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Ikenobe Schinitschi zog einen winzigen Metallstab aus dem Futter, strich mit dem Finger darüber hin und schüttelte den Kopf. Dann richtete er das Licht der Lampe, die an einem langen Hebelarm befestigt war, auf die Drehbank, legte eine Mikrometerschraube an den kleinen Stab, ergriff eine Lupe und betrachtete ihn eingehend.
Alles schien in Ordnung; an dem kleinen Stück trüb blinkenden Stahls von zwölf Millimetern Länge und einem Drittelmillimeter Durchmesser war kein Fehler zu entdecken. Aber als Ikenobe die Lupe weglegte, die Augen schloss und nochmals mit der Spitze des kleinen Fingers über das Stäbchen fuhr, schüttelte er wieder den Kopf: Die Spur des Stahls war, wenn auch kaum merklich, fühlbar. Schinitschi seufzte und legte den Stab hin. Dann nahm er den blauen Zelluloidschirm ab, der seine Augen gegen das Licht schützte, setzte sich an den Tisch und ließ den Kopf auf die Arme sinken. Ich bin müde, dachte er. In seinen Ohren begann es zu klingen. Er schloss die Lider, aber schlafen wollte er nicht.
Auf dem Bretterbelag, der den kalten Betonfußboden bedeckte, standen sechs kleinere Drehbänke in einer Reihe. Schinitschi war ganz allein in der Halle, und das Rauschen des Treibriemens erschien ihm ungewöhnlich laut.
Seit mehreren Tagen arbeitete er nun schon an dem Probestück eines Drehzahlmessers, System „Tokio-Electro". Vor dem Kriege war dieser Zähler, eine Konstruktion nach dem Entwurf von Nakatani, als eines der patentierten Erzeugnisse der Company verkauft worden, während des Krieges aber hatte man ihn für die Verwendung beim Flugzeugbau umgearbeitet. Jetzt, nach der Kapitulation, hatte Nakatani wiederum einige Änderungen vorgenommen, um das Gerät von neuem auf den Markt bringen zu können. Der Direktor drängte darauf, dass die Muster innerhalb kürzester Frist angefertigt würden.
Die Miniaturzähler der „Tokio-Electro" zeichneten sich durch ihre hohe Qualität aus, und das Werk Kawasoi galt als eines der besten unter den vierzig Unternehmen der Company. In ganz Japan gab es nur eine oder zwei Fabriken dieser Art. Die „Tokio-Electro-Company" besaß ein Patent zur Herstellung von Spezialmotoren und elektrischen Uhren eines besonderen Systems. Diese Produktion war ausschließlich Aufgabe des Werkes Kawasoi. Der gesamte Fertigungsprozess lag in den Händen einer Spezialistengruppe unter Nakatanis Leitung, die Vorarbeit aber leisteten einige Techniker, unter ihnen Ikenobe Schinitschi.
Neben der beleuchteten Drehbank hatte Ikenobe eine ölbeschmierte Zeichnung des Drehzahlmessers System „Tokio-Electro" ausgebreitet, eines zierlichen Mechanismus, nicht größer als eine gewöhnliche Taschenuhr. An den anderen fünf Drehbänken stellten die Arbeiter nach wie vor Einzelteile für elektrische Uhren her, und allein Ikenobe, der Begabteste von ihnen, arbeitete an dem neuen Modell. Seit einiger Zeit blieb er jeden Tag bis spät in die Nacht in der Fabrik.
Auf einmal hob er den Kopf. An der Außengalerie, die im Bogen um die Werkhalle herumführte, vernahm er ein Geräusch, als habe jemand eine Tür zugeschlagen. Nakatani, dachte Schinitschi. Aber es war nur ein Windstoß, der durch die Galerie und die Innengänge fuhr. Gleich darauf war es wieder still. Nakatani musste nach der Sitzung der „Trauergesellschaft" noch in die Dreherei kommen, denn er hatte seine Tasche über seinem Arbeitstisch hängenlassen. Schinitschi gähnte, zog eine Zigarette aus der Tasche und brannte sie an.
