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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Als es so dunkel wurde, dass man die Gesichter nicht mehr unterscheiden konnte, löste sich die Versammlung auf. Ikenobe und Furukawa gingen die Straße zum Bahnhof hinunter. Sie wollten die zusammengerollten Plakate und das Mikrophon zu Araki bringen, der in der Nähe des Bahnhofs wohnte. Beide schwiegen, keiner konnte sich entschließen, als erster ein Gespräch zu beginnen.
Dieser Furukawa! dachte Ikenobe und wurde nervös. Wird er nicht bald etwas sagen? - Ich will Kommunist werden! Ich muss es werden! Aber habe ich die Voraussetzungen dafür und habe ich genug Energie?
Sie näherten sich dem sogenannten Fabrikhaus, einer Baracke in einer Gasse hinter der Bahn. Es war Abendbrotzeit, und Arakis Frau hantierte geschäftig vor der Tür. Freundlich wie immer empfing sie die Gäste. „Ikenobe und Furukawa sind gekommen!"
„Aha, sind sie da?" hörte man Araki drinnen antworten. „Kommt herein!"
Durch die Gittertür sahen sie vier Kinder im Zimmer umhertollen. Das älteste war etwa acht Jahre alt.
Araki hatte seinen Arbeitsanzug noch nicht abgelegt. Er hielt einen kleinen Jungen auf dem Schoß und machte sich einige Notizen, die seine Gewerkschaftsarbeit betrafen. Das tat er täglich. „Ich bin gleich fertig!"
Furukawa nahm das Kind auf den Arm. Ikenobe setzte sich vor das kleine Hibatschi, in dem ein schwaches Feuer glimmte, und betrachtete die Photographie von Arakis Bruder, die an der Wand über Tür hing.
Ein Kommunist! Die Lampe erhellte nur einen Teil des Zimmers, und im Halbdunkel schien es, als ob der Mann auf dem Bild über irgendetwas nachdächte. Die senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen, der schmale Mund - genau wie bei seinem Bruder. Jedesmal, wenn Ikenobe zu Araki kam, sah er das Bild an, und jedesmal, wenn er das Wort „Kommunist" hörte, stellte er sich nicht Obajaschi Sentaro oder Kobajaschi Masaru vor, sondern dieses Gesicht auf der Photographie.
Und er? Hat er sich entschlossen? dachte Ikenobe und blickte verstohlen zu Araki hinüber. „Ihr habt sicherlich noch nicht zu Abend gegessen?" Araki schloss das Notizbuch. „Gib uns was zu essen!" rief er seiner Frau zu. Dann wandte er sich an Ikenobe und sagte: „Es ist eine Verschwörung gegen uns im Gange."
Furukawa, der mit den Kindern spielte, horchte auf. „Hier, lest mal! Ich habe es in der Kontrollabteilung von der Wand gerissen."
Es war jener Zeitungsartikel, rot umrandet, damit er jedem sofort in die Augen sprang. Die Schlagzeilen waren unterstrichen: „Das Werk Kawasoi der Tokio-Electro-Company ein Kommunistennest! Allein hundert Jungkommunisten!"
Erst ein Tag war vergangen, seit Komatsu und Takenoutschi diesen Artikel im Büro des Direktors gelesen hatten. Nach Feierabend hatten einige Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" die Zeitungsausschnitte überall in der Fabrik ausgehängt. „Das ist nicht schlimm. Nakatani und ich haben die meisten schon beseitigt." Nach kurzem Zögern fuhr Araki fort: „Viel unangenehmer ist es, dass der Direktor Tschidschiwa und Takenoutschi zu sich gerufen und mit ihnen verhandelt hat." Die drei tauschten Blicke.
Was hatte der Direktor mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Gewerkschaftskomitees Tschidschiwa und dem Mitglied des Gewerkschaftskomitees Takenoutschi besprochen? Tschidschiwa und Takenoutschi würden wohl kaum in Opposition zur Gewerkschaft treten, aber sie waren der Kommunistischen Partei feindlich gesinnt; deshalb war es leicht möglich, dass sie unter dem Einfluss dieses Zeitungsartikels mit der Gruppe Araki brechen würden.
