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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Die Sirene verkündete das Ende der Pause, und alle kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück. Die Lampen strahlten auf, und das Fließband begann wieder, gleichmäßig zu rattern.
„Liebes, zaaartes Blümelein..." „Halt! Die Schraube hier hat keinen Kopfschlitz!" „Blümlein auf dem Feld!"
„Zum Teufel! Wieder kein Schlitz!" In Abständen von zwei Metern saßen die Mädchen am Fließband, unter ihnen auch Tojoda Schige. Sie zogen die Schrauben an den Gehäusen fest, und neben ihnen summten wie Hummeln die automatischen Schraubenzieher, die von der Decke herabhingen. Seitdem die Arbeiterinnen den Kampf um die Produktionskontrolle aufgenommen hatten, machten sie sich Gedanken über die Steigerung der Produktivität. Tags zuvor hatte die Fabrikverwaltung die Arbeiterinnen unter allen möglichen Vorwänden zu einem Stillstand von zwei Stunden gezwungen. Die Metallgehäuse, die von der Lackiererei geliefert wurden, waren längst in Okaja eingetroffen, aber die Fabrikverwaltung schickte keine Lastwagen, um sie holen zu lassen.
„...Lieiebes zaaartes Blümelein" Auch die schweigsame Hatsue stimmte in den Gesang ein, aber so leise, dass man sie fast nicht hörte. Es kam selten vor, dass sie sich am Singen beteiligte. Im Geiste sah sie Furukawa in seinem verblichenen Hemd mit den ausgefransten Ärmelaufschlägen. Wie gern hätte sie ihm ganz rasch, ohne dass es jemand merkte, das Hemd geflickt!
„Puuurpurroote Liippen..."
Auf einmal merkte Hatsue, dass immer weniger Spulen zu ihr gelangten. Sie bückte unruhig zum Ende des Fließbandes hinunter; es sah aus, als stände eine der Spulmaschinen still. Gab es etwa wieder keinen Materialnachschub? Hastig griff sie mit der linken Hand nach einer Spule und presste die fadendünnen Drähte in die Steckdose. Der Zeiger des Prüfgerätes beschrieb einen Halbkreis und sprang zwei- oder dreimal zurück.  Mit einem unangenehmen Gefühl drückte Hatsue den Stempel „Ausschuss" auf und warf die Spule in einen Korb neben ihren Füßen. Wenn der Draht nicht in Ordnung war, dann waren die Spulen wertlos.
„Diese Fabrik ist auch so ein Widerspruch", sagte Kassuga Schinobu laut. Sie saß in der Nähe von Hatsue, dort, wo die Spulen den letzten Arbeitsgang durchmachten, das Umwickeln mit Isolierband. „Was ist das überhaupt, eine Fabrik? Ich denke, das ist ein Ort, an dem Waren produziert werden."
„Natürlich! In Tokio ist alles verbrannt, die Leute brauchen Elektrizitätszähler." „Ach so, deshalb verhindert man die Arbeit wohl absichtlich!" „Das verstehen wir bloß nicht." Alle redeten durcheinander. „Ich hasse diese Gewerkschaft!" „Na hör mal, wenn wir etwas hassen müssen, dann die Company! Wahrhaftig, die füttern uns mit Strandkohl und Rettichkraut." „Richtig!"
„Lasst uns singen!" Und eine stimmte etwas unsicher „Höher die rote Fahne..."
„Hoch empor...", fiel Jamanaka Kiku mit ihrer durchdringenden, hohen Stimme ein. „Sie bleibt stehen! Sie steht still!"
Die letzte Spulmaschine war ausgefallen.
Die Mädchen drängten sich um die Maschinen, die sich nicht mehr bewegten. Es war ein laufender Arbeitsvorgang, und wenn eine Stockung eintrat, so blieb das ganze Fließband stehen. „Ich werde mich erkundigen!"
Jamanaka Kiku und einige andere Mädchen liefen zur Treppe. Das Kontor des Obermeisters war leer; Kassawara war nach Tokio gefahren, und Toki Hana hatte in der Verwaltung zu tun. Auf einer Tafel über dem Tisch des Meisters waren die Produktionsziffern der ersten Tageshälfte, bis zur Mittagspause, eingetragen. Es fehlte nicht viel, und die für heute vorgesehene Ziffer wäre erreicht worden.
„Kommt alle hierher!" Oikawa Mitsu tauchte plötzlich an der Treppe auf. Sie schwenkte die Arme und rief die andern zu sich. „Herhören! Es ist genug Draht am Lager, aber weder der Chef der Produktionsabteilung noch der Verwaltungsdirektor ist da. Und der Chef der Allgemeinen Abteilung weigert sich, das Lager öffnen zu lassen!"
„Der will uns wohl zum Narren halten? Los, kommt!" riefen einige, und eine Gruppe von etwa dreißig Arbeiterinnen lief die Treppe hinunter.
Wie ungewöhnlich das alles war! Hatsue fühlte eine merkwürdige Schwerelosigkeit in ihrem ganzen Körper. Bisher hatte sie bei einem Besuch im Büro niemals auch nur für eine Minute vergessen, dass sie verantwortlich war für die Handlungen der Mädchen. Jetzt aber liefen alle zusammen über die Galerie, und jede trug die Verantwortung.
