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„Was ist? Träume ich?" Furukawa erwachte und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er war allein. Aber etwas im Zimmer hatte sich verändert. Ikenobes Tisch fehlte wahrscheinlich war Schinitschi ausgezogen, um den Kranken nicht zu stören.
Die Freunde hatten der Reihe nach bei ihm gewacht. Er war sicher, auch Jamanaka Hatsue gesehen zu haben. Ihre Hände, die aus den weiten Ärmeln mit dem purpurroten Futter hervorkamen, bewegten sich lautlos über seinem Kopf, während sie den Eisbeutel zurechtrückten. Er vermochte ihr Gesicht durch den Nebelschleier, der alles ringsum verhüllte, nicht zu erkennen, aber er erinnerte sich deutlich an den Duft ihres Haares, als sie sich über ihn beugte.
Im Augenblick war niemand im Zimmer. Der Beutel mit dem zerschmolzenen Eis war heruntergerutscht und baumelte an einer Schnur, die an dem kleinen Holztischchen neben dem Bett befestigt war. Goldgelbe Lichtstrahlen drangen von außen herein und zitterten an der Decke - war es Morgen oder Abend?
Schiro schloss die Augen. Liebes! dachte er unbefangen wie ein Kind.
Als sein Zustand ernst und sogar bedrohlich geworden war, hatte er nicht an den Tod gedacht. Er empfand nur den Wunsch, einen Freund zu finden, die Zärtlichkeit eines Menschen zu spüren. Und Trauer, Trauer darüber, dass er in der ganzen Welt keinen einzigen Menschen hatte, der ihm nahestand, erfüllte sein Herz.
Wie müde er war! Sein Körper erschien ihm leicht, ohne jedes Gewicht; er glaubte, in einem endlosen Ozean von Müdigkeit zu schwimmen. Nein, das habe ich sicherlich nur geträumt. Weshalb sollte sie hierherkommen? überlegte Furukawa, fand sich damit ab und sank wieder in tiefen Schlaf.
Zwei Tage und drei Nächte hatte er ununterbrochen im Fieber gelegen und jedes Zeitgefühl verloren. Und wie es immer bei Schwerkranken der Fall ist, gelang es ihm nicht, in den kurzen Augenblicken, in denen das Bewusstsein zurückkehrte, seine Gedanken zu sammeln. Schlummerte er aber ein, so quälten ihn wieder wirre Traumbilder. Dauernd hat er Streit mit dem Direktor.
„Steig auf diesen Berg!" befiehlt der Direktor auf Englisch.
Schiro tut es. Die Luft geht ihm aus. Es ist heiß. Er ist wie mit Feuer übergossen. Auf seinem Rücken hängt ein Gewehr. Er umklammert mit beiden Händen die Griffe der Tragbahre. Er ist im Kampfgebiet bei Manila...
„Siehst du es?" schreit der Direktor. Sie stehen auf dem Gipfel eines himmelhohen Berges.
„Ich sehe nichts."
„Wie kannst du es denn nicht sehen? Da, über deinem Kopf!"
Schiro hebt die Augen und erblickt ein amerikanisches Flugzeug, das, aus allen Bordwaffen feuernd, im Sturzflug niedergeht. Schiro weiß nicht, wohin er sich verkriechen soll, und rennt hin und her. Jetzt strauchelt er, stürzt den Abhang hinunter, dem Meer entgegen, wird von einem Luftstrom gepackt und bleibt schwebend in der Luft hängen wie ein welkes Blatt.
Er will aus Leibeskräften schreien, aber es gelingt ihm nicht, die Lippen zu öffnen...
Jamanaka Hatsue schob behutsam die Schoji auf und trat ins Zimmer. Sie brachte einen Eisbeutel und ein trockenes Handtuch und setzte sich ans Kopfende des Bettes. Als sie den alten Eisbeutel weggenommen hatte, in dem das Eis schon ganz zerschmolzen war, berührte sie vorsichtig mit der Hand die Stirn des Kranken.
Mit angehaltenem Atem lauschte sie eine Weile. Dann legte sie ihm ganz sanft, um ihn nicht zu wecken, das Handtuch und den neuen Eisbeutel auf die Stirn.
Sie war von der Arbeit gekommen und trug noch ihren Arbeitskittel. Lautlos bewegte sie sich hin und her und räumte auf. Dann kniete sie auf der Türschwelle nieder und betrachtete den Schlafenden. Schließlich erhob sie sich und ging leise hinaus.
