Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
http://nemesis.marxists.org

30

Alles um ihn schwankt sonderbar.
Da, jetzt bremst der Jeep und schleudert zur Seite. Das Kreischen der Bremsen klingt Schiro noch in den Ohren. Er öffnet die Augen und erblickt die Zimmerdecke dicht über seinem Kopf. Fenster sieht er nicht; doch von irgendwoher dringt Licht herein, in den schrägen Sonnenstrahlen tanzen Staubkörnchen. Das Kreischen kommt von unten. Es ist eine elektrische Säge: Im Erdgeschoß wird Holz gesägt.
Langsam wurde Schiro bewusst, dass er sich im Dachgeschoß einer Tischlerei befand.
Er blinzelte, kniff die Augen aber sofort wieder zu. Neben seinem Lager hantierte eine Frau geräuschvoll mit Geschirr. Sie trug ein Kind auf dem Rücken; dem Aussehen nach war sie wenigstens vierzig Jahre alt. Ihre Wangenknochen traten scharf hervor, die Vorderzähne fehlten; es war dieselbe Frau, die ihn in der Nacht hierhergebracht hatte.
Jetzt war sie nicht gepudert wie am Abend zuvor; aber woher kam das Kind? Bruchstückhaft erwachte in seinem Gedächtnis die Erinnerung an das, was sich ereignet hatte. Anscheinend hatte er tüchtig herum krakeelt... Dunkel entsann er sich, dass die Frau ihm den Mund zuhalten wollte und er ihr in die Hand biss... Eine Nacht... Halt, was war das? Eine Nacht... Jetzt fiel ihm ein, dass die Frau in seinen Taschen gewühlt und ein paar Zehn-Jen-Scheine gefunden hatte. Nun ja, es kostete hundert Jen. Hatte er ihr nicht etwas versprochen? Aber was? „Bist du aufgewacht, mein Lieber?" fragte die Frau, als sie merkte, dass Schiro nicht mehr schlief. Sie sprach einen ländlichen Dialekt.
Schiro stand auf und zog sich an. Sein Kopf war noch immer wie mit Blei gefüllt. „Du siehst nur so mager aus, sonst bist du stark." Eine grobe Hand mit rissiger Haut stellte eine Tasse Tee vor ihm hin. Es war ihm nicht möglich, den Kopf zu heben. Aus dem Augenwinkel betrachtete er die ärmliche Mansarde. Sie war leer, ohne Möbel, nur auf dem Fußboden lagen Bastmatten.
Die Frau setzte einen Kupferkessel auf das Kohlenbecken und schob das Kind auf ihrem Rücken zu Recht. „Also, ich gehe mit dir."
Was bedeutete das? Was hatte er ihr versprochen? Noch immer außerstande, etwas zu begreifen, sah er die Frau misstrauisch an. Ihre kleinen Augen blitzten auf.
„Na, nun stell dich bloß nicht dumm! Ich habe dich nicht zum Vergnügen eingeladen!"
Sie stieg ihm voraus die Treppe hinunter, die so steil r, dass man sich auf ihr den Hals hätte brechen können. Als sie auf der Straße standen, erinnerte sich Schiro endlich an alles. Am Abend zuvor hatte er nicht genug Geld gehabt, und er hatte der Frau versprochen, ihr heute den Rest zu geben.
Sie ging in einigem Abstand hinter ihm und hielt das Kind auf dem Rücken fest. An einer Kreuzung aber holte sie ihn ein. Es war unmöglich, ihr zu entwischen.
Im Fabrikheim herrschte Ruhe - heute war der erste Arbeitstag nach Neujahr. Schiro ging in sein Zimmer und blieb einige Sekunden nachdenklich stehen. Sein letztes Geld hatte er vertrunken. Da bemerkte er Schinitschis Armbanduhr auf dem Tisch. Er griff danach und lief die Treppe hinunter. „Was bekommt man dafür?"
Die Frau führte ihn zum Laden eines Wucherers in einer Seitengasse hinter dem Bahnhof, nahm ihm die Uhr aus der Hand und sagte: „Lieber keinen Skandal..."
Sie betrat den Laden. Als sie wieder herauskam, hielt sie statt Ikenobes Uhr einen Hundert-Jen-Schein in der Hand.