Er war sicher, dass er die Aufgabe meistern würde, hatte er doch schon im Werk Oi Teile mit einem Zehntelmillimeter Durchmesser gedreht. Auch dieses Stäbchen, das er eben für den Probezähler hergestellt hatte, konnte als brauchbar angesehen werden. Aber es entsprach nicht Schinitschis Charakter, ein Stück aus den Händen zu lassen, bevor er sich nicht überzeugt hatte, dass es einwandfrei war.
Er hatte schlechte Laune, doch keineswegs wegen der Arbeit. Sosehr er sich auch bemühte, diesen Zustand zu überwinden - die Unruhe blieb. Schinitschi war stets unsicher. Das wusste er genau, und es bedrückte ihn. In letzter Zeit aber war diese Unsicherheit immer stärker geworden.
Mit einer mechanischen Handbewegung griff er in die Innentasche seines Arbeitsanzuges, zog einen blauen Umschlag hervor, entnahm ihm ein kleines Foto und betrachtete es lange. Offenbar tat er das häufig, denn Umschlag und Bild wiesen Ölflecke auf.
Es war eine Aufnahme von Torisawa Ren. Sie trug eine weiße Flauschjacke, ihr Haar war vorn gelockt neuerdings war die Dauerwellenfrisur in Mode gekommen. Ein Lächeln umspielte ihre schöngeschwungenen Lippen. Sie stand am Ufer eines Teiches; im Hintergrund sah man die Berge. Die Umgebung und die Haltung des Mädchens wirkten natürlich. In der kurzen Zeit, da sie einander nicht gesehen hatten, war Ren reifer geworden. Schinitschi seufzte, schob das Bild wieder in den Umschlag und steckte ihn in die Tasche. Im Augenblick bedrückte ihn der Anblick des Mädchens auf der Photographie.
Er dachte an die Ereignisse auf der Versammlung und im Zimmer des Direktors und wusste nicht, was er tun sollte.
Er hatte das Wort „Forderungen" ohne jede Absicht ausgesprochen. Araki gebrauchte es häufig, und Schinitschi hatte es einfach wiederholt, ohne sich etwas dabei zu denken. Er konnte sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen. War dieser Ausdruck wirklich imstande, einen solchen Aufruhr zu verursachen? Und dann das Verhalten des Direktors, sein grobes, unwürdiges Benehmen!
Welch klägliche Figur hatten Schinitschi und seine Kameraden dort im Büro gemacht! Wie arme Teufel und gedemütigte Bettler - das hatte man ihnen in zynischer Offenheit zu verstehen gegeben.
Seit Kriegsende hatte Schinitschi viele Artikel und Broschüren gelesen, aus denen er den neuen Begriff „Humanismus" kennenlernte. Schon als Junge fühlte er sich besonders von der Dichtkunst angezogen, und so war ihm das Wort „Humanismus" nah und verständlich. Er glaubte, es könnte alle Menschen vereinen, die den Frieden und das Glück liebten. Und wenn seine Liebe zu Ren ebenfalls auf einer solchen Grundlage beruhte, dann würde sie zum Guten sein.
Im Augenblick aber musste Schinitschi die bittere Erfahrung machen, dass es Menschen gab, denen der Begriff Humanismus fremd war. Die Company und der Direktor, der sie verkörperte, diese Leute, die nicht das Recht besaßen, sich Menschen zu nennen, hatten ihm mit unverhüllter Grobheit klargemacht, dass er für sie kein Mensch sei, sondern nur „ein Arbeiter". Diese Erkenntnis erschütterte ihn tief. Er stand auf, verscheuchte die finsteren Gedanken und blickte auf die Uhr. Schon halb zehn. Wenigstens ein Stäbchen musste er noch fertigmachen.
Er trat an die Drehbank, warf die Haare mit einem Ruck aus der Stirn und setzte den Zelluloidschirm auf. Dann griff er nach einer neuen Walze und befestigte sie im Futter.
