
Der Lektor erklärte an konkreten Beispielen den ersten Widerspruch des Kapitalismus. Hatsue schrieb eifrig mit.
„Der zweite Widerspruch ist der Widerspruch zwischen den verschiedenen Finanzgruppen und imperialistischen Mächten in ihrem Kampf um Rohstoffquellen, um fremde Territorien. Der Imperialismus ist Kapitalexport nach den Rohstoffquellen, wütender Kampf um den Monopolbesitz dieser Rohstoffquellen, Kampf um die Neuverteilung der bereits aufgeteilten Welt..."
Immer mehr neue Wörter kamen hinzu. Jamanaka Kiku lauschte mit herabgezogenen Mundwinkeln. Von Zeit zu Zeit verdeckte sie ihre Nachschrift mit beiden Händen. Lagen doch heute wieder wie zum Trotz ihre Aufzeichnungen kaum dreißig Zentimeter von Furukawa entfernt, der auf dem letzten Platz der Nebenreihe saß und ab und zu in ihr Heft blickte! „Dieser Umstand ist seinerseits deshalb bedeutsam, weil er zur Folge hat, dass sich die Imperialisten gegenseitig schwächen, dass die Position des Kapitalismus überhaupt geschwächt wird, dass der Moment der proletarischen Revolution näherrückt und dass diese Revolution zur praktischen Notwendigkeit wird."
Unvermittelt fragte der Lektor:  „Ist das allen klar?"
Und sofort riefen Toki Hana und Torisawa Ren mit ruhiger, sicherer Stimme: „Ja, natürlich!" - „Alles klar!"
Hatsue wusste nicht, ob ihr kalt oder warm war und ob draußen noch der Schneesturm tobte. Obgleich es ihr sehr schwerfiel, den Worten des Vortragenden zu folgen, überkam sie ein Gefühl, als hätte sich ihr plötzlich eine Welt eröffnet, die ihr bis dahin völlig unbekannt war.
Es gab noch einen anderen Grund, warum Hatsues Wangen glühten. Doch davon ahnte der Lektor nichts und es ging nicht nur Hatsue so. In den Unterrichtsstunden der Arbeiterzirkel saßen die jungen Mädchen mit den Männern zusammen, und später würden sie wahrscheinlich auch in deren Gegenwart sprechen müssen.
„Der Imperialismus ist die schamloseste Ausbeutung und unmenschlichste Unterdrückung der Hunderte von Millionen zählenden Bevölkerung riesiger Kolonien und abhängiger Länder." Der Lektor sprach über den dritten Widerspruch des Kapitalismus.
„Hör mal, hör mal...", Furukawa tippte schon seit einer Weile Kiku abwechselnd auf die Schulter oder mit dem Bleistift gegen die Rippen. Und jedesmal senkte Kiku den Blick, bekam einen roten Kopf und rückte näher an Hatsue heran, so dass diese fast gar keinen Platz mehr hatte.
„Verstehst du das? Schwer, nicht wahr? Wenn du es nicht verstehst, dann sag es lieber dem Lehrer... Sensei! Sensei! Hören Sie... viele begreifen nicht alles"! rief Furukawa plötzlich, erhob sich und warf einen Blick auf das Heft, das Kiku mit der Hand verdeckte.
Der Lektor wandte sich ihm zu, und alle anwesenden Männer sahen Furukawa und seine Nachbarin an. Kiku hielt den Kopf tief über den Tisch gebeugt. „So?" Obajaschi kratzte sich hinter dem Ohr und machte ein bedenkliches Gesicht. Offenbar gelang es ihm nicht immer, einfache Worte zu finden, um die wissenschaftlichen Begriffe zu erklären. Nach kurzer Überlegung nahm er ein Stück Kreide, schrieb das Wort „Monopol" an die Tafel und nickte
Kiku zu. „Verstehst du dieses Wort?"
„Antworte doch, es ist keine Schande", flüsterte Furukawa ihr ermunternd zu.
„Nein, ich verstehe es nicht", piepste Jamanaka Kiku, stand auf und blickte verlegen zur Tafel. Dieses Vogelstimmchen ähnelte ganz und gar nicht ihrer sonst so klangvollen Stimme.
Der Lektor schüttelte den Kopf und schrieb ein zweites Wort - „Aufteilung". „Na, und das?"
„Auch nicht."
Obajaschi dachte wieder nach und schrieb dann das dritte Wort „Proletarier". Diesmal nickte Kiku. „Das verstehe ich!" Die Männer lachten gutmütig.
„Hört auf zu lachen!" schrie Furukawa, aber es war schon zu spät. Kiku barg ihren Kopf in Hatsues Schoß und brach in Schluchzen aus.

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