Auf der obersten Treppenstufe vor der Verwaltung stand Komatsu Nobujoschi, den Rücken gegen die Tür gelehnt, eine Zigarette zwischen den Zähnen, die Augen gegen den Rauch zusammengekniffen. Ein Schlüsselbund hing aus seiner Tasche heraus. Vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt, mit mühsam unterdrückter Erregung, stand Toki Hana. Um sie herum tänzelte, die Hände auf dem Rücken, den Kopf zur Seite geneigt, der lächelnde Takenoutschi Tadaitschi.
„Ich bin der Chef der Allgemeinen Abteilung. Die Produktion geht mich nichts an. Woher soll ich wissen, was bei euch los ist? Die Schlüssel kann ich nicht hergeben."
Die Mädchen blieben am Fuße der Treppe stehen. Der anmaßende Gesichtsausdruck Komatsus weckte ihren Hass. Er glaubte doch nicht etwa, dass sie diesen Kupferdraht essen wollten? Die angesehene Stellung, die Komatsusensei seinerzeit in der Seidenspinnerei innehatte, konnte die Mädchen jetzt nicht mehr einschüchtern.
„Geben Sie den Draht heraus!" rief eine und kicherte. Gleich darauf mischten sich ernste Stimmen ein: „Komatsusan ist doch auch Gewerkschaftsmitglied!" „Uns in unserem Kampf zu stören... So eine Gemeinheit!"
Komatsu sah die Mädchen erstaunt an. Das war ja unerhört! Ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, stieg er ein paar Stufen herunter und ließ einen zornigen Blick über die Mädchen gleiten. Er war noch nicht dazu gekommen, etwas zu sagen, als vom Kontrollhäuschen her ein Fahrrad wie ein Pfeil über den Hof schoss, gegen die Bretterwand der Galerie stieß und umkippte.
Torisawa Ren befreite den Saum ihres roten Rockes, der sich an der Lenkstange verfangen hatte. Dann stieß sie die Arbeiterinnen beiseite, sprang die Stufen hinauf und hielt Komatsu einen Lieferschein mit dem Stempel des Chefs der Produktionsabteilung unter die Nase.
„Nun? Ich glaube, jetzt haben Sie keine Einwände mehr, nicht wahr? Sie haben gesagt, der Chef der Produktionsabteilung wäre krank." Sie zog Komatsu das Schlüsselbund aus der Tasche. „Und als ich zu ihm in die Wohnung kam, saß er seelenruhig am Herd und bastelte an seinem Angelgerät!"
Ohne die anderen Mädchen auch nur anzusehen, wandte sich Ren um und gab Takenoutschi die Schlüssel. „Los, schließ das Lager auf!"
Takenoutschi zählte für sie überhaupt nicht.
Der Lagerraum wurde geöffnet, und Ren blieb wie ein Inspektor an der Schwelle stehen. Hatsue und die andern packten Draht in Körbe und trugen sie in die Halle.
„Torisawasan ist prima, nicht wahr?" sagte Oikawa Mitsu zu Hatsue, während sie mit einem Korb die Treppe hinaufstiegen. Jamanaka Kiku, die hinter ihnen ging, um den Korb zu stützen, meinte: „Mag sein, ich kann sie trotzdem nicht leiden!"
Hatsue überlegte. Natürlich war Torisawa Ren ein tüchtiges Mädchen. Aber Hatsue ärgerte sich, dass nicht sie, sondern Ren alles erledigt hatte.
„Höher die rote Fahne..."
sang eine, als die Spulmaschinen wieder zu rotieren begannen. Es war, als sollte dieses Lied den Mädchen helfen, ihre Stimmung zum Ausdruck zu bringen.
Die Metallspulen waren kühl, und der Wind, der von den Bergen herüber wehte, rüttelte an den Fensterscheiben; doch die Arbeiterinnen bemerkten nichts von alledem. Sie mussten das Versäumte bis Feierabend nachholen. „Sieh mal, im Isolierband ist ein Riss!" „Das ist eine ,Schwächung'!" antwortete eine, und alle lachten.
Hatsue arbeitete flott. Das Fließband rollte unaufhaltsam und brachte ihr eine Spule nach der andern. Man konnte also auch ohne den Befehl der Herren von der Werkleitung die Produktion über den Durchschnitt hinaus steigern. Voller Stolz gingen die Mädchen mit frischen Kräften an die Arbeit. „Hatsutjan, schlaf nicht!" rief Kassuga Schinobu, die am Anfang des Fließbandes saß und den Kopf im Takt ihrer Handbewegung wiegte.
Hatsue antwortete vergnügt: „Ach, beeil dich nur mit dem Zureichen, damit keine Zeit zum Schlafen bleibt!"
Es war kurz vor Feierabend. Auf einmal wurden die Mädchen unruhig. „Nanu? Was ist denn los?"
„Siehst du nicht? Sie sind zurückgekommen!" hörte man flüstern, und alle blickten zum Fenster. Auf dem Fabrikhof herrschte lebhaftes Treiben, am Eingang stand Direktor Sagara inmitten einer Menschenmenge.
„Kollegen! Die Forderungen der Gewerkschaft des Hauptwerkes an die Gesellschaft sind angenommen worden!" schrie der Verbindungsmann Jamanaka Kisuke durch das Sprachrohr und stürmte die Treppe zur Montagehalle hinauf. „Tschidschiwa und Kassawara, unsere Komiteemitglieder, sind wieder da. Versammelt euch nach Arbeitsschluss vor dem Gewerkschaftsbüro!"

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