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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Am Morgen des nächsten Tages machte Direktor Sagara einen Rundgang durch die Fabrik. Dann kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück, zündete sich eine Zigarette an und sah die Papiere durch, die auf dem Tisch lagen.
Furukawa? Furukawa Schiro?
Tags zuvor hatte er seine Einstellung genehmigt, und jetzt, als er den Bericht des Leiters der Personalabteilung erblickte, fiel er ihm wieder ein, dieser Arbeiter - ein energischer, gescheiter Bursche - hatte die Abendschule besucht und sehr eifrig gelernt...
Die Sonnenstrahlen fielen auf den kahlen Kopf Sagaras. Er erhob sich, Heß den Vorhang herunter und nahm wieder in seinem Sessel Platz, nun bereits mit anderen Gedanken beschäftigt. Seit die Fabrik die Arbeit wiederaufgenommen hatte, war Sagara kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht mit der kurzen, breiten Nase und der dicken Oberlippe, die ein graumelierter Schnurrbart zierte, hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen.
Selbst die verantwortlichen Vorstandsmitglieder wussten zu der Zeit, da die Umstellung der Industrie auf Friedensproduktion begonnen hatte, nicht, was die Zukunft bringen würde. Mit Mühe und Not hatte die Fabrik die Produktion von elektrischen Uhren, Tourenreglern und kleinen elektrischen Zählern in Gang gebracht. Seit dem 15. August war das Finanzwesen zerrüttet. Auch die Rohstoffe reichten nicht aus, und man musste sich den Kopf zerbrechen, wie und woher man welche beschaffen sollte. Sagara aber sah der Zukunft mit einer gewissen Zuversicht entgegen, und man muss sagen, dass er Grund dazu hatte.
Ein Trost war es vor allem, dass sich der Kaiser in Sicherheit befand. Wie Sagara von den Vorstandsmitgliedern wusste, konnte man dies mit Bestimmtheit behaupten. Der zweite günstige Umstand war, dass man Schigehara mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Schigehara - das war so gut wie ein Geschäftsführer des Mitsuikonzerns. In einer Erklärung Trumans hieß es zwar, die japanische Regierung habe nur die Politik der Besatzungsmächte durchzuführen;
doch allein die Tatsache, dass man Schigehara an die Spitze des Kabinetts stellte, war eine Beruhigung. Und schließlich der letzte erfreuliche Umstand: Ein Drittel des Grundkapitals der „Tokio-Electro-Company" gehörte amerikanischen Kapitalisten.
Direktor Sagara hatte unter großen Entbehrungen die technische Mittelschule absolviert; ein Stipendium des Mitsuikonzerns ermöglichte ihm das Studium an einer Hochschule. Es war seine feste Überzeugung, dass jeder Mensch Karriere machen könne. Als zweiter Sekretär hatte er zwar das Recht, an den Vorstandssitzungen teilzunehmen; er durfte aber nur dann mitreden, wenn er gefragt wurde. Die kindliche Hilflosigkeit und Ungewandtheit der verantwortlichen Vorstandsmitglieder, die nicht imstande waren, etwas gegen Streiks zu unternehmen, ärgerten ihn. Er hatte seine eigenen Ansichten über die Gewerkschaftsbewegung, die sich seit Kriegsende wieder „breitmachte".
Hier, im Werk Kawasoi, würde er jedenfalls beweisen, was es hieß, nach der Methode Sagara zu handeln!
Es klopfte, und er hob den Kopf, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. „Herein!"
„Ich komme wegen der fälligen Sitzung der ,Trauergesellschaft', die heute Abend stattfinden soll." In strammer Haltung stand Komatsu, der Leiter der Abteilung für allgemeine Angelegenheiten, vor dem Direktor. „Ich wollte mit Ihnen über die Ausgaben für diese Veranstaltung beraten."
Die „Trauergesellschaft" war Anfang Oktober, bald nach der Wiederaufnahme der Arbeit, gegründet worden, um künftig den Jahrestag der Kapitulation Japans „würdig" zu begehen. Den Kern dieser Vereinigung bildeten die Angestellten der Werkleitung, vor allem die Demobilisierten unter ihnen. Auf ihr Betreiben war sie auch ins Leben gerufen worden. An diesem Abend sollte die zweite Sitzung stattfinden.
„Was die alkoholischen Getränke betrifft - die übernehme ich", sagte der Direktor mit leichtem Grinsen. „Nur, sehen Sie... wie soll ich sagen... die Ära der Demokratie ist ja nun angebrochen... Ich glaube, man müsste den Namen der Gesellschaft ändern, sonst kommen wir möglicherweise in eine peinliche Lage. Meinen Sie nicht auch?"
