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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Jamanaka Tosaku schnitt mit seiner Schwiegertochter Fudschi das Gras auf den schmalen Rainen zwischen den Reisfeldern, von denen das Wasser schon abgeflossen war.
Man konnte nur abwarten und hoffen, die Ernte hing nun vom Wetter ab. „Na, fleißig?" rief ein Bauer, der mit seinem Ochsenpann den Weg am Ende des Ackers heraufkam. „Man sieht jetzt nur noch Soldaten!" „Ach ja -!" Tosaku lachte bitter, ohne den Kopf zu heben. „Das bringt der Krieg so mit sich. Selbst die Reispflanzen kommen einem wie Soldaten vor!" Wohin man blickte, auf allen Feldern war es das gleiche: niedrige Halme, viel taube Ähren. Am Ufer eines kleinen Baches, der an dem Feldrain entlangfloss, schärfte Tosaku die Sense, brannte sich traurig lächelnd eine Pfeife an.
Gegen Mittag wallte in den Tälern und sumpfigen Schluchten noch leichter Nebel, doch die Umrisse der Berge am Horizont traten scharf hervor und stachen zackig in das tiefe Blau des Himmels. In der Ferne Stiegen langsam zwei Rauchsäulen auf: dort wurde Kohle gebrannt. Der Makikusajama krümmte sich unter den Strahlen der Sonne wie ein Katzenbuckel.
Hier oben auf dem Gipfel lagen Tosakus Pachtfelder dichter beieinander als anderswo. Seine vier Landstücke klebten eines über dem andern am Hang. Seit dem frühen Morgen, da alles ringsum noch mit Tau bedeckt war, hatten Tosaku und seine Schwiegertochter fast vier Kilometer zurückgelegt; sie waren in die Niederung hinabgestiegen und wieder bergauf geklettert, hatten Sümpfe und ausgetrocknete Flussläufe durchquert, um ihre verstreut liegenden Äcker zu erreichen.
„Hehehe, da reden die Leute: ,Kommt der Herbst gegangen, lässt den Kopf du hangen.' Unsinn ist das!" murmelte Tosaku vor sich hin.
Der beißende Tabaksrauch stieg ihm in die Augen, und er musste blinzeln. Aber auch mit geschlossenen Lidern sah er ganz deutlich jedes seiner neunzehn kleinen Grundstücke vor sich. Dieses Jahr hatte es im August schon zweimal Nachtfrost gegeben. Sosehr die Bauern sich auch abrackerten, der Reis war immer wieder verkrautet. Zu allem Unglück gab es auf jedem Feld viele „blanke Stellen", wo die Reispflanzen wegen der niedrigen Wassertemperatur nicht ausreiften, sondern grün blieben.
Tosaku bewegte mehrmals die Lippen, als wollte er etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Er hatte ein faltiges, sonnengebräuntes Gesicht; die verblichenen Haare auf seinem Kopf, den er im Sommer wie im Winter mit einem Tuch umwand, sahen aus wie verdorrte Grasbüschel. Seine trüben, gelblichen Augen blickten schläfrig. „Äh, Fudschi...", sagte er endlich und reckte seinen Rücken, „hm - ich glaube, bis Mittag werden wir hier fertig..."
Eigentlich hatte er darüber sprechen wollen, dass Hatschiro, der Sohn seines Nachbarn, vor kurzem heimgekehrt sei, und er hatte dabei auch an seinen Ältesten gedacht, der in China gefallen war und nie mehr nach Hause kommen würde. Doch er hatte sich noch rechtzeitig besonnen - es war nicht gut, daran zu erinnern. Wozu die Schwiegertochter unnütz betrüben? So fuhr er fort: „Wenn wir das hier geschafft haben, dann gehen wir an den Westabhang, Rettich häufeln."
