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Als der Krieg mit Amerika begann, stieg die Zahl der Arbeiter in der Fabrik rasch an. Bei Kriegsende arbeiteten hier nicht weniger als anderthalbtausend Menschen.
Zwei Drittel davon waren Frauen.
Im Laufe des Krieges hatte sich die Zusammensetzung der Belegschaft stark verändert. Das merkte man schon, wenn man sich die Menschen anschaute, die auf dem Fabrikhof standen.
Da waren die Dienstverpflichteten - Studenten und Mitglieder der Jugendorganisationen - und Bauern, für die dieses Arbeitsverhältnis doch nur vorübergehend bestand. Sie alle machten sich weiter keine Sorgen um das Schicksal der Fabrik. Aber man traf auch solche, denen es schwerfiel, die Fabrik zu verlassen: Arbeiter aus Tokio, die den Stamm bildeten, und Frauen, die schon in der früheren Seidenspinnerei beschäftigt gewesen waren.
In den Rundfunkkommentaren zur Rede des Kaisers wurde unterstrichen, dass die staatliche Ordnung Japans unverändert bleiben werde. Das Potsdamer Abkommen wurde erwähnt, aber nicht erläutert und dem Volke verständlich gemacht. Die Menschen prägten sich nur das schwere ausländische Wort „Potsdam" ein, das sie kaum aussprechen konnten.
„Seht mal, da ist ja Torisawasan!" rief eine aus der Gruppe der jüngeren Mädchen, die noch Zöpfe trugen, mit einer Miene, als wäre das etwas ganz Besonderes, und alle winkten mit den Händen und schrien: „Torisawasan! Torisawasaaan!"
Ein Mädchen mit der Armbinde der „Freiwilligen"-Abteilung drängte sich zu ihren Freundinnen durch.
„Hast du schon dein Geld bekommen? Warum fährst du nicht nach Hause?" fragten alle durcheinander.
„Ich fahre nachher." Torisawa Ren (Anm.: Im Japanischen steht der Familienname vor dem Vornamen.) sah die Mädchen lächelnd an.
„Habt ihr Jamanaka Hatsue aus der Montageabteilung nicht gesehen?" fragte sie.
Die Mädchen schüttelten die Köpfe. Jamanaka Hatsue wohnte im Fabrikheim, und sie kamen nur selten mit ihr zusammen.
„Sag mal, Torisawasan, ist es wirklich wahr, was alle erzählen?" wollte die Sommersprossige wissen und trat näher an Ren heran.
Alle waren gespannt, was Ren antworten würde. Durch ihre weite Jacke und die karierten Hosen stach sie gegen die anderen Mädchen ab. „Eine von uns hat schon gesagt, sie will sich das Leben nehmen."
Ren blickte über die Köpfe der andern hinweg. In ihren schönen, dunklen Augen tanzten winzige goldgelbe Funken. „Ich glaube diesen Gerüchten nicht!"
Die Mädchen atmeten erleichtert auf. Aus Rens Zügen sprach so viel feste Überzeugung, dass keine fragte, warum sie auf das Geschwätz nichts gab.
„Ich möchte mit Hatsue zusammen nach Hause fahren. Wenn ihr sie trefft, dann sagt ihr doch, dass ich sie suche", bat Torisawa Ren.
Die Mädchen wunderten sich nicht über diese Bitte, obgleich Torisawa Ren und Jamanaka Hatsue nur wenig miteinander gemein hatten.
Ren war die Tochter eines Gutsbesitzers. Sie hatte das College besucht und arbeitete erst seit einem Jahr als Angehörige der „Freiwilligen"-Abteilung in der Fabrik. Jamanaka Hatsue dagegen war nur bis zur sechsten Klasse der Dorfschule gekommen und hatte bereits in Kawasoi gearbeitet, als hier noch Seide gesponnen wurde. Beide Mädchen stammten aus demselben Dorf Torisawa und wohnten im Gemeinschaftsheim - Hatsue in der Unterkunft für einfache Arbeiterinnen und Ren in den besonderen Räumen für Mädchen aus „besseren Kreisen". Ren hätte nicht unbedingt hier wohnen müssen, sie tat es nur, weil der Weg nach Torisawa weiter war als nach den anderen Dörfern.
Rens Behauptung, sie suche Jamanaka Hatsue, um mit ihr nach Hause zu fahren, war eine Ausrede gewesen. Sie musterte die Leute, die in der Schlange standen, ging ins Kontor, kam wieder auf den Hof und blickte verstohlen zu dem kleinen, blauen Ambulatoriumsgebäude hinüber, wo der Wind ab und zu den Verdunkelungsvorhang am Fenster hoch wehte.
Ich darf ihn jetzt nicht verpassen, sonst sehen wir uns vielleicht niemals wieder, dachte sie.
In der Krankenstube gewahrte sie die schlanke, zarte Gestalt eines Mannes von etwa fünfunddreißig Jahren, der an einem Tische saß und Papiere ordnete, die darauf lagen. Es war Nakatani Sussumu, der Obermeister der Versuchsabteilung. Ren lief die leere Galerie entlang, wo die verwaiste Kontrolluhr stand, und holte tief Atem. Ihre Wangen glühten, der Brief an ihrer Brust brannte wie Feuer.
Ehe ich mich entschlossen habe, reist er ab und erfährt nie, was ich auf dem Herzen habe...
Sie tat, als betrachtete sie den Kasten mit den Kontrollkärtchen, biss sich auf die Lippen und starrte die vom Regen feuchte Bretterverschalung der Wand an.
Was wird er zu dem Brief sagen? Vielleicht nimmt er ihn sogar übel? Nein, das kann nicht sein! Bisher war er doch immer sehr nett zu mir... Als sie sich schon wieder bei diesem Gedanken ertappte, wurde sie wütend über sich selbst. Warum bin ich bloß so schüchtern? Er ist doch schließlich nur ein einfacher Arbeiter! Leute mit abgeschlossenem Studium haben um mich geworben. Ich brauche wahrhaftig keine Hemmungen zu haben. Außerdem - was ist dabei, dass
Nakatani jetzt in seinem Zimmer sitzt? Ich gehe trotzdem hin!
Nakatani war nicht mehr zu sehen. Hinter dem Vorhang, den der Wind blähte, lugte nur ein Stück der Bettstelle hervor.
Ren verließ eilig die Galerie und huschte die Treppe zur Krankenstation hinauf. Die Tür stand weit offen, und im Vorzimmer lagen Sori (Anm.: Geflochtene Sandalen aus Stroh oder Bambusrohr.) mit roten Schnüren umher.
„Darf ich eintreten?"
Sie merkte, wie ihre. Stimme zitterte, und ärgerte sich darüber. Obgleich niemand sie sehen konnte, versuchte sie zu lächeln.
„Darf ich eintreten, Ikenobesan?" wiederholte sie. Ihre Stimme klang auf einmal weich und voll, ganz anders als vorher. |
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