Zehn Tage später konnte Schiro sich schon im Bett aufsetzen. Er war fast fieberfrei, aber noch sehr schwach. Er kam sich wie zerschlagen vor.
Es war ein heißer Sommertag, und blendende Sonnenstrahlen drangen durch die Schoji ins Zimmer.
Regulierung der Produktion? Rückführung der Fabrik?
Schiro hatte die Augen zugekniffen und grübelte über die Neuigkeiten nach, die ihm Nakatanis Frau berichtet hatte, als sie das Mittagessen brachte. Welches Datum haben wir eigentlich heute? Mitunter schien es ihm, als wäre ein ganzes Jahr verstrichen, seit er nach dem Streit mit dem Direktor heimgegangen war und sich sofort mit Fieber zu Bett gelegt hatte. Dann wieder kam es ihm vor, als wäre das alles vor ganz kurzer Zeit, vor ein paar Stunden vielleicht, geschehen.
Das Zimmer war fast leer; man hatte die meisten Sachen hinausgeschafft...
Halt - was sagte sie? Araki und Kassawara sind nach Tokio zur Konferenz des „Vereinigten Stabes" gefahren. Auch Direktor Sagara ist in Tokio gewesen. Und dann noch etwas: Bald würde im Werk Kawasoi die Anordnung über die Produktionsregulierung ausgehängt werden; deshalb hatten Ikenobe und Nakatani sehr viel zu tun — die Gewerkschaft bereitete Gegenmaßnahmen vor.
Rückführung der Fabrik? Das wäre doch ein Unglück!
Dieser Gedanke drang mit der Langsamkeit einer Zeitlupenaufnahme in Schiros Bewusstsein. Als er aber endlich begriffen hatte, was geschehen war, begann sein Kopf angestrengt zu arbeiten.
Er erinnerte sich an das, was er in den zwei Wochen als Sekretär des Direktors erfahren hatte. Die amerikanische Zeitschrift mit dem himmelblauen Umschlag... Der Vorschlag des Direktors... Alles das waren Glieder einer Kette. Es gab feindliche Kräfte in der Welt, die allen Ländern die Schlinge um den Hals zu werfen versuchten! Im Augenblick drohte diese Schlinge Schiro und seine Freunde zu erwürgen. „Wer ist da?" fragte er heiser flüsternd, als er Schritte auf dem Korridor vernahm.
„Wir sind es", antwortete Jamanaka Kiku und kicherte verlegen.
Dann ertönte Rens helle Stimme: „Wir wollten Sie besuchen. Oder stören wir?"
Schiro rutschte schleunigst unter die Decke. Die Mädchen schoben die Schoji auseinander, traten ein und setzten sich neben das Bett. Das ganze Zimmer war auf einmal wie verwandelt.
„Das haben wir gekauft, alle zusammen... Bitte schön!"
Oikawa Mitsu streckte ihm linkisch wie ein Schulmädchen ein umfangreiches, in Zeitungspapier eingewickeltes Paket entgegen. Ein Säckchen mit Reis fiel heraus, ein paar Eier und Mandarinen rollten hinterdrein. Das kam den Mädchen komisch vor, und sie kicherten wieder.
„Es ist schön, dass das Fieber so rasch gesunken ist, nicht wahr?" begann Kiku und blickte Hatsue an. „Aber was meinen Sie, was in der Fabrik los ist! Schlimm ist das!" fügte sie mit ernster Miene hinzu.
Schiro kratzte sich hinter dem Ohr und schaute das Päckchen an. Kikus Worte schienen eine Bresche in einen Damm geschlagen zu haben; denn alle begannen auf einmal zu reden: „Unter Rückführung stellt sich jeder was anderes vor..." - „In der Fabrik arbeiten zu viel Frauen, behaupten sie. Furukawakun soll übrigens der gleichen Meinung sein!"
„Hach!" Schiro starrte blinzelnd die Schoji an. „Da hat man sich gerade aus dieser Krankheit aufgerappelt, und schon geht alles durcheinander. Rückführung..."
„Aber es gibt auch welche, die nicht entlassen werden", fuhr Kiku hastig fort. „Bei Ihnen, Furukawasan, weiß man noch nicht genau, ob Sie rückgeführt werden oder nicht. Nun, Rückführung wäre dasselbe wie Entlassung. Manche, zum Beispiel Onoki, Ikenobe und Inoue, freuen sich, dass sie wieder nach Tokio kommen. Sie sind ja in Tokio zu Hause."