Sie kramte in ihrem Korb und zog die fünfzig Jen hervor, die sie Schiro am Abend aus den Taschen genommen hatte, gab sie ihm und lächelte plötzlich liebenswürdig mit ihrem schwarzen, zahnlosen Mund.
„Komm wieder, mein Lieber!" Er wandte sich ab. Sein Gesicht zuckte, als hätte er einen Schlag erhalten, seine Brauen sanken herab. Eine Weile blieb er unbeweglich stehen und starrte auf den Boden.
Schiro konnte keine Ruhe finden...
Wieder schleppte er sich in die kleine Imbissstuben mit dem Lehmfußboden wie am Tage vorher, trank mehrere Glas Schnaps, wurde berauscht und legte sich mit dem Oberkörper auf den schmierigen Tisch.
Wohin sollte er gehen?
Seit dem gestrigen Abend wurde er von dem Wunsch getrieben, irgendwohin zu laufen. Aber wohin - das wusste er nicht. Jetzt war ihm alles gleich - Dieb oder Räuber, ganz egal... Schwarzhandel und Glücksspiel waren ihm zu läppisch. Er brauchte etwas anderes, etwas, für das er sich ganz einsetzen musste, das ihm helfen würde, ein neues Leben anzufangen, zu seinem wahren „Ich" zurückzufinden, das schon seit seiner Einberufung zur Armee verschüttet war.
Kraftlos sank sein Kopf auf den Tisch. Ab und zu blickte er zur Tür. Draußen heulte der Wind; die Sonnenstrahlen zitterten in den Fensterscheiben. Von Zeit zu Zeit erschienen Gäste am Nebentisch, gingen aber sofort wieder, als hätte sie der Anblick Schiros erschreckt.
Für ihn war alles aus. Er hatte sich sogar das Vertrauen Ikenobes verscherzt, des einzigen Menschen, der ihm nahestand, des einzigen, den er noch hatte. Sein Körper und seine Seele waren beschmutzt. Entzücken,   Erbeben  vor  den  Frauen - nichts  war geblieben... Jenes qualverzerrte Antlitz der Koreanerin an der Scheunenwand! Diese Frau mit der schwarzen Mundhöhle, die ihn anschrie: „Na, nun stell dich bloß nicht so dumm!" „Schenk noch einen ein, Alter!" Die Schoji wurden auseinandergeschoben; der alte Mann mit der Flasche trat langsam ein und goss das Glas voll Reisschnaps. Schiro leerte es in einem Zuge und ließ den Kopf wieder auf die Tischplatte sinken. Er war benebelt, aber betrunken, richtig betrunken wurde er merkwürdigerweise nicht.
Der alte Mann mit der Flasche verschwand und schloss die Schoji hinter sich.
Schiro warf einen Blick durch die Scheibe ins Nebenzimmer; doch die Alte hockte nicht neben dem Herd.
Vielleicht lag sie zu Bett... Das Wetter war schlecht heute...
Wohin ist alles entschwunden?
Er betrachtete die feuchten Flecke, die sich auf der Tapete gebildet hatten. Ihre Form erinnerte an geöffnete kleine Schirme - und wieder stürmten die Erinnerungen auf ihn ein.

Der neue dunkelblaue Kimono mit den weiten Ärmeln! Das war im Januar desselben Jahres, als der Krieg im Stillen Ozean begann... Schiro saß an dem kleinen Esstisch und trug zum ersten Mal den Kimono mit den weiten, unbequemen Ärmeln.
„Was ist daran lächerlich? Du bist doch jetzt erwachsen, ein selbständiger Mensch! Schließlich kannst du nicht dein Leben lang in der kurzen Joppe umherlaufen", sagte die Mutter, die beobachtet hatte, dass er bei jeder Bewegung unruhig auf seine Ärmel sah. Sie hatte ihm gegenüber Platz genommen, ebenfalls festlich gekleidet, mit einem weißen Schal um den Hals. „Kann man sie nicht abschneiden, Mutter?" „Wo denkst du hin? Natürlich nicht. Wie viele Jahre habe ich auf den Tag gewartet, an dem du diesen Kimono anziehen würdest!"
Weite, dunkelblaue Ärmel. Der Mutter Hoffnung und Schiros Träume... Der Kimono war verbrannt... Die Mutter war verbrannt...