„Ich glaube, die einfachen Mitglieder der Gewerkschaft haben nichts gegen die Kommunistische Partei!" rief Furukawa hitzig. „Die Ergebnisse der Abstimmung vor kurzem haben doch gezeigt, dass sechsundvierzig Prozent für die Kommunistische Partei sind!"
„Vergiss nicht, dass nur die Jugend befragt wurde", wandte Araki ein.
Ikenobe ließ den Kopf sinken; Furukawa starrte Araki verdutzt an.
„Die Gedankenfreiheit wird doch durch das Potsdamer Abkommen garantiert! Na und? Wie ist es denn damit?"
„Wenn wir nichts tun als uns entrüsten, dann wird nicht viel Vernünftiges herauskommen." Araki wiegte den Kopf und lächelte ironisch. „Wenn Tschidschiwa und seine Freunde jetzt antikommunistische Losungen verbreiten, so gibt es keine Garantie, dass die Gewerkschaft nicht gespalten wird. Manch einer ist der Ansicht, dass die Kommunistische Partei mitunter zu scharf rangeht", fügte er hinzu und nahm seinen Jüngsten auf den Arm.
Ikenobe knackte mit den Fingern und starrte ins Feuer. Ja, Araki hatte recht. Es gab eine Anzahl Jungkommunisten in der Fabrik, aber das waren hauptsächlich die Mädchen aus dem Gemeinschaftsheim. Unter den Arbeiterinnen, die zu Hause wohnten, gab es noch viele, die einen Bogen machten, wenn sie eine rote Fahne sahen. „Wie kann man denn so etwas sagen! Wie kann man nur...", murmelte Furukawa. „Im Werk Kawasoi ist nicht ein einziger Kommunist!"
Araki und Ikenobe hoben gleichzeitig die Köpfe und lächelten trübe. Furukawa hatte mit dieser Bemerkung den wundesten Punkt berührt. „So ist es doch, nicht wahr? Oder stimmt es etwa nicht?" fuhr Furukawa empört fort. Araki und Ikenobe schwiegen. „Allerdings, wenn es auch  noch keine Kommunisten gibt, ich... ich..." Ikenobe sah ihn an; er stockte, sprach aber gleich darauf weiter und blickte Ikenobe dabei mutig in die Augen: „Ich glaube, es wäre besser, wenn welche da wären. Oder etwa nicht? Ich bin nicht ohne Grund so wütend geworden!"
Furukawa war wirklich sehr aufgeregt. Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. „Ich weiß nicht, was für ein Mensch dieser Tschidschiwa ist; Takenoutschi aber, da könnt ihr sagen, was ihr wollt - der riecht nach Spitzel! Auf was warten wir noch? Bevor wir erleben, dass man die Gewerkschaftsmitglieder mit Kommunisten erschreckt, die sie nie gesehen haben, sollten wir lieber..."
„Pst!" machte Ikenobe und tippte Furukawa aufs Knie.
Er verstummte sofort.
Atakis Frau kam herein, stellte einen Topf mit Nudelsuppe auf den Tisch und lud alle zum Essen ein. „Also, bitte, greift zu! Es ist zwar ein bescheidenes Mahl, aber..."
Araki saß neben seiner Frau, die einen alten Kittel trug. Er hielt das Kind auf dem Schoß und betrachtete nachdenklich die zerrissenen Matten auf dem Fußboden. Seine Lippen zuckten.

Schweigend fuhren Furukawa und Ikenobe nach Hause. Das Gesicht dem Winde zugewandt, standen sie in Gedanken versunken auf der Plattform des überfüllten Eisenbahnwagens.
Bin ich würdig, Kommunist zu werden? fragte sich Ikenobe immer wieder.
Sicherlich ist es schwer, Kommunist zu sein, wenn Ikenobe und Araki die Sache so ernst nehmen. Ist es denn für einen gewöhnlichen Sterblichen unmöglich, Kommunist zu werden? überlegte Furukawa.
