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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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„Guten Morgen, Kollegen! Heute ist herrliches Wetter, und viele von euch wollen wahrscheinlich in die Stadt gehen ..."
Der Lautsprecher im Korridor übertrug die Mitteilungen der Gewerkschaft.
„Seit der letzten Versammlung der Jugendsektion werden in der Fabrik provokatorische und demagogische Gerüchte verbreitet. Im Namen der Gewerkschaft ermahnen wir die Arbeiter, auf der Hut zu sein."
Ren brachte rasch ihr Bett in Ordnung. Sie wollte nicht hinter den andern zurückstehen; aber sie fühlte sich sehr elend.
Schige räumte das Zimmer auf, Schinobu und Mitsu fegten den Korridor, Hatsue und Kiku, die sich umgezogen hatten, gingen mit Eimern in den Händen hinaus, um zusammen mit einigen Mädchen aus Zimmer zwölf und dreizehn die Toiletten zu reinigen.
„Nicht doch!" wehrte Kiku mit einer Handbewegung ab, als sie bemerkte, dass Ren ihnen zerstreut folgte. „Es brauchen aus jedem Zimmer nur zwei zu sein."
Ren blieb mitten auf dem Korridor stehen. Die Mädchen aus den Nebenräumen liefen plaudernd und lachend vorüber.
Ren hatte ein sonderbares Gefühl; bisher hatte sie sich zu dieser Stunde seelenruhig im Waschraum die Zähne geputzt und nichts von alledem beachtet, was um sie herum vorging.
„Willst du auch die Toilette saubermachen, Torisawasan?"
Ren schritt mechanisch hinter Kiku her, da sie nicht wusste, was sie sonst mit sich anfangen sollte. Hatsue  beobachtete  Ren sanft  lächelnd.  Hatsue hatte ihr Haar hochgekämmt und mit einem Handtuch umwunden. Ihr Gesicht strahlte vor Güte und Milde.
„Wartet einen Augenblick!"
Sie lief ins Zimmer zurück, holte ihre Hosen und half Ren, sie anzuziehen. Dann band sie ihr ein Handtuch über das Haar. Wie ein Kind ließ Ren alles mit sich geschehen. „Wir werden aufwischen, und du holst Wasser."
Hatsue und Kiku scheuerten eifrig den Fußboden, Ren trug Wasser herbei und säuberte die Wände. Sie spürte, wie allmählich, einer Wolke gleich, die der Wind vertreibt, das Gefühl der Entfremdung verschwand. Sie kam sich nicht mehr überflüssig und nutzlos vor.
„Seht doch mal, Torisawasan mit Bürste und Eimer! Welch ungewohnter Anblick!" rief Mitsu erfreut, als sie Ren mit dem Eimer ins Zimmer treten sah. Sie klatschte in die Hände und umarmte Ren.
„Na, wie ist es, fahren wir nach Torisawa?" fragte Schinobu, die mit dem Rücken zu Ren am Boden hockte, ohne sich umzudrehen. Schige und Mitsu packten die Sachen, die sie eintauschen wollten, in ihre Rucksäcke.
„Also Reis und Mehl. Und was noch? Ach, ich glaube, das wird man dort selbst wissen", sagte Kiku mit einem Blick auf die schweigende Ren.
Ren und Hatsue konnten sich den anderen nicht anschließen. Sie mussten an einer Sitzung im Büro des Jugendverbandes teilnehmen.
„Torisawasan hat sicher ein Haus wie ein Schloss. Da trauen sich solche wie ich gar nicht hinein", sagte Schinobu. Hatsue erwiderte lächelnd: „Lass nur, es wird alles gut gehen."
Ren stand in plumpen, weiten Hosen mit bleichem Gesicht stumm an der Tür. „Komm, wir gehen in die Kantine." Hatsue tippte ihr auf die Schulter, die in dem einen Monat ihres Lebens im Gemeinschaftsheim ganz schmal geworden war.
Ren nickte gehorsam.

Am Nachmittag verließen Ren und Hatsue das Heim.
Seit dem Tage, da die Forderung der „Tenrju"-Leute, den Jungkommunisten die Übernahme von Funktionen in der Jugendsektion der Gewerkschaft zu verbieten, mit einer knappen Mehrheit von vierzehn Stimmen abgelehnt worden war, vermied es die Leitung des Kommunistischen Jugendverbandes, in der Fabrik zusammenzukommen.