Krieg! Was ist das eigentlich - Krieg? Plötzlich erwachten Zweifel in ihm. Dann bedrängten ihn von neuem verworrene, vielfältige Erinnerungen und Gestalten. In seinen Ohren rauschte es. Die Flecke auf der Tapete ähnelten nun nicht mehr kleinen Schirmen, und alles verschwand. Eine Wange in die Hand gestützt, stierte er lange mit leeren Augen die verglaste Tür an, auf der die Strahlen der Abendsonne tanzten. Dann schrak er zusammen und hob den Kopf. Die Tür öffnete sich mit leisem Klirren einen Spalt weit, und Ikenobe Schinitschi steckte den Kopf herein. Er kommt sicher wegen der Uhr, dachte Schiro. Er starrte Ikenobe böse an und beugte den ganzen Körper so heftig zurück, dass er beinahe von dem runden Schemel heruntergefallen wäre.
„Ich habe sie nicht... Hier!" Er kramte in der Tasche, zog den Pfandschein heraus und warf ihn Schinitschi vor die Füße. Dann versuchte er aufzustehen, torkelte und plumpste zu Boden.
„Wo warst du gestern Abend?" fragte Ikenobe.
Schiro machte verzweifelte Anstrengungen, wieder hochzukommen; er wollte nicht, dass sein Freund ihn anfasste. Endlich schob er sich mit Mühe, über und über beschmutzt, auf den Schemel und ließ den Kopf auf den Tisch sinken.
„Geht dich gar nichts an", murmelte er. Eine Weile blieb Ikenobe mit über der Brust verschränkten Armen schweigend hinter ihm stehen. Schiro hatte keine Mütze bei sich, wahrscheinlich hatte er sie verloren. Der Schmutz auf seinem Rücken begann einzutrocknen.
„Komm mit nach Hause. Du musst mal ordentlich ausschlafen. Es ist nicht gut, wenn du so viel trinkst."
Da fegte Schiro Gläser und Teller vom Tisch und fing an zu toben. Ein heftiger Stoß mit dem Ellbogen schleuderte Ikenobe gegen die Bretterwand.
„Furukawa!" Mit einem Ruck stand Schiro auf. Er schwankte zur Tür und blieb wie erstarrt stehen: Vor ihm stand Araki, in warmer Jacke, ein Handtuch über dem Arm.
Wie immer nach Neujahr, hatte der Arbeitstag Mittag geendet, und Araki war nach Kami-Suwa gefahren, um zu baden. „Na, du, nicht so hitzig! Schluss mit dem Unfug!" Sekundenlang starrte Schiro, die Unterlippe vorgeschoben, Araki an, dann drehte er sich brüsk zur Wand um.
„Du bist nicht der einzige, der im Kriege war", sagte Araki scharf und setzte sich auf den Schemel. „Das heißt natürlich nicht, dass du alles schweigend ertragen sollst, aber solche blödsinnigen Ausfälle..."
Schiro stand leicht schwankend da, das Gesicht der Wand zugekehrt.
„Wer einen Kopf auf den Schultern hat, der versucht, sich über das klarzuwerden, was geschehen ist; der versucht zu verstehen, warum es überhaupt Kriege gibt. Weißt du noch, was der Kaiser in seinem Manifest zur Kriegserklärung verkündet hat und was er gesagt hat, als der Krieg aus war? Das eine lässt sich nicht mit dem andern vereinbaren. Darüber denken die Menschen jetzt nach. Aber sie besaufen sich nicht und benehmen sich nicht wie Rowdys."
Furukawa Schiro stierte wütend die Wand an; doch jedesmal, wenn Arakis Worte ihn trafen, zuckte sein Gesicht krampfhaft.
„Wie kannst du nur solche Dummheiten machen", fuhr Araki fort. „Der Krieg hat nicht dir allein Kummer gebracht." Schiro lehnte sich gegen die Wand, als fürchtete er zu fallen. Plötzlich schien etwas in ihm aufzubrechen, und bittere Tränen stürzten ihm aus den Augen. „Mutter, Mutter", schluchzte er, am ganzen Körper zitternd.
So hatte er damals, in der fernen Zeit seiner Kindheit, an der Schwelle des Häuschens in Fukagawa, geweint und nach seiner Mutter gerufen...

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur