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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Furukawa ging die Straße am Bahnhof entlang und schwenkte den Zehn-Jen-Schein, den Ikenobe ihm gegeben hatte, in der Hand. Mit abwesendem Gesichtsausdruck, als könnte er sich noch immer nicht von seinen Gedanken losreißen, betrat er eine kleine Imbissstube und bestellte eine Portion Röstkartoffeln. Er aß gierig, und jede einzelne Kartoffel erschien ihm fast als eine „Frucht der Ausbeutung". „Na, Frau Wirtin, du verdienst wohl ganz ordentlich, was?"
„Was heißt hier ordentlich? Wie soll man etwas verdienen, wenn die Lebensmittel so teuer sind", erwiderte die Wirtin und häufte eine neue Portion Kartoffeln auf seinen Teller. „Ja, gewiss." Die Lebensmittel sind teuer - also sind die Kapitalisten   ganz   einfach   Spekulanten?   Irgendetwas stimmt da nicht. Aber in dem Buch von Marx steht kein Wort über die Wirte von Imbissstuben, die Bratkartoffeln verkaufen. „Hier, junger Mann, Sie bekommen was raus." Furukawa stopfte sich ein paar Kartoffeln, die auf dem Teller liegengeblieben waren, in die Tasche und verließ das Lokal. Wie ist das nun? überlegte er. Alle Menschen, die ich ringsherum sehe, sind also entweder Kapitalisten oder Arbeiter, Ausbeuter oder Ausgebeutete.  Ein Mittelding gibt es nicht.
Ein alter Mann kam in gebückter Haltung auf ihn zu. Er trug einen Sack über der Schulter, und offenbar lag ihm nur daran, möglichst schnell an sein Ziel zu gelangen. Ein junges Mädchen trippelte vorüber; die Ärmel ihres Kimonos flatterten, üppiges Lockenhaar fiel ihr in die Stirn. Zwei Männer mit ernsten Mienen standen mitten zwischen Stapeln von Mandarinenkisten vor einem Ladeneingang und unterhielten sich. Ab und zu nickten sie mit den Köpfen. Alle diese Leute erschienen Schiro sonderbar und unwirklich.
Das Häuschen eines Polizisten, das Bahnhofsgebäude, das Lokomotivendepot... Die verworrenen Linien der Schienen, die in die Ferne liefen... Und all das war durch Ausbeutung, durch Betrug geschaffen worden!
Schiro fühlte, wie bedeutend und groß die Wahrheit war, die er soeben erst erfahren hatte. Es schien ihm, als brauchte er nur mit lauter Stimme die Existenz dieser Wahrheit zu verkünden, und der ganze Betrug ringsum würde zusammenfallen, in alle Winde zerstieben.
Er war überrascht, als er sich hinter der Bahnhofsmauer wiederfand.  Er schritt über die rostigen Schienen auf einen Kohlenlagerplatz zu. Ein Kran lud Kohle aus einem Güterzug auf kleine Loren um. Als Schiro einen alten Arbeiter bemerkte, der mit einer Schaufel den Kohlendreck zusammenkratzte, fragte er unvermittelt: „He, du! Sag mal, wie viel verdienst du?"
Der alte Mann, der eine Arbeiterjoppe mit dem Stempel der Eisenbahnverwaltung trug, richtete sich auf und sah Schiro misstrauisch an, während er mit dem Zipfel eines Handtuchs, das er um den Hals gewickelt hatte, den Schweiß vom Gesicht wischte. Vielleicht  beeindruckten  ihn  Schiros  entzündete Augen; denn nach kurzem Zögern antwortete er: „Wie viel ich verdiene? Einen Spatzendreck." „Soso... wie wir alle." Schiro trat näher. „Man muss eine Gewerkschaft organisieren und kämpfen!" „Was? Kämpfen?"
Der Alte hatte offenbar nicht begriffen. „Du wirst von den Kapitalisten ausgebeutet." „Von wem?"