Gut, Vater!" rief die Schwiegertochter. Sie war klein und zierlich, stand aber in der Arbeit hinter keinem zurück. Sausend fuhr die matt blinkende Schneide ihrer Sichel durch das Gras, und die Grillen sprangen vor ihren Füßen davon. „Guten Tag!" grüßte der Nachbar Jamanaka Sengoro und blieb auf dem Weg am Rande des Ackers stehen. „Ihr seid aber fleißig!" „Guten Tag!" Fudschi hob den Kopf und lächelte. Sengoro trug ein Beil, eine Säge und eine Sichel, die mit einer Schnur zusammengebunden waren.
„Du gehst wohl in den Wald?" fragte Tosaku, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
Der Holzfäller, ein Mann von etwa vierzig Jahren, der auf einem Auge blind war, blickte eine Weile missmutig vor sich hin. Sein borstiges Haar stand wirr nach allen Seiten vom Kopfe ab.
„Die Bezahlung ist verdammt schlecht!" stieß er plötzlich mit finsterem Gesicht hervor.
Aber so einem wie dem Kintaro konnte er doch „die Arbeit nicht einfach hinschmeißen..." „Jedenfalls bist du jetzt zu Hause und nicht mehr dienstverpflichtet!"
Sengoro brummte zustimmend. Wie früher brannte er wieder Kohle für den Gutsherrn und erhielt als Lohn ein wenig Reis und ein bisschen Geld. Außerdem hatte er, wie fast alle Bauern im Dorf, von Kintaro Land gepachtet, er war also von ihm abhängig.
„Ist Kikutjan mit ihrem Bruder auf dem Feld?" fragte Fudschi und richtete sich auf.
Sengoro nickte stumm. Seine Kinder, Kiku und der siebzehnjährige Kisuke, die während des Krieges im Werk Kawasoi gearbeitet hatten, waren jetzt auch nach Hause gekommen.
„Gestern war Toschios Frau wieder bei uns", sagte Sengoro plötzlich so laut, dass seine Stimme im Tal widerhallte. „Tschijo grämt sich sehr, es ist ein Jammer, das mit anzusehen!"
Tosaku hob fragend den Kopf. „Warum denn?" Endo Tschijo war die Witwe von Sengoros jüngerem Bruder, der vor dem Krieg als Arbeiter mit seiner Familie in Tokio gelebt hatte. Er war vor drei Jahren zur Marine einberufen worden und bald darauf gefallen. Tschijo hatte sonst keine Verwandten, deshalb siedelte sie mit ihren beiden Kindern nach Torisawa über und bezog dort eine strohgedeckte Hütte, die ihrem Schwager gehörte. Seit zwei Jahren bearbeitete sie das kleine Stück Pachtland des Nachbarn Fudschimori Toschio, denn Toschios beide Söhne waren beim Militär, und er selbst war leidend. Vor einer Woche aber waren die beiden Jungen heimgekehrt, und sogleich erschien Toschios Frau bei Tschijo und verlangte die Rückgabe des Landes. Tschijo erwiderte, sie habe das Feld bereits bestellt, und sie sollten ihr doch erlauben, wenigstens noch eine Weizenernte einzubringen. Aber da auch Toschio kaum das Nötige zum Leben hatte, konnte schließlich selbst Sengoro nichts dagegen einwenden, wenn es ihm auch nicht recht war.
„Und heute Morgen war Tschijo wieder bei uns und hat mir was vorgejammert", erzählte Sengoro, kreuzte die Arme über der Brust und wandte Tosaku sein blindes Auge zu. „Ich weiß selbst nicht, was man da machen soll."
Tosaku hörte schweigend zu. Fudschi war inzwischen mit ihrer Arbeit fertig geworden, packte die Sichel und eine blaue Kanne in ihren Korb, faltete ihren strohgeflochtenen Regenumhang zusammen und legte ihn obenauf.
„Die Soldaten und die Leute aus den Fabriken kommen heim", meinte Sengoro. „Bald wird in Torisawa kein Apfel mehr zu Boden fallen können." „Da hast du recht."
