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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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In Rens Zimmer lag alles durcheinander. Man konnte nirgends einen Fuß hinsetzen. Ein großer verschnürter Koffer, eine Kiste mit Büchern, ein Kästchen mit Toilettengegenständen und Bettzeug in bunter Umhüllung türmten sich zur Abholung bereit in einer Ecke. Ren selbst, im Morgenrock, eine Schnur als Gürtel um die Taille, kniete am Boden und beschäftigte sich eifrig mit einem Stoß Plakate.
„Volksregierung oder Regierung des Kaisers?" -„Stimmt für unseren Kandidaten Obajaschi Sentaro, für die helle Zukunft Japans!" - „Für den Vertreter der Werktätigen, für den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Obajaschi Sentaro!" stand in roter und grüner Farbe darauf.
Ren hatte tags zuvor bis spät in die Nacht Losungen gemalt und war trotzdem noch nicht fertig. Ohne zu frühstücken, hatte sie sich sofort wieder an die Arbeit gemacht. Die Wahlen rückten näher, und die Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes in der Fabrik hatten alle Hände voll zu tun. Besonders viel lastete auf Ren. Ikenobe und Onoki sollten heute eine Abstimmung in der Fabrik durchführen, und Ren hatte allein fünfzig Plakate zu malen. Nach dem Mittagessen sollte sie sie mit Hilfe einiger anderer Mädchen aus dem Jugendverband in der Stadt ankleben. Außerdem würde sie noch am Vormittag in das Fabrikheim umziehen; die Erlaubnis der Company war endlich eingetroffen.
„Im Schmelztiegel unseres Hasses..." Mit beklecksten, vor Anstrengung steifen Fingern führte Ren den Pinsel. Ihren Umzug hatte sie telefonisch zu Hause gemeldet und schon vergessen, was ihr Bruder, der gegen ihren Entschluss war, dazu geäußert hatte. Übrigens ließ er nach diesem Gespräch nichts mehr von sich hören. Kintaro war gewiss beschäftigt - er war gerade dabei, in Schimo-Gawasoi eine Holzgerätefabrik aufzumachen.
„...schmieden wir ein eisernes Schwert..." Neue Gefühle und neue Gedanken bewegten Ren. Die wunderbare Theorie, die sie studierte, und das ereignisreiche Leben, an dem sie jetzt aktiv teilnahm, eröffneten ihr eine neue Welt. Vor kurzem hatte sie mit der Lektüre der Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" begonnen. Sie las mehr als die andern Mädchen und wusste am besten von allen in den theoretischen Fragen Bescheid. Das Bewusstsein, dass sie mit jedem Tag der neuen Welt näherkam - einer Welt, von der sie nie zuvor gehört hatte -, erfüllte sie mit freudiger Unruhe. Ihre ehemaligen Schulfreundinnen oder Lehrer, die sie hin und wieder traf, erschienen ihr merkwürdig beschränkt und stumpfsinnig. Selbst an ihren Bruder, der aus Angst vor einer Enteignung seines Landes Unternehmer zu werden suchte, ohne zu begreifen, dass das Los aller Eigentümer ohnehin längst entschieden sei, dachte sie jetzt mit einem Gefühl nachsichtigen Mitleids. „Gehst du heute nicht zur Arbeit?"
Die eckige Gestalt Nobujoschis schob sich zwischen die offenstehende Schoji und verdeckte das Sonnenlicht.
„Nein. Und warum bist du nicht im Dienst?" fragte Ren, ohne den Kopf zu heben.
Nobujoschi ging durch den Raum, setzte sich neben einen kleinen Tisch und sah sich schweigend um. Er ließ den Blick von dem großen Bündel in dem bunten Tuch über den Koffer zu Ren gleiten, die sich tief über ein Plakat beugte. Ihre weißen Füße schauten unter dem Saum des bunten leinenen Morgenrocks hervor, aus dem wirren Haar drohten die Nadeln jeden Augenblick herauszufallen, ihr Hals war weiß und rund. Ren bemerkte nicht, dass Nobujoschis Kinn plötzlich herabsank, als ginge ihm der Atem aus.
„Na, Nobujoschisan, hat die Gewerkschaft nun doch gesiegt?" fragte sie anzüglich. Er antwortete nicht.
„Nobujoschisan mag sich erbosen, soviel er will, das hilft alles nichts. Es ist eine historische Notwendigkeit." Nobujoschi trommelte mit den Fingern auf den Tisch.
„Was für ein großes Ereignis, wenn das Proletariat erwacht, wenn es anfängt, die Klassenstruktur der Gesellschaft zu verstehen", sagte Ren, legte die getrockneten Plakate zusammen und beugte sich über einen frischen Bogen Papier.
„Ist es wahr, dass Furukawa Schiro zum Vorsitzenden der Jugendsektion ernannt wurde?" fragte Komatsu, ohne seine Stellung zu verändern. „Warum haben sie denn nicht deinen Liebhaber gewählt?"
Als er die Worte „deinen Liebhaber" hervorstieß, bebte seine Stimme. Ren wandte sich um. „Weil Furukawasan besser dafür geeignet ist", erwiderte sie und sah Nobujoschi scharf an.
Sie hasste dieses Lächeln, dieses ganze undurchdringliche, unerschütterliche Gesicht. „In einer proletarischen Organisation wählt man die Leute nicht nach persönlichen Erwägungen. Das ist etwas anderes als die bürgerlichen Organisationen; da braucht man einem Menschen nur einen Posten zu geben, und schon fängt er an, sich wichtig zu machen!" Je mehr sie sprach, desto giftiger wurde das Lächeln Komatsus. Plötzlich stellte er eine provokatorische Frage: „Ist es wahr, dass in der Jugendsektion nur Mitglieder der Kommunistischen Partei sind?" „Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen", antwortete Ren ärgerlich.
Doch auch diese Worte schienen Komatsu nicht im Geringsten zu berühren. „Man sagt, dass es in unserer Fabrik ungefähr fünfzig Kommunisten gibt. Stimmt das?" „Weiß ich nicht. Du bist ja der reinste Spion!" Nobujoschi verließ seinen Platz, ging pfeifend im Zimmer auf und ab, betastete die herumliegenden Sachen und gähnte zwischendurch ungeniert.
Dann unterbrach er das Pfeifen und fragte: „Wollen wir vielleicht ein bisschen tanzen?"
Auch jetzt bemerkte Ren noch nichts Ungewöhnliches in seinem Benehmen. Es fiel ihr nur auf, dass er die Tangomelodie „Abschied" pfiff.
Als sie endlich mit ihrer Arbeit fertig war und aufstehen wollte, erblickte sie dicht vor sich sein Gesicht.
„Aaah! Bist du verrückt geworden?" schrie sie. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie wollte Komatsu zurückstoßen, versetzte ihm mit der freien Hand eine Ohrfeige und versuchte mit aller Gewalt, sich von ihm loszureißen. Erst in diesem Augenblick erkannte sie mit Schrecken, wie stark er war, aber es war zu spät...
Endlich gelang es ihr, seinen Kopf wegzuschieben. Mit bleichem Gesicht starrte sie ihn aus weitaufgerissenen Augen an. Er hatte ihr etwas angetan, was soviel bedeuten musste wie ihr die Tugend rauben, und doch nahm er seelenruhig seine Aktentasche und die Mütze und ging zur Tür hinaus. Das Geräusch seiner Schritte war noch lange zu hören...

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