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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Wegen Strommangels stand wieder ein arbeitsfreier Tag bevor, der erste in diesem Monat. Ren, Hatsue und einige andere Mädchen kehrten laut schwatzend von den Arbeiterkursen in ihr Zimmer elf im Heim drei zurück.
„Guten Abend! Willkommen daheim!" grüßte Tojoda Schige nach altem Brauch und verneigte sich tief. Sie hatte allein bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, einer Näharbeit, gesessen. „Guten Abend!" Hatsue, Mitsu, Schinobu und Kiku verbeugten sich ebenfalls. Nur Ren blieb hochaufgerichtet stehen. Sie hielt diese Zeremonie für ein Überbleibsel des Feudalismus, und überdies ärgerte sie sich, dass Schige als einzige aus ihrem Zimmer die Arbeiterkurse nicht besuchte.
„Na, Oikawasan, komm, ich erkläre dir diesen Abschnitt, komm her!" forderte Ren Oikawa Mitsu auf und setzte sich auf ihren Platz. Hinter ihr standen ein Lederkoffer, eine Bücherkiste und ihr kleiner Toilettentisch mit dem Spiegel.
„Ich komme gleich, einen Augenblick." Die immer hungrige Mitsu ging in eine Nische unter dem Fenster, schöpfte eine Kelle Wasser aus dem Eimer und trank.
„Kassugasan, und du?"
Schinobu und Kiku hatten sich aufs Fensterbrett geschwungen, baumelten mit den Beinen und trommelten mit den Fersen gegen die Bretterwand. Sie antworteten nicht.
„Eigentlich könnte man ins Kino gehen", sagte Schinobu. Draußen begann es zu dämmern.
„Die Keimform - das ist der Uranfang jeder Erscheinung...", begann Ren.
Hatsue nahm ihr Heft und schrieb mit. Ren hatte Notizblock und Buch auf den Knien ausgebreitet und hörte gereizt das gedämpfte Lachen und Flüstern Schinobus und Kikus. Sie sprach weiter; doch plötzlich hob sie den Kopf und wandte sich ärgerlich um. „Seid doch endlich still!"
Schinobu und Kiku zogen die Köpfe zwischen die Schultern, aber gleich darauf fingen sie wieder an zu kichern.
„Bewusstes Wachsen... Erkläre das, bitte." „Wie die kommandiert", sagte Kiku halblaut zu Schinobu.
Seit Ren hier eingezogen war, schien es den Mädchen, als wäre es auf einmal zu eng im Zimmer geworden. Vom ersten Tage an hatte es sich ergeben, dass Ren das große Wort führte. Man konnte nicht behaupten, dass die Zimmerälteste Hatsue die Neue den andern vorzog; aber Ren schien trotzdem eine Sonderstellung einzunehmen. Obgleich Ren niemals zur Bürste oder zum Lappen griff, um die Toilette zu reinigen - eine Arbeit, die alle der Reihe nach tun mussten -, regte sich keine auf.
Selbst Kiku wagte nicht, Ren etwas zu sagen. Und sie wusste, weshalb sie das nicht tat. Ihre Eltern hatten Land von Rens Bruder gepachtet; außerdem hing alles - die Arbeit ihres Vaters im Walde, die kleinen Handreichungen im Gutshaus und die andern Nebenverdienste, die sich von Zeit zu Zeit ergaben - von der Gnade der Familie Torisawa ab. Hatsue wie Kiku waren in der gleichen Lage. Deshalb waren sie Ren gegenüber sehr vorsichtig.
„Einen Kohldampf habe ich!" sagte Schinobu laut und schnitt eine närrische Grimasse. Sie gebrauchte absichtlich grobe Ausdrücke.
Schige, die immer noch nähte, Mitsu und sogar Hatsue lachten. „Schlafen! Schlafen! Lasst uns bald zu Bett gehen!" Die Mädchen wollten den bevorstehenden freien Tag benutzen, um nach Torisawa zu fahren, wo sie ihre Tabakrationen und einige andere Dinge gegen Reis und Mehl eintauschen wollten. Es war ein weiter Weg, und sie mussten früh aufstehen.
