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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Die warmen Strahlen der Morgensonne überfluteten die geräumige Terrasse und drangen durch die auseinandergeschobenen Schoji ins Innere des Zimmers.
Komatsu Nobujoschi lag zwischen Stapeln von Zeitungen auf dem Bauche und stützte das Kinn in die Hände. Seine geröteten Augen blickten gedankenlos ins Leere. Der kostbare, goldbraune Haori - ein Familienerbstück - stand über der Brust offen. Die ganze Haltung des jungen Mannes zeugte davon, dass er von Kind auf tun und lassen konnte, was er wollte.
Selbst hier in Schinsu, wo der Frühling immer spät kommt, hatten sich ein paar alte Pflaumenbäume im Garten vor dem Haus mit Blüten bedeckt. Dieser Garten mit dem Teich und der umgestürzten, verwitterten, steinernen Laterne dehnte sich weit, bis an den Fuß eines waldigen Hügels. Die Besitzer des Gutes waren Verwandte Sumikuras und galten bis zum ersten Weltkrieg als die reichsten Gutsherren in diesem Bezirk. Auch jetzt noch hatte ihr Haus, obwohl verfallen, nicht seinesgleichen in Sanbonmatsu.
Nobujoschi gähnte herzhaft und runzelte die Stirn. Der Wahltermin rückte heran. Die Zeitungen brachten unter großen Schlagzeilen die Meldungen über die örtlichen Kandidaten und veröffentlichten die Programme der politischen Parteien. Unablässig verfolgte Nobujoschi eine Losung der Kommunistischen Partei: „Nieder mit der Monarchie! Für die Schaffung einer Volksregierung!" Außerdem beunruhigte ihn die Tätigkeit des „Komitees für Produktionskontrolle", das kurz nach dem Konflikt in der Fabrik gegründet worden war. Diese Gedanken tauchten in seinem Bewusstsein auf und unter, genauso, wie dort hinter dem Hügel im ziehenden Frühjahrsdunst der Gipfel des Jagatake hervortrat und wieder verschwand.
Im April wurden die Tage länger; doch seitdem die Company Kompromisse eingegangen war, brauchte Komatsu erst gegen halb zehn Uhr zum Dienst zu gehen. Durch den Kampf, den die Gewerkschaft führte, hatte sich auch das Gehalt Nobujoschis erhöht, und zwar im Vergleich zu den Löhnen der Arbeiter beträchtlich. Aber das machte ihm keine Freude; denn er fand es erniedrigend, ein einfacher Angestellter mit Gehalt zu sein.
Da fiel sein Blick auf die Schlagzeilen in einer der Zeitungen: „Handelsminister Ogassawara ist um eine Antwort verlegen" - „Gewerkschaftsvertreter protestieren gegen das Verbot der Arbeiterkontrolle über die Produktion". Hastig griff er nach der Zeitung und las den ganzen Artikel durch. Es war ein Bericht über die Ereignisse im Bergwerk Takahagi. „Im Zusammenhang mit dem kürzlich gefassten Beschluss des Ministeriums für Industrie und Handel, der den Kapitalisten Vorteile verschafft", schrieb die Zeitung, „verlangen die Vertreter   der  Vereinigung   von dreißig Gewerkschaftsorganisationen die Einführung einer Arbeiterkontrolle  über die Bergwerke.  Das Handelsministerium aber weicht einer eindeutigen Antwort aus und erklärt, die Frage der Gesetzmäßigkeit einer Arbeiterkontrolle über die Produktion sei noch nicht von der Regierung entschieden worden." Nobujoschi spie aus, schleuderte die Zeitung weg und drehte sich auf den Rücken. So ein Waschlappen! schien seine wütende Miene auszudrücken.
Er erinnerte sich an die „Erklärung der vier Minister", die zur Zeit des Februarkonfliktes in der Fabrik veröffentlicht worden war und von der Notwendigkeit sprach, „die Gewaltakte der Arbeiter, die von Arbeitskonflikten begleitet werden, zu unterbinden, da sie Handlungen seien, die dem Gesetz zuwiderlaufen und Eingriffe in das Eigentumsrecht darstellen". Diese Erklärung hatte Nobujoschi Hoffnung eingeflößt. Er unterhielt sich damals mit Direktor Sagara darüber und glaubte, dass sich hinter diesen Worten ein anderer, tieferer Sinn verbarg, der mit der allgemeinen politischen Lage zusammenhing.
