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An einem regnerischen Tage Ende Januar 1946 fand im Werk Kawasoi eine Belegschaftsversammlung zur Gründung der Gewerkschaft statt.
In allen Werkhallen wurden die Maschinen abgestellt, sogar im Büro blieb niemand außer dem Direktor und einigen älteren Angestellten.
Von Zeit zu Zeit traten die Wachleute aus dem Kontrollhäuschen am Eingang und blickten besorgt zum anderen Ende des Fabrikhofes hinüber, wo ein körniger Eisregen in schrägen Streifen hernieder rauschte; das alte Gebäude, in dem gewöhnlich die Versammlungen abgehalten wurden, schien sich fröstelnd unter dem tiefhängenden Himmel zusammenzukauern.
Hier, wo einst die Seidenkönige Sumikura den Gipfel ihrer Macht erreicht hatten, in dem Unternehmen, wo sie ihre ersten Erfolge erzielten, wurde zum ersten mal in der mehr als ein halbes Jahrhundert alten Geschichte der Sumikura ein Gewerkschaftsverband gegründet.
Auf dem Podium, im Präsidium, saß Tschidschiwa Satoru. Er war am Abend zuvor aus Tokio zurückgekehrt, wo er mit Araki die Verbindung zu der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerks aufgenommen hatte. Tschidschiwa hatte sich halb umgewandt, einen Arm um die Stuhllehne geschlungen. Er machte einen völlig ruhigen Eindruck. Wenn man ihn ansah, dann konnte man meinen, er wisse seit langem, dass alles so werden würde, wie es heute war. Es schien ihn und die anderen auch nicht zu verwundern, dass ihn die Ereignisse in wenigen Tagen zu einem der Gewerkschaftsorganisatoren gemacht hatten.
Tatsächlich war die Ernennung Tschidschiwas gesetzmäßig gewesen. Im Werk Kawasoi hielt man sich an die Satzung der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerkes, wo sogar alte Meister und Werkhallenleiter in die Gewerkschaft eingetreten waren. Und obgleich es unter den Angestellten weniger Gewerkschaftsmitglieder gab als unter den Arbeitern, herrschte noch die traditionelle Ansicht, dass ein Meister einige Dutzend Arbeiter „wert" sei. Die Arbeiter waren nicht klassenbewusst und stark genug, um in einer so kurzen Frist selbständig, ohne die Hilfe der fortschrittlichen technischen Intelligenz, eine Gewerkschaftsorganisation zu schaffen. Deshalb war niemand erstaunt darüber, dass Tschidschiwa in dieser Versammlung den Vorsitz führte.
Neben Tschidschiwa spielte Takenoutschi Tadaitschi eine der Hauptrollen. Zu Beginn der Versammlung hatte er eine „Deklaration über die Gründung des Gewerkschaftsverbandes der Arbeiter des Werkes Kawasoi" verlesen. Jetzt war er sehr geschäftig; er rannte über die Bühne, stieg in den Saal hinunter, lief zu den Verwaltungsangestellten und flüsterte ihnen etwas ins Ohr, nahm wieder auf dem Podium Platz und lächelte liebenswürdig nach allen Seiten. Mit einem Wort, er benahm sich, als wäre es sein Verdienst, dass die Versammlung zustande gekommen war.
Mit einigen traditionellen Gewohnheiten, die bisher in diesem Saal beachtet wurden, hatte man heute gebrochen. Die Stühle zu beiden Seiten der Bühne und an den Wänden waren weggeräumt worden. Die Angestellten saßen mit untergeschlagenen Beinen n den Arbeitern auf dem Fußboden. An der Stelle, wo früher die Worte „Heiliges Land Japan" prangten, hing jetzt die Losung: „Wir gründen eine Arbeitergewerkschaft!"
Trotzdem machte sich die Tradition noch bemerkbar. Die Angestellten hockten in einer Gruppe unmittelbar vor dem Podium, halb mit dem Rücken zu den andern. Von den Arbeitern waren Onoki und Ikenobe in das Organisationskomitee gewählt worden; Arbeiterinnen waren nicht darin vertreten. Sie alle, unter ihnen auch Jamanaka Hatsue, saßen auf der rechten Seite des Saales, die den Frauen vorbehalten war. Nur zwei junge Mädchen aus der Fabrikverwaltung - die Kontoristin Toki Hana und Torisawa Ren - nahmen die Plätze für die Vertreterinnen der Angestellten im Komitee ein.
Bereits in den ersten beiden Stunden erzielte die Versammlung, die zu Mittag begonnen hatte, hervorragende Ergebnisse.