Die Sitzungen fanden deshalb gewöhnlich in Arakis Wohnung statt.
Die beiden Mädchen hatten den Fabrikhof überquert und gingen an der Galerie mit der Kontrolluhr vorbei. Da bemerkte Hatsue einen neuen Anschlag. Sie blieb stehen und stieß Ren an. Auf einer weißen Tafel klebte ein rotumrandeter Ausschnitt aus der   „Asahi-Schimbun" (Anm.: „Morgenzeitung", bekannte japanische Tageszeitung.),   und   darüber  war   mit
schwarzer Tusche geschrieben: „Ablehnende Haltung gegenüber dem Kommunismus. Erklärung des Vertreters der Vereinigten Staaten von Amerika, Acheson. Meldung der ,New York Times'. Der Sonderkorrespondent der ,New York Times', Mr. Barton Crain, berichtet über die Sitzung des Kontrollrats für Japan am 15. dieses Monats folgendes:
Die Sowjetunion erhielt heute vom Stab Mac Arthurs die eindeutige Erklärung, dass die USA dem Kommunismus ablehnend gegenüberstehen, ganz gleich, ob es sich um Amerika oder um Japan handelt. Diese Erklärung wurde durch den Vertreter im Kontrollrat für Japan, Mr. Acheson, während der Diskussion über eine Petition abgegeben, die einige japanische Organisationen nach der Maidemonstration an den Stab MacArthurs und den Kontrollrat gerichtet hatten."
Hatsue blinzelte verwirrt, als wäre ihr etwas ins Auge geflogen, und ging weiter. Ren folgte ihr, ohne die Meldung zu Ende gelesen zu haben. Schweigend schritten sie durch das Tor hinaus auf die Sumikurastraße.
Ren war mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt, und Hatsue sprach ohnehin nie von Dingen, über die sie sich noch nicht ganz im Klaren war. Sie erkannte, dass der Aushang dieser Meldung am Anschlagbrett das Werk der „Tenrju-Gesellschaft" war und dass über ihrem Haupte und über den Häuptern ihrer Freunde eine drohende, dunkle Wolke schwebte.
„Oh, Rensan! Und Ikesan ist noch nicht da!" rief Jamanaka Kisuke, als die Mädchen Arakis Haus erreichten. Er sagte das mit einem Gesicht, als wäre Ren schuld daran. Alle lachten, auch Kaischima Nobuko, die vor ihnen gekommen war, Outschi, ein junger Zeichner aus der Versuchsabteilung,  und Kodschima aus der Kontrollabteilung. Jamanaka Kisuke trug ein rotes Tuch im Halsausschnitt seines Sweaters; der schlanke, langaufgeschossene Jüngling war im Stimmbruch, und auf seiner Oberlippe spross ein spärliches Bärtchen. „Was sollen wir machen? Es ist schon drei Uhr." Niedergeschlagen nahm Ren hinter Hatsue Platz. Kisuke schnaubte wütend: „Wir müssen doch die Berichte  der Bezirksverantwortlichen  hören!  Soll ich nach Kami-Suwa fahren und ihn holen?"
„Nicht nötig, er wird gleich kommen", bemerkte Araki und hob den Blick von der Zeitung, die er auf den Knien hielt. Neben ihm lagen noch einige Zeitungen, und in allen stand unter schreienden Schlagzeilen jene Meldung, die Ren und Hatsue kurz zuvor gelesen hatten. Während die schüchterne Hatsue noch überlegte, ob sie Araki wegen der Meldung fragen sollte, wurden die Schoji auseinandergeschoben. Araki drehte sich um. Ikenobe trat ein.
„Wo sind denn Furukawa und Onoki?" „Furukawa ist krank. Er hat eine Lungenentzündung", sagte Ikenobe hastig. „Lungenentzündung?"
„Ja. Vierzig Grad Fieber."
Hatsue erbleichte. „Seit gestern Abend wachen Nakatani, Oncki und Inoue abwechselnd bei ihm." „Ist es denn gefährlich?" Arakis Stimme klang besorgt. „Lebensgefährlich?" Ikenobe schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, so schlimm ist es nicht. Er hat zwei Spritzen bekommen. Sein Herz ist gesund, wie der Doktor sagt."
„Das stimmt", bestätigte Araki und fügte hinzu: „Ja, ein gesundes Herz hat der Bursche!"