Kassuga Schinobu schob die Schoji auseinander und holte einen Besen aus dem Korridor. „Na, lasst mich mal auskehren! Fort mit euch!"
Sie sah nichts Besonderes in Torisawa Ren, außer, dass sie das College besucht hatte und hübscher war als sie.
Sie begann so energisch zu fegen, dass die Mädchen in eine dichte Staubwolke gehüllt wurden. Hatsue und Mitsu sprangen lachend beiseite. Hatsue, die größte und kräftigste von allen, bewegte sich leicht und behände. Mit lustigem Gekreisch stürzten alle in die andere Ecke des Zimmers, nur Ren blieb unbeweglich sitzen. „Was habt ihr da eben geredet?" Trotz ihrer Zartheit lag in der ganzen Haltung Rens etwas Gebieterisches, das Hatsue nicht hatte. „Wir? Och, nichts. Wirklich nichts", flüsterte Kiku und versteckte sich hinter Schinobus Rücken. „Doch, ich habe es gehört. Du hast gesagt: ,Wie die kommandiert!'" entgegnete Ren, ohne den Kopf zu heben.
Kassuga Schinobu blickte Ren einige Sekunden lang scharf an; dann holte sie mit dem Besen aus und hüllte sie von Kopf bis Fuß in eine Staubwolke.
„Dein Brummen und Zanken hören wir uns nachher an. Es lohnt nicht, sich wegen Lappalien zu erhitzen. Na komm, erhebe dich, ich muss fegen."
Ren stieg langsam das Blut zu Kopf. „Sag das noch mal, bitte!"
Sie hatte sich halb zu Schinobu umgedreht, blieb aber gerade aufgerichtet sitzen. „Jetzt habe ich es aber satt! Dauernd alles wiederholen! Ich habe gesagt, dass man sich nicht wegen
Lappalien erhitzen soll... Steh lieber auf, damit ich auskehren kann", gab Schinobu bissig zurück. Sie war ein nervöses Mädchen und neigte zur Hysterie. „Was spielst du dich überhaupt als gnädiges Fräulein auf? Wenn dich der Hafer sticht, dann mach lieber mal die Toilette sauber!"
Ren wurde bleich; ihre Hände verkrampften sich in ihrem Rock.
Eine solche Beleidigung hatte man ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht zugefügt.
„Du... du..." Die Wut nahm ihr den Atem. Alles Blut schoss ihr in den Kopf; sie war nicht mehr imstande, zusammenhängend zu reden, verlor ihre Selbstbeherrschung und stieß hervor, was ihr gerade einfiel: „Lumpen... Lumpenproletarierin... Was man ihr auch einzupauken sucht, vom Kampf, von praktischer Erfahrung - alles vergebens. So etwas ist und bleibt eine Hure!"
Das war ein entsetzliches Wort. Hatsue und die anderen erstarrten. Schinobu aber holte mit dem Besen aus.
„Lasst mich! Lasst mich!" schrie sie, als sie ihr den Besen entreißen wollten. Sie wehrte sich so verzweifelt, dass selbst die kräftige Hatsue kaum mit ihr fertig wurde. „Was hat sie gesagt? Was hat sie?... Lasst mich!"
Mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete Ren, wie die Mädchen, einander drängend und stoßend, Schinobu den Besen aus der Hand zu winden suchten.
Ren war seit ihrer Kindheit niemals beleidigt worden, und sie dachte nicht darüber nach, ob ein Wort, das sie aussprach, einen anderen verletzte. Die Kränkung aber, die man ihr selbst zugefügt hatte, war so schmerzhaft, dass sie ihre Ruhe nur mit Mühe bewahren konnte.
„Ich schlage sie tot, das Mistvieh!" schrie Schinobu unter Tränen. „Was quatscht sie hier von bewusstem Wachstum? Dabei kann sie nichts als kommandieren, aber Plakate kleben - das hat sie wahrscheinlich noch nie gemacht! Nicht ein einziges Mal ist sie mit den anderen in die Stadt gegangen! Lasst mich!"