Beide waren sich klar darüber, dass es jetzt nicht mehr genügte, nur dem Jugendvorstand anzugehören. Kobajaschi hatte ihnen schon früher vorgeschlagen, in die Partei einzutreten, und ihnen sogar Antragsformulare gegeben. Nun empfanden sie es als unbedingt notwendig. Während der Wahlkampagne mussten sie nicht nur ihren Arbeitskollegen, sondern auch vielen fremden Menschen die Position der Kommunisten erklären, mussten sie gegen die Liberale und gegen die Sozialistische Partei sprechen.
Kommunisten - das ist die Partei der Proletarier in aller Welt! Überall gibt es Kommunisten - in der Sowjetunion, in China, in Europa, in Amerika - auf dem ganzen Erdball, und überall verteidigen sie die Interessen des Volkes.
Wenn ich würdig wäre, dachte Ikenobe wohl zum hundertsten Male, dann würde ich mich bedeutend sicherer fühlen im Leben, mich von allem Unnützen, Überflüssigen befreien und ein echter, wahrhafter Mensch werden.
Ich bin doch Proletarier! Was fehlt mir denn noch, um Kommunist zu werden? grübelte Furukawa. Meine Kenntnisse und praktischen Erfahrungen sind, glaube ich, nicht geringer als die der andern Genossen... Ich bin offenbar nicht ernst genug... Das ist sicherlich auch Arakis und Nakatanis Ansicht. „Du, Ikenobe!" Der Zug hatte Kami-Suwa erreicht; sie stiegen aus und gingen durch die Sperre.  Furukawa blickte Ikenobe traurig von der Seite an.
„Sag mal - die Kommunisten müssen doch alle hervorragende Menschen sein, nicht wahr?"
Ikenobes Augen blitzten auf; doch statt einer Antwort stieß er nur ein kurzes „Hm!" hervor.
Sie überquerten die Gleise. Der Wind blies ihnen ins Gesicht, und in der Ferne hörten sie die Wogen des Suwasees rauschen. Bedrückt schlich Furukawa hinter Ikenobe her.
Marx und Lenin waren Kommunisten. Und Stalin. Und Mao Tsetung, Kim Ir Sen, Tokuda Kjuitschi sie alle sind Kommunisten! In der ganzen Welt führen die Proletarier einen unablässigen Kampf, und ihr Vortrupp ist überall die Kommunistische Partei. Könnte man doch auch Kommunist werden, dachte Furukawa, und Schulter an Schulter mit ihnen schreiten! Ja, dafür würde er mit Freuden sein Leben hingeben.

Furukawa legte sich gleich nieder. Ikenobe hingegen verließ das Zimmer, lief durch die finsteren Gänge in den Erholungsraum, holte ein Tintenfass und setzte sich an den Tisch. Dann legte er das Antragsformular für die Aufnahme in die Partei vor sich hin. Es war zwar bereits ausgefüllt, aber er wollte alles noch einmal abschreiben.
Sorgfältig wie bei allem, was er tat. setzte er seinen Familiennamen, Vornamen, Geburtsdatum, Bildungsgang und Arbeitsstelle ein. Das dauerte nicht lange; doch als er zu der Spalte kam, in der er seinen Wunsch, in die Partei einzutreten, begründen sollte, stützte er das Kinn in die Hand und überlegte.
„Wenn ich in die Partei aufgenommen werde, so verspreche ich, mich der Parteidisziplin zu unterwerfen, der Partei ergeben, ein treuer Kämpfer für die Sache der Befreiung des Proletariats zu sein und alle meine Kräfte der Arbeit zu widmen. Selbst wenn ich mein Leben dafür opfern müsste, werde ich mir immer bewusst sein, dass ich den Weg gegangen bin, den wir, die Proletarier, gehen müssen, und werde es niemals bereuen." So lautete die erste Fassung des Antrages. Jetzt klang es ihm zu selbstgefällig, und er wollte es ändern.
Aber als er das Geschriebene nochmals durchlas, fühlte er, dass es hier nichts zu ändern gab. Konnte man ohne diesen Entschluss Kommunist werden?