„Auf dem eigenen Scheitel kann man ja schließlich
kein Korn säen. Jetzt werden sich alle in die Haare geraten."
„Ja, ja."
Sengoro stapfte langsam davon. Seine kräftigen Füße steckten in Strohsandalen, die Hosenbeine waren mit Bindfäden zusammengebunden. Schritt für Schritt entfernte er sich in Richtung des Makikusajama.
Auch Tosaku und seine Schwiegertochter machten sich auf den Weg. Aber sie gingen nach der anderen Seite bergab. Der Alte verschränkte die Hände auf dem Rücken und trottete hinter seiner Schwiegertochter her. Ab und zu murmelte er vor sich hin. Wie der Krieg geendet hatte, ob mit einem Sieg oder mit einer Niederlage - für Menschen wie ihn bedeutete das nicht viel. Seine Gedanken waren nur darauf gerichtet, alles zu überstehen und mit den Sorgen, die die Zukunft bringen würde, fertig zu werden. Nur darum konnte er sich kümmern und um nichts sonst.
„Die Soldaten und die Leute aus den Fabriken kommen heim", wiederholte er flüsternd Sengoros Worte, während er den Weg entlang schritt. Eine quälende Unruhe überkam ihn, und in einem plötzlichen Entschluss sagte er zu seiner Schwiegertochter: „Geh geradeaus weiter. Ich komme bald nach."
Er bog vom Wege ab, stieg mit unsicheren Schritten über Geröll und Steine abwärts und durchquerte das ausgetrocknete Bett eines Gebirgsbächleins.
Tosaku klammerte sich an Sträucher und an Felsvorsprünge, als er den Berghang auf der anderen Seite wieder hinaufkletterte. Dabei dachte er an seine Reisfelder und Äcker, die er mit eigener Hand gepflügt hatte. Alle zusammen waren kaum größer als fünfeinhalb Tan. Aber um die eine Hälfte, um jene Reisfelder, die er schon seit mehr als zwanzig Jahren bearbeitete, machte er sich Sorgen. Musste man das nicht, wenn einem Gerüchte zu Ohren kamen, dass die Eigentümer dieser Grundstücke aus Tokio zurückgekehrt seien? Konnte man denn wissen, ob sie nicht morgen schon ihr Land zurückverlangen würden? Besonders beunruhigt war er wegen der vier Felder, auf denen er soeben Gras gemäht hatte. Er hatte sie zu Anfang des Krieges von Torisawa Kintaro gepachtet. Die erwachsenen Kinder des früheren Pächters Torisawa Kiju waren jetzt ebenfalls aus einer Fabrik in Nagoja zurückgekehrt. Die Namen Torisawa,
Jamanaka, Fudschimori und Takenoutschi waren sehr verbreitet im Dorf, was allerdings nicht bedeutete, dass zwischen allen Trägern des gleichen Namens eine Verwandtschaft bestand. Kiju aber war wirklich ein entfernter Verwandter von Kintaro, und wenn er ihn darum bat, dann nahm der Gutsbesitzer möglicherweise Tosaku das Pachtland weg und gab es Kiju wieder.
Wer weiß, was die mit uns vorhaben... Die Soldaten und die Leute aus den Fabriken kommen heim...
Als Tosaku oben angelangt war, stützte er sich auf einen Stock, den er unterwegs aufgelesen hatte, und schöpfte Atem.
Von der Stelle aus, wo er stand, konnte er die Bergmassen gut übersehen. Ihre Falten, Schluchten und Windungen ähnelten einem Geflecht von Muskeln und Sehnen. Der Wald an den Hängen war vollständig abgeholzt, und die kahlen, roten Buckel erinnerten an geschorene Schafe.