Schon seit einigen Minuten war im Innern den Hauses ein dumpfes, krampfhaftes Altmännerhusten zu hören. Ein Greis trat, von einer Dienerin gestützt, ins Zimmer. Sein gelber, gedunsener Körper war in einen flauschigen, buntkarierten Morgenrock gehüllt, über den er noch einen braunen Mantel mit Wattefutter geworfen hatte. Nobujoschi sprang rasch auf, schloss den Kragen, strich seinen Kimono glatt und nahm Haltung an. „Nobujoschi, lies mir die Zeitung vor!" Der zittrige, halbgelähmte Greis war Nobujoschis Vater. Er setzte sich und streckte die Beine zu beiden Seiten eines schwarzen Lacktischchens aus, das mit dem Wappen des Hauses Komatsu geschmückt war. Mit der rechten Hand, die er noch frei bewegen konnte, umklammerte der Alte zwei Essstäbchen. Die Dienerin, eine Bauersfrau von etwa dreißig Jahren, kniete neben ihm, hielt ihm eine Schale vor den Mund und half ihm vorsichtig beim Essen.
„Was ist das? Nogami Tsutomu gewinnt die Oberhand? Dumme Gans, keine Suppe, sondern Mixed Pickles! Mixed Pickles, sage ich dir!" schrie er die Frau mit seiner dumpfen, heiseren Stimme an und ließ ein paar Reiskörner aus dem Mund fallen. „Ich höre nicht, lies lauter! Wie? Obajaschi Sentaro? Woher kommt der denn? Aus Okaja? Ein Anwalt aus Okaja? Kenne ich nicht! Diese jungen Kerle sind mir unbekannt!"
Der Alte brachte das alles mit einer Miene hervor, als wäre es undenkbar, Leute als Kandidaten für das Parlament zu nennen, die er nicht kannte. Vor vielen Jahren war er lange Zeit Mitglied des Bezirksrates gewesen, dann hatte man ihn bei den Wahlen durchfallen lassen. Es gab aber auch eine Periode in seinem Leben, da er für das Parlament kandidierte. In den politischen Kreisen von Süd-Schinano besaß er damals Einfluss.
„Herrn Komatsu hat die Politik verrückt gemacht, und er hat dabei alle seine Grundstücke durchgebracht", wurde über ihn gesagt. Der apoplektische Alte aber wusste ganz genau, dass die politische Kannegießerei durchaus nicht immer zum Ruin führt - im Gegenteil. Seinerzeit war es ihm gelungen, bei der Einführung neuer Grundsteuern für einen Spottpreis Waldgrundstücke zu erwerben. Als später die Seidenfabrikanten die Regierung um Bargelddarlehen ersuchten, wurde er einer der größten Aktienbesitzer der Sumikura-Unternehmen.
Die Wirtschaftskrise nach dem ersten Weltkrieg und die militärische Niederlage Japans nach dem zweiten waren schwere Schläge für ihn gewesen. Dazu hatte ihn jetzt seine Gesundheit im Stich gelassen; aber er zweifelte nicht daran, dass die Leute, die am Ruder waren und den Schlüssel zum gesamten politischen Geschehen in Händen hielten, einen Ausweg aus der gegenwärtigen schlimmen Situation finden würden.
„Nogami Tsutomu? Hm! Dieser junge Kerl - früher hat er Bücklinge vor mir gemacht. Na, meinetwegen. Er hat Geld, und ... Hm!"
Während der Alte vor sich hin murmelte, hörte Nobujoschi höflich zu; brach das Brummeln ab, so begann er unverzüglich, wieder zu lesen.
Die Sonnenstrahlen fielen auf den Herd mit dem glänzenden schwarzen Rost, und der Haken darüber sprühte goldene Funken.
Mit trüben, tränenden Augen unter welken Lidern sah der Greis die Dienerin an, und diese lief eilig um den Herd herum, hob das gelähmte Bein ihres Herrn hoch und begann es zu massieren. „Hör auf!" brüllte der Alte, als Nobujoschi die Liste der Kandidaten der Kommunistischen Partei und die Wahllosungen der Kommunisten vorzulesen begann.
