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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Schiro stürzte zwei Glas Sake auf einmal hinunter. Ein heftiger Schauder durchrann seinen Körper.
Er saß in einer winzigen Imbissstube. Auf dem Fußboden stand ein Hibatschi aus Ziegelsteinen. Die Plätze am Nebentisch waren leer. Das Bahnhofsviertel war eines der belebtesten von Kami-Suwa. In den Nebengassen, die vom Bahnhofsvorplatz abzweigten, drängten sich zwischen den Hotels zahllose Bars, kleine Gaststätten und ärmliche, schmutzige Imbissstuben. Hier waren die Preise sehr
niedrig; deshalb war Schiro in eine dieser Spelunken eingekehrt. „Noch ein Glas!" Hinter einer Schoji, die den Raum in zwei Hälften teilte, tauchte ein mürrischer alter Mann mit einer Flasche in der Hand auf. Schweigend schenkte er den Sake ein.
Schiro war jetzt nicht zum Singen aufgelegt. Hin und wieder nahm er einen Schluck aus seinem Glas und blickte durch die Scheiben der Schoji. In einer Ecke des halbdunklen Raumes kauerte eine grauhaarige Frau mit dem Rücken zu Schiro am Herd. Sie schien krank zu sein; denn offensichtlich fiel ihr selbst das Sitzen schwer.
Diese alte Frau im dunklen wattierten Kimono erinnerte Schiro schmerzlich an seine Mutter. Er wandte sich ab, stützte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Blick über die Zimmerdecke gleiten. Das Trinken hatte er sich an der Front angewöhnt. Er trank hastig, in großen Zügen, als wäre es ihm anders nicht möglich, seinen Durst zu stillen. Zwischen den feuchten Flecken an der Decke glaubte er das Gesicht seiner Mutter zu sehen; doch sobald er genauer hinschaute, verschwand es wieder. Schiro war ihr Sohn aus zweiter Ehe. Bei seiner Geburt war sie vierzig Jahre alt gewesen, und als er an die Front zog, ging sie schon ganz krumm vor Alter. Wie mochte sich das alles abgespielt haben dort in Tokio, als die amerikanischen „Fliegenden Festungen" den Stadtteil Fukagawa mit Feuer übergossen? Wie mochte seine Mutter in den Flammen umhergeirrt sein, und was hatte sie geschrien, als sie zu Boden stürzte? Wen hatte sie gerufen, als sie starb?
Schiro glaubte, das Krachen der Bomben ganz dicht neben sich zu hören, und seine Phantasie trug ihn an die Front zurück...
Da liegt er im glühenden Ufersand. Jetzt öffnet er die Augen und erblickt vor seinem Gesicht eine abgerissene Hand, deren Finger noch zucken. Das Transportschiff, auf dem man die Soldaten beförderte, wurde torpediert und flog in die Luft. Schiro erinnert sich, dass er auf Deck stand und mit einem beklemmenden Gefühl zusah, wie sich der Torpedo, der ein langes, weißes Kielwasser hinter sich ließ, langsam aber unausweichlich näherte. Dann verlor er das Bewusstsein und erwachte erst wieder im Meer. Ringsum schwammen Holzstücke und Ölflecke.
Rot, gelb, schwarz... ein Krachen, dieser spezifische Geruch... Zahllose Erinnerungen, zusammenhanglos und wirr, durchtobten sein aufgepeitschtes Gehirn, und er glaubte, wieder an der Front zu sein. Ein Bild folgte dem andern...
Ein dunkler Winkel in einer Scheune. Der Fußboden ist mit Sägespänen bedeckt, die einen starken, beißenden Geruch ausströmen. Durch die Ritzen in der Bretterwand dringen Streifen blendenden Sonnenlichts. Draußen huschen die Gestalten der Soldaten vorbei, die auf ihre Abfertigung warten. Man hört, wie sie schimpfen und lachen. Dicht vor seinen Augen, den Kopf gegen die Wand gepresst, liegt eine Frau. Ihr schmales Gesichtchen, umrahmt von Haaren, die auf koreanische Art hochgekämmt sind - ein Antlitz, das stumm aufschreit vor Erniedrigung und Schmerz... qualvoll weitaufgerissene Augen... Das war der erste Fall in seinem Leben, der sich wie ein glühendes Eisen in sein Hirn gebohrt hat. Diese Erinnerung allein versetzte ihn in einen halbwahnsinnigen Zustand. „Zahlen!" rief er.