Würde Ren wirklich in der Fabrik arbeiten? Sie hatte ihm geschrieben, sie bemühe sich mit Hilfe von Bekannten, in der Fabrikverwaltung angestellt zu werden. Sie finde, heutzutage sei es für einen gesunden Menschen nicht gut, tatenlos zu Hause zu sitzen. Sie habe sich auch den „Wochenboten" beschafft und gelesen, über den Schinitschisan ihr geschrieben habe. Doch sie wisse mit all den Problemen nicht fertig zu werden und müsse noch viel von ihm lernen...
Wie war das möglich? Es erschien ihm ungewöhnlich und erstaunlich. Aber das war echt Ren! Wer weiß, vielleicht kam sie tatsächlich.
Er drückte das Pedal hinunter. Der Treibriemen begann sich rauschend zu drehen. Mit einem Hebelgriff setzte er den Support (Anm.: Schlitten, in dem an Werkzeugmaschinen das Werkzeug oder das Arbeitsstück festgespannt ist.) mit dem daran befestigten Stahl in Bewegung. Dann schüttelte er den Kopf. Nein, so ging es nicht. Er war nicht bei der Sache. Er zwang
sich, nur an die Arbeit zu denken, konzentrierte den Blick auf das Werkstück und legte den Stahl an. Ein dünner Metallspan begann, mit kaum vernehmbarem Zischen wie ein Rauchfähnchen an der Spitze des Stahls zu tanzen.
Der winzige, fadendünne Stab war die Zentralachse des Gerätes. Seine Stärke brauchte nur um ein Hundertstelmillimeter von dem vorgeschriebenen Maß abzuweichen, und schon gab es Auswirkungen auf die Funktion des gesamten Mechanismus. Schinitschi wusste das. Doch seine Gedanken gingen andere Wege...
„Ich schicke Dir Dein altes Winterhemd. Je mehr ich es geflickt habe, desto weiter ist es zerrissen. Du musst schon entschuldigen...", schrieb seine Mutter in dem Brief, der in dem Paket lag. „Vater hat vorläufig noch jeden Tag Arbeit, aber es ist trotzdem schwer mit der Ernährung; wir sind ja eine große Familie..."
Schinitschi schob den Stahl zur Seite, nahm den Fuß vom Pedal, stoppte mit der Hand die Stufenscheibe, rieb das Stäbchen ab und legte die Mikrometerschraube an. Fast fertig. Noch ein wenig musste er wegnehmen, ganz, ganz wenig. Mit einem kleinen Pinsel trug er Öl auf und brachte die Maschine wieder in Gang.
Diesen Monat würde er den Eltern hundert Jen schicken. Sie hatten es schwer... In Tokio konnte man, wie es hieß, für hundert Jen kaum drei Kilo Reis kaufen.
„Na, noch immer fleißig?" Schinitschi hatte nicht bemerkt, dass Nakatani hereingekommen war. „Pass nur auf, dass du den letzten Zug nicht versäumst. Es ist bald soweit", sagte der Meister freundlich, nahm das kleine Tablett mit den fertigen Teilen vom Tisch und zählte die großen und kleinen Scheiben, die winzigen Schrauben und Stäbe. „Genug für heute. Morgen ist auch noch ein Tag." Ikenobe hatte ein Zimmer im Arbeiterheim der Fabrik in Kami-Suwa, zwei Bahnstationen von Okaja entfernt. Er musste mit dem Zug zur Arbeit fahren. Nakatani wohnte auch dort, obgleich er Familie hatte und das Haus für Junggesellen bestimmt war; er versah das Amt des Heimleiters.
Schinitschi streifte den Riemen von der Stufenscheibe. Er war überzeugt, dass es ihm heute Abend ohnehin nicht mehr gelingen würde, richtig zu arbeiten. Als er die Schutzhülle über die Drehbank zog, rief ihn Nakatani an seinen Tisch. „Schau mal, Ikenobe, ich möchte dir etwas zeigen."
Das gutmütige Gesicht Nakatanis, dem die Arbeiter den Spitznamen „Täuberich" gegeben hatten, sah plötzlich ganz anders aus als sonst. Er nestelte die Schnur an seiner Tasche auf und zog einen dicken Briefumschlag hervor.