Der Direktor rekelte sich in seinem Sessel und wies mit der Hand auf einen Stuhl. „Setzen Sie sich doch."
Komatsu gab keine Antwort. Sagara schob die Papiere auf dem Tisch beiseite, schwieg eine Zeitlang, strich über seinen Schnurrbart und fragte unvermittelt: „Übrigens, das Fräulein da, die Schwester dieses Herrn Torisawa, ist doch Ihre Braut, nicht wahr?"
„Keineswegs", erwiderte Komatsu, ohne eine Miene zu verziehen.
„Sie ist... hübsch. Eine Schönheit, sozusagen, nicht wahr?" „Jawohl."
Der Direktor konnte den Gesichtsausdruck seines Gegenübers nicht genau erkennen. Er lächelte. Dann sprach er über etwas anderes.
„Ja, was ich noch sagen wollte - ich hörte von Takenoutschi, dass Torisawakun etwas vorhabe. Er will eine Fabrik aufmachen. Stimmt das?"
„Ganz recht, eine Fabrik für Holzgeräte."
„Hm, hm..." Sagara legte den Kopf auf die Seite. „Ich weiß ja nicht, aber man muss wohl Erfahrung auf diesem Gebiet haben, sonst ist das doch ein Risiko." Offensichtlich begriff er nicht, wozu dieser unerfahrene Gutsbesitzer so etwas anfangen wollte. Die Antwort Komatsus aber ließ ihn erstaunt aufblicken.
„Wenn ein Gutsbesitzer heutzutage nicht selbst Bauer werden will, dann bleibt ihm nichts anderes übrig."
„Na so was!" Sagara erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den er wenige Tage zuvor gelesen hatte. Darin hieß es, das alliierte Oberkommando werde bei der nächsten Tagung des Parlaments auf die Durchführung der Bodenreform dringen. Dem Direktor lag zwar nichts so fern wie Anteilnahme an einem fremden Schicksal oder Mitgefühl für andere, aber wenn er an diese Pressemeldung dachte, dann wurde ihm unbehaglich zumute.
„Ich habe eine Bitte an den Herrn Direktor", begann Komatsu. „Wäre es nicht möglich, Torisawa Ren bei uns in der Verwaltung zu beschäftigen?" Der Direktor war überrascht.
„Wie bitte? Warum denn? Selbst wenn man ihnen das Ackerland wegnimmt, so behalten sie immer noch die Waldgrundstücke... Es ist doch ausgeschlossen, dass sie in eine schwierige Lage geraten."
„Darum handelt es sich auch gar nicht." Komatsu starrte den Direktor finster an. „Es ist ihr eigener Wunsch."
„Ihr eigener Wunsch? Nun, da sie die Schwester Torisawas ist..." Der Direktor überlegte einen Augenblick. Er hatte sich neuerdings angewöhnt, nur solche Leute einzustellen, die ihm selbst genehm waren. „Das ist natürlich eine Laune. Na schön, meinetwegen kann sie anfangen," Er warf Komatsu einen Blick zu und lachte. „Es ist wahrscheinlich auch Ihr Wunsch, was?" Komatsu stand auf und verbeugte sich. „Ich danke Ihnen."
Der Direktor sah ihm nach. Komatsu blieb stets unerschütterlich, selbst dann, wenn man Spaß mit ihm machte. Eine gescheite Jugend ist das heutzutage, dachte Sagara.
Komatsu hatte das Zimmer noch nicht verlassen, als Takenoutschi den Kopf zur Tür hereinsteckte und meldete: „Herr Direktor, da draußen sind ein paar Arbeiter und bitten, empfangen zu werden. Sie sagen, sie möchten den Herrn Direktor sprechen."
Takenoutschi hielt die Tür halb offen und machte eine ängstliche Miene. Seine kleinen Augen huschten zwischen Korridor und Zimmer hin und her. „Was ist los?" Hinter Takenoutschis Rücken tauchte der verlegen lächelnde Obermeister Kassawara auf, neben ihm der kleine Onoki, der ihm kaum bis zur Schulter reichte, dann das ernste, aufmerksame Gesicht Ikenobes und einige junge Arbeiterinnen.
„Während der Arbeitszeit? Was soll das heißen?" Sagaras Stimme klang drohend.
