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Ab die kleine Gestalt Onokis auf dem Podium erschien, ging die Erregung der Arbeiter allmählich in fröhliche Lebhaftigkeit über. „Kollegen!" rief Onoki laut mit zurückgeworfenem Kopf. Plötzlich stockte er. Nicht dass er vergessen hätte, was er sagen sollte - das Konzept seiner Rede lag vor ihm auf dem Pult, außerdem wusste er sie von Anfang bis Ende auswendig -, nein, er verstummte, weil ihm auf einmal, kaum dass er die Bühne betreten hatte, der ganze Saal wie ein Ozean in dichtem Nebel vorkam. Vor allem aber fühlte er, dass seine Rede, an der er die ganze Nacht hindurch gearbeitet hatte, zu der gegebenen Situation überhaupt nicht passte. Auf die Anrede „Kollegen!" folgte in seinem Konzept der Satz:
„Beantworten wir also die Frage, ob unser Land, Japan, wirklich als ein Land der Götter angesehen werden kann." Als er sich auf diese Rede vorbereitet hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er in einer solchen Atmosphäre, in einer solchen Umgebung würde sprechen müssen. Er stand da und schwieg. „Na und, was weiter?" fragte einer laut, und einige Mädchen kicherten. „Beantworten wir also die Frage, ob unser Land, Japan, wirklich als ein Land der Götter angesehen werden kann!" schrie Onoki mit schriller Stimme und kniff die Augen zu. „Hat uns nicht der Aggressionskrieg, der auf Kosten des Proletariats geführt wurde überzeugt, dass die Legende vom ,heiligen Wind' (Anm.: Der „heilige Wind" rettet in kritischen Zeiten Japan, das „Land der Götter, das unter besonderem göttlichem Schutz steht". Die japanischen Militaristen und Chauvinisten benutzten diese Legende für ihre Kriegspropaganda.) verflogen ist wie Staub?"
„Warum so trübselig?" ertönte ein neuer Zwischenruf, und die Zuhörer begannen zu lachen.
Onoki wollte sich nicht beirren lassen und redete voll Eifer weiter.
Er verschwand fast hinter dem hohen Katheder. Von Zeit zu Zeit zog er den Kopf ein, stockte, trat von einem Fuß auf den anderen und zuckte mit den Schultern.
„Du bist nicht zu sehen! Zeig mal dein Gesichtchen, Kleiner!"
Wieder brach Gelächter aus.
Araki und Nakatani blickten sich besorgt im Saal um. Die Forderung nach Lohnerhöhung und alle zehn Punkte der Resolution waren zwar bereits angenommen, doch die Rede Onokis erwies sich als unangebracht. Jamanaka Hatsue und die andern jungen Mädchen fühlten sich jetzt sehr frei und ungezwungen. In den ganzen zehn Jahren, die sie in der Fabrik waren, hatten sie noch nie so etwas erlebt. Heute fürchteten sie keinen, nicht einmal den Direktor. Dort saßen sogar die Verwaltungsangestellten mit allen andern zusammen! Man konnte lachen und scherzen, soviel man wollte, und wurde nicht bestraft. Die Mädchen vermochten sich nicht vorzustellen, dass es wirklich gelingen sollte, eine fünffache Erhöhung der Löhne durchzusetzen. Aber sie waren mit einer Beteiligung am Streik und mit der „Kontrolle der Arbeiter über die Produktion" einverstanden, komme, was da wolle.
Eine unerklärliche Unruhe packte die Mädchen. Je komischer die Rede Onokis klang, desto nervöser wurden sie, eben weil sie mit ihm fühlten und dem, was er sagte, zustimmten. Wenn sie hätten ausdrücken können, wie ihnen in diesen Minuten zumute war, so hätten sie gewiss das Wort ergriffen, obwohl das gegen alle Traditionen gewesen wäre. Die Spannung stieg; die wachsende Erregung konnte jeden Augenblick zum Ausbruch kommen. Die Arbeiter fühlten, dass es von ihnen abhing, diese wirre Rede zu einer realen Kraft zu machen.