Wenn sich der Kampf verschärfte, dann würde man ihn aus der Fabrik entlassen. Nun, wenn schon! Sollten sie ihn doch verhaften und ins Gefängnis werfen - was tat's!
Er blickte zu der trüben Zehn-Watt-Lampe auf und überlegte. Er stellte sich das nervöse Gesicht Arakis vor und die Photographie seines verstorbenen Bruders. Araki hatte eine alte Mutter, eine Frau und Kinder... Auch Ikenobe hatte einiges zu bedenken. Er war das älteste von sieben Kindern. Sein Vater war ein Greis. Ja, und er selbst war auch nicht gerade der Kräftigste. Nach der Lungenentzündung musste er vorsichtig sein.
Er hatte einmal geglaubt, als einzelner stark werden zu müssen. Er wusste damals noch nicht, dass die Kommunisten in allen Ländern immer zahlreicher wurden und dass sie als Genossen einander halfen. Die Kommunisten kämpfen in den vordersten Reihen; die Kugel trifft sie als erste, aber das Volk stützt sie, das Volk steht hinter ihnen.
Es gibt keinen anderen Weg für mich, entschied er schließlich. In Gedanken versunken, saß er da und spürte nicht, wie ihm Hände und Füße erstarrten.
„He, Ikenobe!" - In Unterhosen, den Militärmantel übergeworfen, trat Furukawa ins Zimmer.
„Wo hast du die Erzählung von Kobajaschi Takidschi gelassen?"
Ikenobe versteckte hastig den Aufnahmeantrag und sah den vor Kälte zitternden Furukawa an. Offenbar hatte der Bursche wieder in seiner Bücherkiste gekramt, als wäre es seine eigene. Aber wie kam es, dass er sich plötzlich für Belletristik interessierte?
„Onoki hat sie mitgenommen."
„Kumao? Nagut."
„Du, der schläft schon. Hol es morgen." Furukawa hörte nicht auf ihn. Seine bloßen Füße patschten zur Treppe.

Furukawa Schiro hatte sich in seine Decke gewickelt und las die Erzählung „15. März 1928" von Kobajaschi Takidschi. Zuerst lag er ruhig, dann aber krümmte er sich vor Kälte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und richtete sich auf. Er seufzte und sah sich um. Ikenobe schlief schon lange. Furukawa fragte sich immer wieder: Könnte ich das ertragen?
Er dachte an die Erzählung, die über den heldenhaften Kampf der Arbeiter in Hokkaido berichtete und entsetzliche Foltern schilderte, die jene grausame „Geheimpolizei" gegen Kommunisten und andere revolutionäre Arbeiter anwandte. Diese Polizei war vor dem Kriege in Japan geschaffen worden. Selbst durch dicke Mauern hörte man das Pfeifen der Bambusstöcke, mit denen man die nackten, gefesselten Menschen schlug, die mit den Köpfen nach unten aufgehängt waren und so lange misshandelt wurden, bis sie das Bewusstsein verloren. Dann übergoss man sie mit Wasser und folterte sie von neuem.
Furukawa rückte unter die Lampe und las weiter. Das Herz erstarrte ihm in der Brust.
...Saito war durch die Folterungen wahnsinnig geworden. Sata hatte geschluchzt, als man ihn befreite. Furukawa begeisterte sich für den Heroismus eines Watari, Kuda, Rjukitschi.
Furukawa reckte sich und verschränkte die Arme über der Brust. Er hatte keine Angehörigen und brauchte sich nicht wie Ikenobe um seine Eltern und seine Geschwister zu sorgen. Aber die Geheimpolizei, die Verfolgungen, die Folter...
Die Zensur hatte einige Seiten der Erzählung gestrichen; deshalb war Furukawa überzeugt, dass die Folterungen viel schrecklicher gewesen sein mussten, als sie geschildert waren.
Könnte ich das aushalten ? dachte Furukawa. Doch dann erkannte er, dass glühender Hass gegen die kaiserliche Geheimpolizei den Helden dieser Erzählung die Standhaftigkeit und die Kraft verlieh, alle Misshandlungen zu ertragen.

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