„Das sind natürlich legale Schriften, aber trotzdem..."
Nakatani überreichte Schinitschi den „Aufruf an das japanische Volk!" und die als Broschüre herausgegebene erste Nummer der Zeitung „Akahata".
Schinitschi nahm den Aufruf, und sein Blick fiel auf die erste Zeile. „Für die Befreiung der gesamten Menschheit von Faschismus und Militarismus..." begann er laut zu lesen, doch Nakatani bedeckte das Blatt mit der Hand.
„Hör mal, Ikenobe!" Er senkte die Stimme, als fürchtete er, man könnte ihn belauschen, obwohl er selbst eben erst gesagt hatte, die Broschüren wären nicht illegal. „Das haben bisher nur Araki und Kassawara aus der Montageabteilung und Onoki aus der Dreherei gelesen. Sag also niemandem etwas davon. Wenn du es gelesen hast, dann gib es mir, bitte, zurück."
Er legte die Schriften zusammen, steckte sie in den Umschlag und übergab ihn Schinitschi, der ihn in die Brusttasche schob. Bei den letzten Worten Nakatanis war er ernst geworden, und sein Gesicht zeigte einen gespannten Ausdruck.
„Du kannst mir hinterher erzählen, was du von alledem hältst. Ich denke auch viel darüber nach, doch das besprechen wir später, zuerst lies es einmal." Nakatani brach ab und blickte zur Tür. Auch Schinitschi wandte sich um. Araki war in die Halle getreten. Er hielt den Kopf nach hinten gebeugt und bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hervor. „Was ist los?"
„Ach, nichts weiter. Ich habe Nasenbluten. Hast du ein Hanagami?" Araki ließ sich auf einen Stuhl sinken und wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab.
„Hat dich jemand überfallen?"
„Überfallen?" Araki schloss die Augen und lächelte verächtlich. Seine Wange war blutverschmiert, die Oberlippe geschwollen.
Schinitschi blickte von einem zum anderen. Nakatani hatte offenbar einen bestimmten Verdacht. „Schima?" fragte er, doch Araki schüttelte nur den Kopf. „Komatsu?"
Araki hob die Schultern, als wollte er sagen „Ich weiß nicht". Nach einer Weile meinte er: „Es ist schließlich gleich, wer es gewesen ist."
Ein Taut wie ein tiefer Seufzer entrang sich Nakatanis Brust. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, zog die schmalen Schultern hoch und starrte auf den Fußboden.
„Na, weißt du, das ist doch... das ist..." Aufgeregt lief er hin und her und murmelte vor sich hin. „Das ist eine Gemeinheit!"
Schinitschi hatte den „Täuberich" noch nie so wütend gesehen.
„Wir müssen jetzt eben auf alles gefasst sein", meinte Araki, wischte sich das geronnene Blut ab und stand auf. „Wir können unterwegs weiterreden. Ihr kommt sonst zu spät zum Zug."
Am Kontrollhäuschen steckten sie die Zeit ihres Weggangs.
Nakatani wollte ans Fenster des Pförtners treten, doch Araki hielt ihn zurück. „Schon gut, lass nur. Es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu sprechen."
Sie gingen auf die finstere Straße hinaus. Es war kalt. Araki bewohnte eine Dienstwohnung in der Nähe des Bahnhofs Okaja.
„Das ,Beratungskomitee' hat offenbar aufgehört zu bestehen..." „Ja, so ist es wohl."
„Wir brauchen eine stärkere Organisation", bemerkte Araki leise.
Ein Lastwagen fuhr vorbei und wirbelte Staubwolken auf, die im Dunkel der Nacht weiß erschienen.
„Ich möchte nach Tokio fahren und mich im Hauptwerk umsehen", fuhr Araki fort. „Ich glaube, dort beginnt man jetzt aktiv zu werden."
Schinitschi folgte den beiden, ohne ein Wort zu sagen, und tastete immer wieder nach dem dicken Päckchen an seiner Brust. Diese Berührung brachte ihn den Dingen näher, über die seine Kollegen sich unterhielten, und das flößte ihm neuen Mut ein.
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