„Nein, es ist schon Mittagspause. Wir wollten den Herrn Direktor noch treffen, bevor er weggeht." Kassawara verbeugte sich, und in diesem Augenblick heulte tatsächlich die Sirene auf.
Takenoutschi hielt noch immer die Tür. Sein Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, ob er die Arbeiter empfahl oder ob er vor ihnen warnte. Der Direktor sah stirnrunzelnd zu, wie sich die Leute auf der Schwelle drängten.
„Was gibt's? Was ist das für eine Verschwörung?"
„Aber nein, keine Verschwörung..." Über Kassawaras Züge huschte ein gutmütiges Lächeln. „Gestern haben die Arbeiter ein paar Vorschläge eingebracht... Wie der Herr Komiteevorsitzende in seiner Rede sagte: Alles ohne Heimlichkeit, in voller Offenheit... Und nun wollten wir uns erkundigen..."
„Na und?"
Natürlich hatte Takenoutschi den Direktor längst informiert, was tags zuvor auf der Versammlung geschehen war. Während Kassawara die Vorschläge nannte - Öfen in den Arbeiterinnenheimen aufstellen, Maßnahmen gegen das Einfrieren der Wasserleitungsrohre treffen und so weiter -, schüttelte Sagara mürrisch den Kopf; plötzlich brüllte er die Arbeiter an, die noch immer auf der Schwelle standen: „Kommt herein! Herein, sage ich!"
Als sie schüchtern nähertraten, musterte er jeden eindringlich.
„Du bist aus der Versuchsabteilung, was? Name?"
„Ikenobe Schinitschi." Ikenobe wurde bleich und verbeugte sich.
„Und du? Jamanaka, nicht wahr?" Hatsue, die hinter den anderen an der Wand stand, verneigte sich ebenfalls und errötete bis zum Hals.
„Und du bist aus der Dreherei?"
„Jawohl, Kumao Onoki", antwortete der kleine Mann mit Brille.
„Soso." Der Direktor schnaufte und ließ noch einmal einen aufmerksamen Blick über die verwirrten Arbeiter gleiten, die sich zu einem Häuflein zusammendrängten. „Araki hat euch wohl aufgehetzt, nicht wahr?"
„Was?" Kassawara schoss das Blut zu Kopf. „Durchaus nicht. Es ist durch Abstimmung beschlossen worden."
„Sie haben doch selbst gesagt, Herr Direktor, dass man offenherzig handeln und einander vertrauen müsse", bemerkte Ikenobe und biss sich vor Erregung in die Lippen.
Der Direktor sah ihn wütend an.
Da sagte der kleine Mann mit der Brille überraschend laut: „Ein so kaltes Haus, wie es die Arbeiterinnen haben, und das ganze Jahr hindurch keine Heizung... Das ist zu viel, da können Sie reden, was Sie wollen."
Onokis Stimme klang schlicht und ungezwungen, aber man hörte seine Entschlossenheit heraus, und das machte den anderen Mut. Der Direktor aber hob den Kopf und erklärte laut: „Das ist mir bekannt." Er machte eine Pause und streifte nochmals alle mit einem Blick. „Ich weiß das alles sehr gut, auch ohne dass ihr mich daran erinnert. Solche Maßnahmen werden nur nach dem Ermessen der Gesellschaft getroffen. In den Arbeiterinnenheimen gab es schon zu Sumikuras Zeiten keine Heizung, das ist nichts Neues. Natürlich denkt auch die Gesellschaft daran; doch im Augenblick, da das Land kapituliert hat und das Schicksal der Firma selbst noch nicht entschieden ist, gibt es wichtigere Dinge."
Unter dem grimmigen Blick Sagaras schlugen sogar die Männer die Augen nieder. Sie hatten nicht erwartet, dass der Direktor eine so unerbittliche Haltung einnehmen würde.
Takenoutschi, der sich neben den Tisch gestellt hatte, schien sich einmischen zu wollen; doch als er sah, welche Wendung die Sache nahm, huschte er unbemerkt aus dem Zimmer.
„Macht, dass ihr rauskommt! Wenn ihr eine Bitte habt, dann kommt gefälligst einzeln zu mir, aber nicht als ganze Bande!"
Sagara beobachtete mit finsterer Miene, wie die Arbeiter den Raum verließen. Zuerst gingen die Frauen, die an der Tür stehengeblieben waren, und als letzter verschwand Onoki mit trübselig gekrümmtem Rücken.
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schleuderte Sagara wütend den Zigarettenstummel in den Aschenbecher.

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