„Wer weiß, was die mit uns vorhaben", murmelte Tosaku vor sich hin, während er sich wieder abwärts wandte. Er war sich selbst nicht klar darüber, wen er meinte. Die Regierung oder die Behörden? Tosaku hatte nur eine undeutliche Vorstellung von dieser „Regierung". Er wusste, dass es einen Kaiser gab, den Tenno, und den Premierminister Tojo. Er hatte auch die Worte „Amerika" und „Deutschland" und sogar das Wort „Sowjetunion" gehört. Aber all das war für ihn so ungreifbar fern wie die Wolken, die über den Gipfel des Jagatake dahinzogen. Ein fester Begriff hingegen war ihm der Gutsherr, waren die sieben Gutsherren, große und mittlere, die Eigentümer der umliegenden Ländereien - sieben Gutsherren mit Kintaro an der Spitze, dem auch die paar armseligen Fleckchen Tosakus gehörten. Auch für Tosakus Ahnen hatte es schon einen Gutsherrn gegeben, und solange dieser Gutsherr existierte, waren Regierung und Kaiser für Tosaku nicht mehr als die Geister, die in den Bergen hausten. Man konnte sie verehren, aber man durfte sich nicht auf sie verlassen - das wäre ganz sinnlos gewesen.
Es war Tosaku gar nicht bewusst, dass er sich in letzter Zeit angewöhnt hatte, unterwegs einen Stock oder ein Stück Bambusrohr aufzuheben, das er beim Gehen als Stütze benutzen konnte. Er war in diesen Bergen geboren und aufgewachsen, wohl vierzigmal hatte er im Frühjahr Reis gepflanzt und vierzigmal die Ernte eingebracht, und nun mit einem Mal war er sechzig geworden... Mitunter schien es ihm, als wäre sein Leben im Handumdrehen verronnen. Dann wieder hatte er das Gefühl, als lebte er schon lange auf dieser Welt, tausend Jahre, ja, viele tausend Jahre.
Sein ältester Sohn war im Kriege gefallen und der jüngste noch nicht aus der Armee zurückgekehrt. Von ihm fehlte jede Nachricht. Da blieben also die unverheirateten Töchter und die verwitwete Schwiegertochter. Tosaku erwartete nichts mehr vom Leben, und der Gedanke an den Tod war ihm nicht schrecklich.
Am Rande eines Kiefernhaines, den die Soldaten zur Hälfte abgeholzt hatten, um Kienholz zu gewinnen, blieb Tosaku stehen. Vor ihm, unten im Tal, lag das Dorf. Dicht neben dem Feuerwachtturm bemerkte er das Wohnhaus der Torisawas. Das Dorf teilte sich in eine westliche und eine östliche Hälfte, und die Felder, die von den Bauern bestellt wurden, waren über die umliegenden Hänge verstreut.
Auf einem höher gelegenen Acker, ganz in der Nähe, bearbeiteten zwei Soldaten den Boden mit Hacken. Der eine trug Militärhosen und war bis zum Gürtel nackt, der andere steckte in einem schwarzgestreiften Marinehemd. Sie standen Rücken an Rücken und wühlten die Erde auf wie Maulwürfe. Es war das Grundstück, das Endo Tschijo früher bearbeitet hatte; darum vermutete Tosaku, dass die beiden die Söhne von Fudschimori Toschio wären.
„He - seid ihr nicht Toschios Jungen?" Der Soldat in der Militärhose drehte sich um und grüßte, indem er den Mützenschirm mit den Fingerspitzen berührte.
„Ja, wenn Heer und Marine gemeinsam zupacken, dann geht die Arbeit flott voran!" rief Tosaku lachend.
Wie schnell die Kinder groß werden! dachte er verwundert. Man kann überhaupt nicht unterscheiden, wer der ältere von den beiden ist.
„Wollt ihr Weizen reinbringen?"
„Jawohl", antworteten sie militärisch kurz und arbeiteten wie wild drauflos. In ihren hastigen Bewegungen lag eine gewisse Unruhe, als würde wer weiß was geschehen, wenn sie nicht das ganze Stück so schnell wie möglich umgruben. Der kräftig gebaute junge Mann im Matrosenhemd wendete von Zeit zu Zeit seinen runden, kahlgeschorenen Kopf und warf rasche, feindselige Blicke nach allen Seiten. Tosaku wollte schon gehen, da er keinen Grund sah, länger hier zu verweilen, als plötzlich ein durchdringender Schrei über den Acker gellte: „Was macht ihr denn da?"