„Von Kapitalisten! Die Kapitalisten, verstehst du, pressen deine Arbeitskraft aus dir heraus." „Bei der Eisenbahn gibt es keine Kapitalisten, die gehört dem Staat", entgegnete der Alte ärgerlich und griff wieder nach der Schaufel; das Gespräch langweilte ihn.
Ein junger Arbeiter erschien in der Tür des Lagerraumes, schrie etwas und stieß Schiro zur Seite. Unmittelbar über Schiros Kopf schwebte rasselnd der eiserne Greifer des Krans. Schiro ließ sich auf einen Kohlenhaufen sinken und grübelte: Der Staat? Was denn, ist das noch ein Kapitalist?
Schiro wurde vom Bahnhofsgelände verjagt. Bekümmert schritt er die Straße entlang. In einer Seitengasse bemerkte er ein kleines Schild mit der Aufschrift „Buchhandlung Rote Mütze". Er blieb stehen, schob die Hand in die Tasche und tastete nach dem Heft, in das er die unverständlichen Wörter „Produktionsverhältnisse", „Produktionsweise", „Tauschwert", „Metaphysik" und so weiter geschrieben hatte. Kurz entschlossen trat er in den winzigen Buchladen ein.
Der Name „Rote Mütze" klang recht originell, und der Inhaber sah ebenfalls ungewöhnlich aus. Er war noch nicht alt, etwa vierzig Jahre, aber völlig kahl. Er trug einen alten Pullover. In seinem Munde steckten  schwarze  Zahnstummel,   und  wenn er lächelte, dann verwandelten sich seine Augen in schmale Spalten. „Äh... erlauben Sie, ich möchte gern wissen..." Er zog das Heft hervor und reichte es dem Mann hinter dem Ladentisch, der an einer Bambuspfeiffe sog. Prüfend betrachtete er das Heft und Furukawas Gesicht, und dann leuchtete ein freundlicher Funke in seinen Augen auf. „Wo arbeiten Sie?"
„Im Werk Kawasoi, bei der Tokio-Electro-Company."
„Aha, Tokio-Electro. Soso. Na schön. Bitte, wenn Sie rauchen wollen..."
Er schob Schiro ein Hibatschi aus Porzellan hin, blätterte in dem Heft und lächelte verständnisvoll. Dann nahm er ein altes, roteingebundenes Buch aus dem Regal.
„Sehen Sie, es gibt so ein Buch, aber es ist nicht ganz das richtige für Sie."
Er überreichte Schiro den dicken Band, auf dem in Goldschrift der Titel „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie" prangte.
„Könnten Sie vielleicht etwas warten? Ich habe heute die neuen Prospekte gesehen und eine Bestellung aufgegeben. In zwei Wochen bekomme ich
ein Buch, aus dem Sie alle Kenntnisse schöpfen können, Sie brauchen." „Zwei Wochen?" Schiro sah den Ladeninhaber erschrocken an. Er wusste nicht, dass dieser Mann ein alter Kommunist war, der schon mehr als einmal für seine Überzeugung im Gefängnis gesessen hatte. Ein komischer alter Kauz, dachte Furukawa. Zwei Wochen soll ich warten? Ihm kam diese Frist wie hundert Jahre vor - bis dahin könnte er längst tot sein. „Was kostet das Wörterbuch?" Der Inhaber tat, als bemerke er Schiros Ungeduld nicht, und erklärte ihm des Langen und Breiten, dass die einzelnen Fragen in diesem Buch nicht immer vollständig beantwortet seien. Dann fügte er im geschäftsmäßigen Ton hinzu: „Der Preis ist hoch -35 Jen. Ich habe dem Antiquar viel dafür bezahlen müssen."
Schiro stand hastig auf. „Gut, ich hole das Geld." Der Buchhändler rief ihm nach: „Halt, halt! Sie können es am Monatsende bezahlen!"
Schiro hörte es nicht, er war schon weit weg.

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