Plötzlich schlug Onoki mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Der Kaiser ist ein...!"
Ganz still wurde es im Saal. Alle blickten sich an. In der vordersten Reihe, wo die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" saßen, erhob sich Komatsu. „Das ist eine Respektlosigkeit."
Er stieg langsam auf die Bühne und ging am Vorsitzenden vorbei auf Onoki zu. Tschidschiwa erhob sich halb, zupfte Komatsu am Ärmel und sagte etwas zu ihm; doch der sah den Vorsitzenden gar nicht an und zeigte nicht die geringste Neigung, das Podium zu verlassen.
Jetzt, da die Sache eine so unerwartete Wendung nahm, erwies sich der kleine Redner trotz seiner Unerfahrenheit als sehr tapfer. Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Der Kaiser ist der Kriegsverbrecher Nummer Eins! Wir müssen Schluss machen, endlich Schluss machen mit dem ,heiligen Wind' und mit dem Kaisermythus!"
Seine Stimme klang schrill wie eine Lokomotivpfeife, aber jetzt lachte keiner mehr. Eine drückende, gespannte Stille breitete sich aus. Onoki und Komatsu standen nebeneinander. Die Worte des Redners erweckten die Zweifel, die tief im Unterbewusstsein eines jeden der Anwesenden verborgen lagen. Um sie zu beseitigen, musste jetzt klar und deutlich die Frage beantwortet werden: Kann man den Kaiser als Kriegsverbrecher betrachten oder nicht? Muss man für ihn eintreten oder nicht?
Als Onoki seine Rede beendet hatte, ergriff er sein Konzept und verließ das Podium. Seinen Platz aber nahm ohne Erlaubnis des Vorsitzenden Komatsu ein; in der allgemeinen Verwirrung erhob keiner Einspruch dagegen. Der Vorsitzende stand auf. Araki und Kassawara traten auf das Podium zu; die Arbeitervertreter sprangen von ihren Plätzen auf. Ikenobe merkte, dass aus seiner Rede wahrscheinlich nichts werden würde. Aufgeregt zog er sein Manuskript aus der Tasche und steckte es wieder ein.
„Über Erfolg und Niederlage im Kriege entscheidet das Schicksal", begann Komatsu. „Mag uns diesmal auch das Kriegsglück verlassen und die kaiserliche Armee unter Blutvergießen eine Niederlage erlitten haben..."
Er stand breitbeinig da, die Hände in den Taschen, den Körper straff aufgerichtet, und sprach mit halblauter Stimme wie ein Kompanieführer, der den Soldaten Instruktionen erteilt.
Seine Worte schienen die Menschen zu ernüchtern. War nicht ihre freudige Erregung seit dem Beginn der Versammlung ein Irrtum gewesen?
„Ich wiederhole voller Ehrfurcht: Seine Majestät der Kaiser ist der Stützpfeiler für unsere, für die Existenz der japanischen Nation. Das haben die Truppen der Alliierten anerkannt, das hat Amerika anerkannt, und sogar die Kapitulationsbedingungen sehen vor, dass die Staatsform Japans unverändert bleibt." „Richtig!" rief ein Mitglied der „Tenrju-Gesellschaft".
Selbst in der Mitte des Saales, wo die Arbeiter saßen, hörte man zögerndes Beifallklatschen, das in der plötzlichen Stille seltsam scharf klang und die spannungsgeladene Unruhe noch verstärkte.
Auf einmal ertönte Torisawa Rens helle Stimme: „Nein, das ist nicht richtig! Vorsitzender!"
Der Vorsitzende sah sie an, als wollte er sie auffordern, das Ende der Rede Komatsus abzuwarten; aber sie ließ sich nicht beirren. „Was Komatsusan sagt, stimmt nicht. Das ist eine reaktionäre Rede!" Sie blickte Komatsu spöttisch an, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als wollte sie sich über ihn lustig machen.
Sie hielt eine Nummer der „Akahata" in den Händen und schaute, während sie sprach, ab und zu hinein. Ihre klingende Stimme war frei und ohne eine Spur von Verlegenheit.