Nach den einleitenden Worten Kassawaras, der im Namen des Organisationskomitees sprach, und der Verlesung der „Gründungsdeklaration" wurden die Forderungen bekanntgegeben, die der Company unterbreitet werden sollten. Die Erklärungen zu diesem Entwurf gab Araki.
Der Entwurf stimmte im Wesentlichen mit den Forderungen überein, die bereits von der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerkes der Company vorgelegt worden waren. Er enthielt zehn Punkte, darunter die Forderung nach einer fünffachen Erhöhung der Löhne, Anerkennung der Gewerkschaft, Anerkennung des Rechtes der Arbeiter auf den Abschluss von Kollektivverträgen, Einführung des Siebenstundentages und etwas ganz Neues: das Recht der Gewerkschaft, an der Geschäftsführung der Company teilzunehmen und eine Produktionskontrolle auszuüben. Araki sah blass und müde aus. In gebeugter Haltung, die Hände in den Taschen vergraben, sprach er mit heiserer Stimme. „Einführung des realen Sieben-Stunden-Arbeitstages... Diese Forderung ist aufgenommen worden, damit die Verwaltung berücksichtigt, dass in den Achtstundentag die Mittagspause eingerechnet wird. Verstanden?" „Jaja, alles klar!"
Die erregten Stimmen der Arbeiter bewiesen, dass sie die einzelnen Forderungen nicht nur begriffen, sondern auch unterstützten.
Araki erklärte sorgsam Punkt für Punkt und warf ab und zu einen Seitenblick in den Saal. Rechts von der Bühne, in den vorderen Reihen, saßen Schima Narijoschi und einige andere Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft". Den Mittelpunkt dieser Gruppe bildete Komatsu Nobujoschi in seiner auffälligen Offiziersuniform. Sie schwiegen, als fühlten sie ihre Ohnmacht; aber wenn es in dieser Versammlung feindlich Gesinnte gab, denen daran lag, die Bestätigung des Entwurfs - den wichtigsten Punkt der Tagesordnung zu verhindern, so waren es die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft".
„Also, Kollegen, ich habe unseren Entwurf erläutert, so gut ich konnte. Nun müssen wir unsere Entschlossenheit zum Ausdruck bringen und der Gesellschaft diese Forderungen unterbreiten!" rief Araki erregt und hob den Kopf. Bisher hatte er es vermieden, die Zuhörer anzusehen, um sich nicht ablenken zu lassen. In dieser Minute aber fiel es ihm schwer, seine tiefe Bewegung zu verbergen. Wer hätte damals in den Bergen, als er sich mit Nakatani und den anderen beriet, wohl gedacht, dass es ihm gelingen würde, eine Gewerkschaft mit einem so umfassenden Programm zu gründen?
„Natürlich besteht die Möglichkeit, dass wir zu der Waffe greifen müssen, die wir besitzen - zu unserem Recht auf Streik. Und wenn die Gesellschaft darauf mit Produktionsdrosselung antwortet, dann können wir eine neue Kampfmethode anwenden: die Kontrolle der Arbeiter über die Produktion."
Tschidschiwa stand auf und sagte etwas, aber seine Worte gingen in dem ausbrechenden Beifall unter. Viele von denen, die so begeistert applaudierten, wussten gar nicht, was „Kontrolle der Arbeiter über die Produktion" bedeutete. Alle glaubten jedoch, dass der Verfasser des Entwurfs die beste und wirkungsvollste Kampfmethode gewählt hatte. Die Leute begriffen selbst nicht, wie ihnen geschah; ein nie gekanntes Gefühl erfasste sie und suchte, sich in Ausrufen und Händeklatschen Luft zu machen.
Araki bemerkte, dass Komatsu Nobujoschi unbeweglich mit verschränkten Armen dasaß. Der Beifall schien ihn wie Peitschenhiebe zu treffen. Die Resolution wurde angenommen, und die Forderungen sollten gleich nach der Versammlung durch eine Delegation von fünf ständigen Mitgliedern des Gewerkschaftskomitees dem Direktor überreicht werden. Die Wahl fiel auf Araki, Tschidschiwa, Takenoutschi, Nakatani und Kassawara.
„Onoki Kumaokun, ein Arbeiter aus der Dreherei, hat das Wort zur Begrüßung der Arbeiter", verkündete der Vorsitzende. Doch die Rede Onokis, die den Enthusiasmus der Anwesenden noch steigern sollte, verlief ganz anders geplant.
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