„Wie?" Furukawa begriff noch immer nicht, was Kiku meinte.
„Na ja, wenn es anständige Leute sind, dann sollen sie es meinethalben besser haben. Die hier" - Kiku stieß Kassuga Schinobu an - „ist aus der Fabrik im Stadtteil Janagi. Natürlich ist sie begeistert." Schinobu betrachtete angelegentlich die Bastmatten auf dem Fußboden und sagte kein Wort.
„Hatsue gehört zum Werk Schisuoka, folglich wird sie entlassen; denn eine Frau kann nicht allein in einem fremden Ort leben, wo es kein Gemeinschaftsheim gibt. Nicht wahr, Hatsuetjan?"
Hatsue hob lächelnd den Kopf und nestelte an der Schnur ihres Haori.
„Dagegen muss man doch protestieren!" Furukawa sah Hatsue an, wandte aber den Blick sofort wieder ab, als wäre er erschrocken. Die schweigsame, lächelnde Hatsue mit den großen, strahlenden Augen und den Grübchen in den Wangen erschien ihm heute besonders schön.
„Ganz recht. Aber das ist leichter gesagt als getan", mischte sich Ren ein und erzählte alles der Reihe nach: Die kranken und schwangeren Frauen galten als beurlaubt. Die meisten anderen Arbeiterinnen hätten mit ihrer Entlassung zu rechnen, da es nicht üblich wäre, dass junge Mädchen allein in einer fremden Stadt wohnten. Einige aber nahmen die Gelegenheit, nach Tokio zu gelangen, gern wahr und sagten nichts gegen die Rückführung.
„Damit rechnet die Company offenbar. Takenoutschi und Tschidschiwa treten zwar gegen eine Drosselung der Produktion und gegen die Entlassungen auf, behaupten aber, dass es sehr schwierig sei, gegen den Rückführungsplan im Ganzen zu protestieren. Das ist der Grund dafür, dass das Gewerkschaftskomitee noch nicht zu einem Beschluss gekommen ist und keinen festen Standpunkt in dieser Frage einnimmt."
„Und was meinen Arakisan und Nakatanisan dazu?"
„Aus der Verwaltung werden nur wenige zurückgeschickt, aber Arakisan wird dabei sein, soviel ich weiß", sagte Ren mit gedämpfter Stimme. Da sie in der Fabrikverwaltung arbeitete, wusste sie besser Bescheid als die andern Mädchen.
„Ist die Verfügung schon veröffentlicht?"
„Nein, noch nicht. Vorläufig streitet man noch mit dem ,Vereinigten Stab'. Die Entscheidung wird Mitte Juni erwartet. Aber wenn die Meinungen der einzelnen Gewerkschaftsorganisationen geteilt sind, dann kann auch der ,Vereinigte Stab' nichts erreichen." Schiro schwieg nachdenklich.
Das war doch eine Katastrophe! Wenn das so weiterging, dann würde die Gewerkschaft auseinanderfallen! „Und Ikenobe, dieser Kerl, freut sich wahrscheinlich?"
Ren zuckte mit den Schultern und schüttelte den
Kopf. „Ich weiß nicht." Das Gespräch hatte Schiro ermüdet. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke empor. Im Grunde glaubte er nicht, dass sich Ikenobe freute, aber Schinitschi lebte schon solange hier in den Bergen, fern von seiner Familie... Ebenso ging es vielen anderen kein Wunder also, dass sie gegen die Rückführung nichts einzuwenden hatten.
Das hatten sich alles diese Halunken vom Vorstand der Company ausgedacht. Diese Teufel!
Schiro drehte sich auf die Seite, und die Mädchen gingen leise hinaus. Es wurde still im Zimmer, und Schiro schlummerte ein. Ein Geräusch weckte ihn. Als er die Augen öffnete, erblickte er Hatsue, die mit hochgekrempelten Ärmeln in einer Ecke des Zimmers stand und irgendetwas zusammenpackte. Das Blut schoss Schiro in die Wangen.
„Hatsuesan!" hauchte er; doch sie hörte es nicht und arbeitete mit raschen, geschickten Bewegungen weiter; Schiro wagte kaum zu atmen.
Plötzlich füllten sich seine Augen mit Tränen.
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