Sie riss sich los und stürzte auf Ren zu. Ihr wirres Haar, von dem die Baskenmütze heruntergerutscht war, berührte beinahe das Gesicht ihrer Gegnerin.
„Alle sagen es, Kikutjan und Mitsutjan! Wenn dich der Hafer sticht, dann erhebe dich und wisch wenigstens mal Staub. Und wenn es dir nicht passt, dann pack deine Sachen und mach, dass du fortkommst!"
Das war zu viel. Rens bleiche Wangen zuckten, ihre Mundwinkel zogen sich nach unten, sie wandte sich brüsk ab und sank mit dem Gesicht auf die Bastmatte.

Ren weinte die ganze Nacht hindurch.
Sie hatte niemals laut geweint, auch jetzt schluchzte sie nur leise, und wenn es zu schlimm wurde, dann biss sie in den Saum ihrer Decke. Von Zeit zu Zeit schien sie sich zu beruhigen; doch gleich darauf stieg es ihr wieder heiß in die Kehle, und sie suchte das Schluchzen zu ersticken, indem sie den Kopf in die Kissen vergrub. Halbdunkel herrschte im Zimmer. Der schwache Schein der Korridorlampe fiel durch die Schoji. Die kostbare Decke Rens stach als heller Fleck gegen die der andern ab.
„Kann ich denn noch hierbleiben?" flüsterte Ren fortwährend. Plötzlich erkannte sie, dass sich kein Mensch darum kümmerte. Warum war sie eigentlich hier?
Rechts von ihr schlief unter einer rauen Decke aus dunklem Baumwollgewebe Oikawa Mitsu mit offenem Munde. Links stand Schinobus Bett, zwischen ihnen lag Jamanaka Hatsue. Sie schlief ruhig und friedlich, die runde Wange ins Kissen geschmiegt. Tu, was du für richtig hältst, schien ihr Gesicht zu sagen.
Aaa... Ikenobesan! Ren biss in die Decke und war nahe daran, laut loszuheulen. Sie kam sich einsam und verlassen vor.
Niemand hielt hier ihre Anwesenheit für notwendig. Ob sie ging oder blieb - die Gewerkschaft im Werk Kawasoi würde weiterkämpfen wie bisher, die Arbeiterklasse würde immer stärker werden...
Das Leben im Gemeinschaftsheim fiel Ren nicht leicht; aber sie war eigensinnig und hatte sich in diesen vier Wochen alle Mühe gegeben, sich an die Verpflegung in der Fabrikkantine und an das Zusammenleben mit den einfachen Menschen zu gewöhnen.
Schinitschisan! schrie sie in Gedanken. Sie wünschte, sie könnte sich jetzt an ihn schmiegen und von ihm bemitleiden lassen. War auch die eine Stütze, das Kollektiv, zusammengebrochen, so blieb ihr noch eine andere - Schinitschi. Nein, das stimmte ja gar nicht! Ren schrak zusammen und starrte mit weitaufgerissenen Augen in die Finsternis. Sie war doch durch Komatsu entehrt!
Er hatte sie zwar nur ein einziges Mal geküsst, aber seitdem vermochte Ren Schinitschi nicht mehr in die Augen zu sehen. Unbewusst war sie ihm ausgewichen.
Vor dem unverhängten Fenster wurde es hell. Angenommen, sie ginge nach Hause zurück - was erwartete sie dort? Ihr Bruder machte sich Sorgen, dass man ihm das Land enteignete oder Eigentumssteuer erhob. Das alte Geschlecht der Torisawa zerfiel.
Oikawa Mitsu erwachte, schob die Hände unter den Kopf, reckte sich und gähnte. „Kikutjan! Schinobutjan! Aufstehen!"
Ren stellte sich schlafend und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Der leichte Morgenwind kühlte ihre verweinten Wangen. Alles erschien ihr jetzt so unsinnig, so nutzlos. Sie war allein.

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