Atemlos von dem steilen Aufstieg, erschien Endo Tschijo auf dem Feld. Sie war bleich und zerzaust und hatte offensichtlich in aller Eile übergezogene Sori an den Füßen. Weit hinter ihr lief weinend ein kleines Mädchen von etwa sechs Jahren, und auf Tschijos Rücken baumelte das Köpfchen eines schlafenden vielleicht dreijährigen Jungen hin und her.
„Das ist doch die Höhe - anderer Leute Feld umzugraben! Habt ihr keine Augen im Kopf? Seht ihr denn nicht, dass da was draufsteht?" Noch immer atemlos, kam sie näher.
Der ältere der beiden Brüder, Schigeru, schaute sich verlegen um und presste den Stiel der Hacke zwischen den Händen. Tatsächlich, an einer Ecke des Feldes stand noch Gemüse und etwas Buchweizen.
„Mutter hat doch gesagt, es sei alles besprochen." Der große Bursche, in dessen Erscheinung noch etwas Jungenhaftes lag, stockte und verstummte. Er war erschrocken über den Gesichtsausdruck der Frau, die schon soviel durchgemacht hatte. „Ja, ich weiß, ich weiß. Habe ich denn gesagt, dass ich Ihnen das Land nicht zurückgeben will? Es gehört
Ihnen ja, ich habe es nur vorübergehend genutzt. Aber ein Feld umgraben, wenn die Ernte noch nicht eingebracht ist, das ist..., das ist..."
Die zierliche Frau hob die Hand vor die Augen und stieß mit versagender Stimme hervor: „Natürlich, ich bin nur eine hilflose Witwe..., aber so etwas..."
Tosaku lief aufgeregt am Feldrain hin und her. „Ist ja gut! Es wird schon nicht so schlimm sein...", rief er und trat auf Tschijo zu, um sie zu trösten. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, doch seine Worte hatten sie nur noch mehr erbost: „Nicht schlimm? Ich bin eine Witwe, und deshalb denkt jeder, er kann mit mir machen, was er will!" Sie schob das Kind auf ihrem Rücken zu Recht, hob den Kopf und schrie mit Tränen in den Augen: „Mein Mann ist auch nicht zu seinem Vergnügen im Krieg gefallen! Nicht zu seinem Vergnügen, wahrhaftig nicht!"
Das Haar fiel ihr über die Augen, sie warf es mit einem Ruck wieder hoch. „Seid ihr denn keine kaiserlichen Soldaten? Ihr seid doch auch Soldaten!"
Der Matrose, der die Frau bis dahin hasserfüllt angestarrt hatte, versetzte ihr plötzlich einen heftigen Schlag, so dass sie rücklings zu Boden stürzte.
Tosaku war fassungslos. Er eilte auf Tschijo zu, um ihr aufzuhelfen.
Schigeru hielt seinen Bruder fest.
Tschijo richtete sich mühsam auf, die Kinder klammerten sich an sie. Sie konnte sich nicht länger beherrschen und brach in lautes Weinen aus.
Tosaku klopfte ihr auf die Schulter.
„Na, schon gut, schon gut. Das wird sich alles regeln lassen. Man muss es besprechen..."
„Ach danke, lassen Sie nur", murmelte Tschijo und presste die Hände vors Gesicht. Tosaku fühlte, dass nicht nur der Verlust des Ackers ihre Tränen verursachte. Er verstand, wie bitter es für die Witwe sein musste, die beiden Soldaten zu sehen, die heil und gesund aus dem Krieg heimgekehrt waren.