„Nieder mit der Momomonarchie?... Was soll das heißen?" Ein Reisklümpchen fiel von dem Stäbchen herunter, das in seiner Hand zitterte. „Wie kann die Regierung eine solche Unverschämtheit dulden! Hm?..."
„Japan hat das Potsdamer Abkommen angenommen. Deshalb ist vorläufig nichts dagegen zu machen", antwortete Komatsu.
In der nächsten Sekunde flogen die Stäbchen zusammen mit der Schale der Dienerin an den Kopf.
„Dieses Po - Po - Posdam..." Der Zorn drohte den Greis zu ersticken. „Das... das... kann ich nicht begreifen!"
Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, Reiskörner im Haar, rieb die Dienerin dem Alten den Rücken.
„Das Land wegnehmen... Eigentumssteuern erheben..."
Der Alte schnappte nach Luft. Als er sich etwas erholt hatte,  begann   er  wieder,  mit  schwacher Stimme zu sprechen, während er die gelähmte Hand in der Schwebe hielt. „Was sollen wir Gutsbesitzer dann tun?"
Nobujoschi legte die Zeitung auf den Schoß und blickte ins Feuer. Weder Vater noch Sohn schienen die Dienerin zu bemerken, die mit schuldbewusster Miene, über und über rot, dastand und sich mit ihren geschwollenen Händen die Reiskörner aus den Haaren zupfte. „Das ist ein Attentat gegen das Eigentum! Wir haben den Krieg zwar verloren, haben kapituliert - meinetwegen. Aber dieses Po... Wie heißt es?... Das will mir nicht in den Kopf."
Er war mit dem Essen fertig, und während die Frau ihm Tee einflößte, fuhr er fort zu knurren. Ein Bein und ein Arm waren  gelähmt; doch  seine Zunge funktionierte ausgezeichnet.  „Diese Pachtbauern", brummte er, „sind in letzter Zeit ganz unverfroren geworden. Sogar die Tagelöhner schämten sich nicht, dreiste Lieder zu singen. Hörst du?" schrie er zum Schluss. „Merk es dir gut! Selbst wenn wir Bettler werden, wenn wir hinter einem Zaun verrecken ein Komatsu wird niemals sein Land selbst bestellen. Hörst du? Die Komatsu waren einst die ersten Vasallen des Hauses Suwa. Keiner von unseren Vorfahren hat jemals Mist gekarrt.  Es  wäre besser, anständig aus dem Leben zu scheiden, als auch nur ein Fass voll Mist zu schleppen. Lieber eine Schlinge um den Hals..."
Die Arme über der Brust verschränkt, starrte Nobujoschi auf einen Fleck. Was der Vater sagte, war nichts als seniles Geschwätz. Das war längst veraltet. Nobujoschi hatte natürlich nicht das geringste Verlangen, Mist zu karren, aber man musste einen andern Ausweg finden. War das Unglück einmal da, dann hatte es keinen Sinn, mit einer Schlinge um den Hals anzufangen.
In einem Punkt hatte der Sohn den Vater sehr gut verstanden, nämlich als dieser sagte, das Potsdamer Abkommen wolle ihm nicht in den Kopf.
Die Dienerin brachte den Alten ins Bett. An der Schwelle drehte er sich noch einmal um.
„Nobu! Nobujoschi! Ruf Torisawa Kintaro an. Sag, dass er Ren nach Hause holen soll, hörst du?" befahl er. „Sie hat da so etwas geschwatzt, dass sie die Absicht habe, in das Gemeinschaftsheim der Fabrik überzusiedeln. Sie ist zwar noch ein kleines Mädchen, aber in letzter Zeit entwickelt sie sich auch zu einer Roten, die dumme Gans!"
Nobujoschi stützte die Handflächen gegen die Knie und verbeugte sich. Ren wollte also wirklich umziehen! Er sah seinem Vater nach, betrachtete dann eine Minute lang die antiken Waffen an der Wand, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und flegelte sich rücklings auf die Matte. Jetzt ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Wie rasend schüttelte er den Kopf und trommelte mit den Füßen wie ein ungezogenes Kind. „Nein, nein, nein!" Nach einigen Minuten wurde er still.
Er stand auf, ging in sein Zimmer und zog die Offiziersuniform an, die er im Dienst trug. Sein Gesicht war wieder ruhig. Mit seinem gewohnten festen Schritt steuerte er auf Rens Wohnraum zu.

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