In einem Zug trank er das Glas leer. Dann nahm er Geld aus der Tasche, warf es auf den Tisch, stand auf, stieß gegen die Glastür und torkelte hinaus. „Was hat der Halunke da gefaselt?" Wütend spuckte er aus. „Was hat er von Kapitalismus gequatscht?" murmelte er vor sich hin, während er weiterstolperte. In Gedanken stritt er immer noch mit Ikenobe.
In Wirklichkeit hätte Schiro, selbst wenn er betrunken war, niemals die Hand gegen Ikenobe erhoben. Warum er es nicht konnte - das wusste er selbst nicht. Aber er spürte dunkel, dass ein Schlag gegen Ikenobe dasselbe gewesen wäre wie ein Hieb auf den eigenen Kopf.
„Und was die Kommunistische Partei anbelangt, so ist das..." Jemand zupfte ihn am Ärmel, und er taumelte. Der Geruch von billigem Puder umhüllte ihn. „Einen Augenblick, junger Mann..." „Was hat er da gefaselt?" Er stieß einige Frauen beiseite und gelangte auf einen beleuchteten Platz. Ein paarmal versanken seine Füße im Schmutz.
Aus unerklärlichen Gründen versuchte er, ein Reklameplakat am Eingang eines kleinen Restaurants herunterzureißen. Er schwankte bald nach rechts, bald nach links. Nur weiter, weiter...
Natürlich wusste er selbst nicht, wohin er wollte und weshalb er es so eilig hatte.
Der Wind heulte. Schiro kam auf eine breite Straße. Das Pfeifen einer Lokomotive ertönte. Nun ja, das ist eine Lokomotive, dachte er und fühlte, wie ihm übel wurde. Menschen drängten sich an ihm vorbei. Fahrräder rollten auf ihn zu, als wollten sie ihn umwerfen. Laternen huschten vorbei, und der Wind stieß ihm in den Rücken.
Was hat er da gefaselt?
Am Bahnhofsvorplatz tauchte ein Jeep auf und sauste mit großer Geschwindigkeit auf ihn zu. Seitdem er erklärt hatte, er „trinke für sein eigenes Geld", wusste er, dass er immer derselbe bleiben würde. Darum jagte er die ganze Zeit so beharrlich vorwärts. Und als jetzt dieser große Körper in seinem Gesichtskreis erschien, der rasend schnell durch Streifen von Licht und Finsternis flog, war es Schiro, als müsste er ihn unbedingt packen, und er stürzte ihm entgegen.
Der Jeep wurde jäh zur Seite gerissen; man hörte Fluchworte in einer fremden Sprache.
Im nächsten Augenblick war der Jeep verschwunden. Benzingestank hing in der Luft. Überschüttet vom Geschimpfe der Leute, lag Schiro im Dunkeln am Straßenrand, wohin man ihn getragen hatte. Verständnislos blickte er sich um.
„Hast ganz hübsch tief ins Glas geguckt, mein Lieber", schlug eine Frauenstimme an sein Ohr. Er wälzte sich auf die Seite; sein Kopf dröhnte, und sein ganzer Körper schien wegzuschwimmen. Über ihm strahlte der kalte, dunkle Sternenhimmel.
Allein, ganz allein war er, und es kam ihm vor, als versänke er immer tiefer. „Mutter!"
Und wieder ertönte die Frauenstimme in der Finsternis:
„Na, na! Komm, steh auf!" Die Frau hatte eine dicke Puderschicht auf dem Gesicht. Sie hockte sich neben ihn und betastete seinen Mantel. Er warf die Arme um ihren Hals. „Oho, ist der Mann aber schwer!"
An die Schulter der gepuderten Frau geklammert, folgte Schiro ihr gehorsam in eine Seitengasse und wischte sich im Gehen mit der schmutzigen Hand sein tränennasses, verschmiertes Gesicht ab.

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