Auch Tosaku war es schwer ums Herz, als er die Frau so schluchzen hörte. Er starrte zum Gipfel des Makikusajama hinüber, und vor seinen Augen erschien die Gestalt seines gefallenen Sohnes. Er hatte die Nachricht erhalten, dass sein Sohn „an einer epidemischen Erkrankung gestorben" sei, und vor ungefähr einem Jahr war dann in einem Kästchen seine Asche von der Insel Taiwan „heimgekehrt". Seit dieser Zeit war Tosaku sichtlich gealtert, seine Zähne begannen auszufallen, und er litt ständig an Kreuzschmerzen.
Er blickte auf die Berghänge, und im Geiste sah er dieses Kästchen vor sich. Es war in ein Stück weißes Tuch eingewickelt, und ein kleiner Zettel lag dabei, einer Gepäckadresse ähnlich... Da ist nichts zu machen, sann der Alte, Krieg ist Krieg, ihm und dem Schicksal kann man nicht entrinnen. Man kann trauern und sich grämen, soviel man will, ändern kann man nichts. Frühe Fröste töten die Saaten, Lawinen stürzen von den Bergen herab, ziehen Felsblöcke nach sich und verschütten die Felder, dem Menschen aber bleibt nichts anderes übrig, als den Acker immer wieder geduldig zu säubern und zu bebauen.
Langsam kam ein Mann den Weg vom Bosujama herab und näherte sich dem Feld. Er trug eine schäbige Jacke und Strohsandalen. Unter den Arm hatte er eine alte, unansehnliche Aktentasche geklemmt.
„Guten Tag, alle zusammen!" rief er und blieb stehen. Dann wandte er sich lächelnd an Tosaku: „Es ist noch ein ganz schöner Tag geworden, nicht wahr, Tosakusan?"
Natürlich bemerkte er, dass hier etwas Ungewöhnliches vorging, aber das Lächeln wich nicht von seinem breiten, bärtigen Gesicht. „Hoppla!" Er setzte sich auf den Rain.
Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit sanften, ruhigen Bewegungen. Die Brauen ragten wie kleine Bürsten aus seinem Gesicht hervor und hingen weit über die Augen. Auf der Stirn und um den Mund lagen tiefe Falten. Wenn er lachte, dann ähnelte er dem Gott Daikoku (Anm.: Der Gott des Reichtums und des Glücks, der gewöhnlich als gutmütiger, lachender alter Mann dargestellt wird.). Brach sein Lachen jedoch unvermittelt ab, dann pressten sich seine Lippen fest zusammen, und sein Gesicht wurde plötzlich unsagbar traurig, beinahe finster, wie bei einem Menschen, der viel Leid im Leben erfahren hat. Torisawa Fumija war es, der Gemeindeschreiber des Dorfes Kawasoi.
„Ach, sieh mal an, die Brüder Fudschimori! Was für prächtige Burschen. Ihr seid ja schon ganz erwachsen!"
Bei Fumijas Erscheinen hatten Schigeru und Tadassu militärisch stramme Haltung angenommen
und sich dann tief vor ihm verneigt. Beide waren seine Schüler gewesen, als Fumija noch die untersten Klassen der Dorfschule in Torisawa unterrichtete.
„Hör mal, Tosaku, da wird ein guter Ochse aus einer koreanischen Zucht angeboten. Was meinst du, willst du ihn nicht kaufen? Er kostet nur 350 Jen. Das ist spottbillig", plauderte der Gemeindeschreiber vergnügt, nahm den zerdrückten Strohhut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Anscheinend war er gut gelaunt. „Geradezu geschenkt ist das! Ein prächtiges Tier, soviel wert wie dein Gaul!"
Fumija kam von einer Versteigerung aus dem Dorf Sanbonmatsu, wo er dienstlich zu tun hatte. Er trank jederzeit gern ein Schälchen Sake (Anm.: Reisschnaps.); doch heute schien er in besonders angeregter Stimmung zu sein. Tosaku musterte ihn erstaunt. Fumija schwatzte lebhaft, sprang von einem Gesprächsthema auf das andere über und legte eine merkwürdige jugendliche Begeisterung an den Tag.