Außer Araki hatte keiner Hatsues Erregung bemerkt. Auf ihrem Gesicht erschien ein schwaches, kaum sichtbares Lächeln.
Die Sitzung begann. Es war still im Zimmer. Arakis Frau und die Kinder waren ausgegangen.
Araki hatte neben dem Hibatschi Platz genommen. Er hörte zu und blätterte zerstreut in den Zeitungen. „Ablehnende Haltung gegenüber dem Kommunismus..." - „Erklärung des Vertreters der USA, Acheson..." Zweifellos würden die Burschen von der „Tenrju-Gesellschaft" nicht zögern, diese Erklärung auszunutzen und den Druck zu verstärken.
„Ich denke, der Kampf um die Steigerung der Produktion wird diese lügenhafte Propaganda entlarven und der Sabotage der Company ein Ende machen. Habe ich recht, Arakisan?" wandte sich Ikenobe, der den Vorsitz führte, an Araki. Er erklärte den Jungkommunisten, wie man den Entwurf für einen Beschluss über den Kampf um die Steigerung der Produktion, den das Gewerkschaftskomitee vorgelegt hatte, aufzufassen habe.
Neuerdings wurde in den Werkhallen erzählt, seit der Gründung der Gewerkschaft seien viele Faulpelze in der Fabrik aufgetaucht, und die Company habe deshalb große Verluste zu verzeichnen.
Araki hatte erkannt, dass hinter diesen Redereien eine böse Absicht steckte, dass es sich um eine Form der Sabotage handelte, die die Company verübte. Um diese Machenschaften zu durchkreuzen, musste das Gewerkschaftskomitee auf der nächsten Versammlung die Frage des Kampfes um die Steigerung der Produktion aufwerfen.
Ikenobe, der an Furukawas Krankenlager eine schlaflose Nacht verbracht hatte, sah müde aus. Seine Wangen aber begannen bald vor Erregung zu glühen, und zeigten wieder ihre jugendfrische Farbe.
Die Diskussion ging weiter.
„Immer wieder wird behauptet, wir wären faul und wollten nicht arbeiten. Dabei tun sie selbst alles, um die Maschinen wegen Rohstoffmangels zum Stillstand zu bringen", sagte Jamanaka Kisuke, der an einer Bohrmaschine arbeitete.
Kodschima aus der Kontrollabteilung schüttelte den Kopf.
„Nein, es gibt auch solche, die wirklich faulenzen. Wir haben zum Beispiel in unserer Abteilung einige Arbeiter, die schwänzen und, statt zu arbeiten, Schwarzhandel treiben."
„Das kommt alles daher, dass man den Leuten nicht bezahlt, was ihnen zusteht. Was ist das denn für ein Zustand, dass bis jetzt der Lohn für die zweite Aprilhälfte nicht ausgezahlt wurde!" warf einer ein; doch Ikenobe unterbrach ihn: „Bitte keine Zwischenrufe ! Jedenfalls müssen die Jungkommunisten führend sein im Kampf um die Steigerung der Produktion. Wer möchte noch etwas sagen?"
Ikenobe fasste das Ergebnis der Diskussion zusammen. Araki war in Gedanken versunken.
In der Fabrik gab es bis jetzt noch keine Organisation der Kommunistischen Partei. So hatte es sich ergeben, dass der Jugendverband allein die führende Rolle übernehmen musste. Betrachtete man Tschidschiwa und Takenoutschi mit ihren Helfershelfern als rechten Flügel in der Gewerkschaft, so waren die Jungkommunisten die treibende Kraft des linken.

Plötzlich trat Kassawara ins Zimmer. Er war mit dem Fahrrad gekommen. „Arakikun! Ein Telegramm vom ,Vereinigten Stab'", sagte er ernst.
Der „Vereinigte Stab" war eine Organisation des Gewerkschaftskomitees von elf Unternehmen der Tokio-Electro-Company im Bezirk Kanto. Die Arbeiter hatten diese Organisation nach dem Februarkampf geschaffen. Sie befand sich beim Gewerkschaftskomitee des Hauptwerkes der Company.
Durch das Telegramm wurde eine außerordentliche Tagung der Vertreter aller Gewerkschaftskomitees der Tokio-Electro-Fabriken einberufen.
Araki und Kassawara berieten eine Weile in einer Ecke des Zimmers, dann steckte Araki das Telegramm in die Tasche, trat auf Ikenobe zu und bat ums Wort. „In Anbetracht dessen, dass ich dringend nach Tokio fahren muss, möchte ich noch etwas zu der Resolution sagen, die ihr vorbereitet habt."