Alle starrten sie an, verwundert über ihr mutiges Auftreten.
„Der Kaiser trägt die Verantwortung für den Angriffskrieg. Ohne den Sturz des Kaiserregimes ist es unmöglich, Japan zu demokratisieren..." „Richtig!" schrie Furukawa vom äußersten Ende des Saales herüber.
Aber das Interesse für Rens Ausführungen begann bald nachzulassen. Sie sagte zu viele unverständliche, gelehrte Worte, die vor diesem Auditorium nicht angebracht waren.
„Was Komatsusan sagt, das zielt auf Unterstützung des Kaisers ab. Es spiegelt die Ideologie der Gutsbesitzer und der Monopolkapitalisten wider."
„Schluss! Tu doch nicht so gebildet!" rief plötzlich einer, und ein anderer fuhr fort: „Was versteht überhaupt so ein Mädel davon? Mach, dass du runterkommst!"
Rens Wangen färbten sich. Sie wandte sich in die Richtung, aus der der Zwischenruf gekommen war, und sagte laut und deutlich: „Wir, die arbeitenden Menschen, müssen klassenbewusster werden! Aber ihr habt noch nicht mal gemerkt, dass die Sozialistische Partei in ihren Losungen für die bevorstehenden Wahlen nicht den Sturz des monarchistischen Systems fordert." Onoki und Ikenobe erhoben sich von ihren Plätzen und applaudierten. Auf die Mehrzahl der Anwesenden aber hatte Rens Rede eine ganz andere Wirkung ausgeübt. Ihre elegante Kleidung und ihr gepflegtes Aussehen hatten die Arbeiter misstrauisch gemacht, und ihre letzten Worte, die wie ein Verweis klangen, riefen unwillkürlich Antipathie gegen sie und gegen alles, was sie gesagt hatte, hervor. „Was schwatzt die da?" hörte man von allen Seiten. Ren versuchte, einige Zwischenrufe zu erwidern, aber schließlich sah sie ein, dass es keinen Zweck hatte, und setzte sich mit einer heftigen Bewegung, die Lippen zornig vorgeschoben, auf ihren Platz. „Ja", begann Komatsu wieder, „wenn wir auch eine Niederlage erlitten haben, so müssen wir, das Volk des heiligen Japans, in dieser Schicksalsstunde unsere Herzen, die von Ergebenheit und von Standhaftigkeit erfüllt sind, stark machen und sorgsam darauf achten, dass wir nicht zum Spielball in den Händen der Kommunisten oder derer werden, die mit ihnen sympathisieren."
Obgleich Ren bei den meisten Anwesenden auf Ablehnung gestoßen war, erhoben sich doch, wenn auch nur vereinzelt, protestierende Stimmen gegen die monarchistische Rede Komatsus. Zu voller Größe aufgerichtet, stand Furukawa in den hinteren Reihen rief etwas. Die Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft! aber, die eine gewisse Unterstützung spürten, wurden jetzt ganz unverschämt.
Araki ging zu dem Vorsitzenden und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
„Ich habe durchaus nicht die Absicht, gegen die Gewerkschaft oder gegen die Forderung nach Lohnerhöhung zu sprechen", fuhr Komatsu fort. „Ich mache mir nur Gedanken darüber, ob nicht die Kommunisten dahinterstecken. In der Tat, wer außer den Kommunisten wagt es, derart empörende Reden zu halten, die gegen Seine Majestät den Kaiser gerichtet sind?"
Seine Worte gingen im Beifall der Mitglieder der „Tenrju-Gesellschaft" und in den Protestrufen der Arbeiter unter. Viele sprangen von ihren Plätzen auf. Ikenobe und seine Kollegen hatten sich ebenfalls erhoben. Plötzlich schrie jemand von hinten, so laut, dass es im Saal widerhallte: „Ruhe!", und im nächsten Augenblick stürzte Furukawa mit entschlossenem Gesicht an den Sitzenden vorbei zum Podium.
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