„Ein feiner Krieg ist das! Wohin man blickt, nichts als Kummer und Leid. Aber so ist es nun mal in der Welt." Fumija klopfte das verstopfte Mundstück seiner Pfeife an der Strohsandale aus und pustete kräftig hinein. „Jaja, so geht's zu im Leben! Auch die beiden Jungen da werden noch viel dazulernen. Nicht wahr? Aber es gibt ja nicht immer nur Kummer und Unglück."
Tosaku stand reglos am Feldrain und blickte gespannt zum Himmel auf, als hätte er irgendetwas
Ungewöhnliches entdeckt. Er beobachtete seit geraumer Weile den Flug eines Geiers, der dort oben seine Kreise zog. Das Geschwätz Fumijas interessierte ihn nicht. Er verstand nicht, weshalb er das alles sagte und was er eigentlich damit bezweckte. Da schlug die heisere Stimme schon wieder an sein Ohr:
„Aha, Tschijo will nach Hause gehen? Dann gehe ich mit ihr."
Die Frau hob das Kleine auf den Rücken, drückte das größere Mädchen an sich und verließ still das Feld. Als Fumija sie anrief, blieb sie stehen und senkte den Kopf. Man sah noch die Tränenspuren auf ihrem Gesicht.
„Nur - ich bin doch auch verwitwet, und wenn ich zusammen mit Tschijosan gesehen werde, dann gibt es vielleicht noch Gerede im Dorf", scherzte Fumija und klemmte die Aktentasche unter den Arm. Die andern lächelten unwillkürlich. „Na, macht nichts. So ein alter Kerl wie ich zählt ja wohl als Mann nicht mehr mit."
Tosaku schlenderte hinter ihnen her. Fumija blieb einmal hinter Tschijo zurück, dann lief er wieder voraus. Ab und zu summte er ein Liedchen vor sich hin. Während Tosaku den Weg entlang schritt, dachte er, dass Fumija, der drei Jahre zuvor seine Frau verloren hatte, eigentlich recht alt geworden sei.
Plötzlich ließ Fumija die Frau ein Stück vorausgehen und flüsterte Tosaku zu: „Die Pflichtablieferung an die Gutsbesitzer wird wahrscheinlich aufgehoben.
Hast du schon davon gehört? So erzählt man jedenfalls; ich weiß allerdings auch noch nichts Genaues." Tosaku war überrascht. „Wirklich?" „Ich bin überzeugt, dass es Veränderungen geben wird", meinte Fumija stirnrunzelnd. Er senkte die Stimme immer mehr und sah Tosaku gerade ins Gesicht. „Pass nur auf und lass dir jetzt nicht das Land aus den Händen nehmen!"
Tosaku nickte. Was sollte er aber tun, wenn man ihn eines schönen Tages aufforderte, die Felder zurückzugeben? Er hätte Fumija gern noch mehr gefragt, doch der Gemeindeschreiber sprach nicht weiter über diese Sache.
Sie näherten sich dem Dorf; Fumija und Tschijo mit den Kindern verschwanden über die Brücke, die den östlichen und den westlichen Teil der Siedlung verband; Tosaku aber blieb eine Weile nachdenklich stehen. Sollte er Torisawa aufsuchen? Sollte er in die Höhle des Löwen gehen? Selbst wenn die Gerüchte von der Aufhebung der Lieferungen an den Gutsherrn auf Wahrheit beruhten, war es ganz ausgeschlossen, sich Kintaro als Bauern vorzustellen. Dass ein Gutsherr selbst Reis schnitt - so etwas hatte es noch nicht gegeben, seit die Welt bestand! Es konnte wohl nicht so schlimm werden, wenn er im Herrenhaus vorspräche.
Tosaku zögerte, trat von einem Fuß auf den andern; doch dann verließ er kurz entschlossen die Straße und ging, auf seinen Stock gestützt, zum Gutshaus hinüber.

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