Araki ließ den Kopf sinken, verschränkte die Arme über der Brust und sprach langsam, als suchte er nach den passenden Worten. „Das, was ihr jetzt hören sollt, ist bisher nur dem ,Vereinigten Stab' der Gewerkschaft bekannt. Wie ihr wisst, habe ich eben ein Telegramm erhalten, das die Einberufung einer außerordentlichen Konferenz meldet... Daraus kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass sich die Lage noch mehr zugespitzt hat. Ich will euch sagen, was ich davon halte: Ich vermute, dass der Plan zur Rückführung der Betriebe und das Programm der sogenannten ,Produktionsregulierung', die von der Company aufgestellt wurden, nichts anderes sind als Pläne für Massenentlassungen und Produktionsbeschränkungen.
Wahrscheinlich wird das alles bald öffentlich bekanntgegeben. In den Werkhallen sind tatsächlich Gerüchte verbreitet worden, seit Gründung der Gewerkschaft hätten sich Bummelei und Faulenzerei entwickelt. Diese Flüsterpropaganda konnte zweifellos nur in der ersten Zeit nach den Februarereignissen Erfolg haben, als eine straffe Organisation fehlte. Warum aber nimmt sie gerade jetzt zu, ungeachtet dessen, dass die Zahl der verbummelten Arbeitsstunden dank der  Erziehungsarbeit   der  Gewerkschaft   erheblich zurückgegangen ist? Nun, ich glaube, das brauche ich euch nicht zu erklären. Der Kampf für die Steigerung der Produktion, den die Gewerkschaft aus eigener Initiative beginnt, schließt den Kampf gegen die Disziplinlosigkeit ein. Er wird helfen, diese Lügenpropaganda zu entlarven."
Anschließend sprach Kassawara: „Das ist eine private Information, und ich habe nicht das Recht, Zahlen und Namen zu nennen; doch auch in unserer Fabrik wird ein Rückführungsplan ausgearbeitet, und es werden Listen der Kollegen zusammengestellt, die entlassen werden sollen."
„Dann... dann... warum noch warten? Wir müssen das alles bekanntmachen und kämpfen!"rief Jamanaka Kisuke aufgebracht.
Kaischima Nobuko, die neben ihm saß, stieß ihn an, und er verstummte, schwer atmend vor Erregung.
„Deshalb fahren Arakikun und ich heute Abend nach Tokio zu der Konferenz des ,Vereinigten Stabes'. Er ist anders als im Februar. Die Company dehnt jetzt ihre Maßnahmen über das ganze Land aus, und wir müssen ebenso handeln", erklärte der Sekretär des Gewerkschaftskomitees, Kassawara, mit ernster Miene. Nach kurzer Pause fuhr er fort: „Endlich hat sich auch die Geschichte mit den Militärhemden aufgeklärt. Es gibt sogar einen Zeugen. Er ist hier unter uns, darum beschränke ich mich im Augenblick auf diese Mitteilung. In den nächsten Tagen werden wir im Namen der Gewerkschaft den Sachverhalt öffentlich bekanntgeben."
Die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" und andere, die ihr nahestanden, hatten in letzter Zeit Militärhemden zu einem außergewöhnlich niedrigen Preis erhalten. Darüber waren die Arbeiter empört.
„Wir haben sofort Erkundigungen eingezogen, und weitere Einzelheiten hat uns Torisawa Ren mitgeteilt. Diese Hemden gehörten zu den Sachwerten, die einige einflussreiche Persönlichkeiten der Fabrik insgeheim beiseite geschafft hatten. Ein Teil dieser Werte wurde unmittelbar nach Kriegsende aus dem Versteck irgendwo in den Bergen geholt und in den Speichern eines Gutshauses verborgen."
Alle sahen Ren erstaunt an. Sie hatte sich an die Schulter Hatsues gelehnt und rührte sich nicht. Ruhig, als handle es sich um etwas, was sie gar nichts anging, erklärte sie: „Bei uns zu Hause in den Speichern liegen Sachen, die die Company zur Aufbewahrung dort hingebracht hat. Ich weiß nicht, was für Sachen das sind, aber ich habe gesehen, dass oft Leute von der Fabrik kamen und das eine oder das andere mitnahmen. Ich bin bereit, das jederzeit überall zu bestätigen."

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