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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Die Abenddämmerung senkte sich herab. Ren und Schinitschi stiegen den Uferdamm des Tenrju hinunter; wie ein Kind hielt sie sich an Schinitschis Ärmel fest.
Schinitschi hatte Ren noch nie so bedrückt gesehen. „Was hast du denn?"
Er verlangsamte den Schritt; Ren aber wandte das Gesicht ab und antwortete nicht.
Nach der Versammlung hatten sich alle vor Arakis Haus verabschiedet und auf den Heimweg gemacht. Schinitschi wählte den einsamen Weg am Flussufer. Er hatte die Absicht, Ren nach Hause zu begleiten; aber als sie an die kleine Hängebrücke kamen, schüttelte Ren den Kopf und verzog das Gesicht. Sie gingen weiter, bogen um Felsvorsprünge und kletterten über die Erdwälle zwischen den Feldern.
„Fällt es dir jetzt schwer, im Gemeinschaftsheim zu wohnen?"
Ren blieb mit hochgezogenen Schultern stehen, das Gesicht dem Fluss zugewandt, und schwieg. Traurig stand sie auf den Steinen in ihrer weißen Jacke und dem roten Röckchen.
Schinitschi fühlte sich verantwortlich dafür, dass sie in das Gemeinschaftsheim gezogen war. Er hatte auf Grund seiner Vorstellung von der Klassenmoral dazu geraten; zugleich aber litt er unter der Sorge, ob sie es aushalten würde. „Kannst du nicht mehr dort bleiben?"
Ren schüttelte den Kopf. „Was sonst?"
Er ging weiter und fühlte, wie Ren sich an seinen Ärmel klammerte. Er war verwirrt. Warum haben die Frauen so schwierige, unbegreifliche Gefühle und Stimmungen? Ständig wechselten ihre Launen. Er erlebte Ren zum ersten Mal so schüchtern und sanft. Noch nie hatte er so leicht und einfach mit ihr gesprochen. Sie kam ihm schutzlos vor wie ein Grashalm am Wege.
„Nein, ich weiß, es muss wirklich schwer sein für dich. Ich bin von Kind auf daran gewöhnt, deshalb macht es mir nichts aus. Ich glaube, du kannst dich kaum an das Essen in der Fabrikkantine gewöhnen."
Sie erreichten einen Erdwall, und Schinitschi ließ sich unter einigen abgeblühten Kirschbäumen nieder.
„Es ist eben alles Kampf..."
Er versuchte mehrmals, seine Zigaretten aus der Tasche zu ziehen; doch Ren hielt ihn noch immer fest.
In Gedanken erblickte sie das Gesicht Kassuga Schinobus, als sie mit dem Besen ausholte und rief: Plakate kleben - das hat sie wahrscheinlich noch nie gemacht! Die Worte brannten Ren im Herzen.
„Um besser und tiefer von dem sozialistischen Bewusstsein durchdrungen zu werden, muss man das Leben und den Kampf der Arbeiter selbst kennenlernen und durchmachen."
Schinitschi merkte nicht, dass Ren bei diesen Worten kaum die Tränen zurückzuhalten vermochte und sich in die Lippen biss. Hatte er doch gerade das ausgesprochen, was sie quälte.
Endlich ließ sie seinen Ärmel los, und er drückte ihre Hand. „Du bist dünner geworden."
Sie warf sich ihm zu Füßen und schmiegte den Kopf gegen seine Knie; ihr Körper bebte in verhaltenem Schluchzen.
Schinitschi legte den Arm um ihre Schultern und blickte auf den Fluss, der wild rauschend zwischen den steilen Ufern dahin strömte. Die Sonne war untergegangen, und in der Dämmerung leuchtete der weiße Schaum der Wellen, die sich an den Felsen brachen. Schinitschi fühlte durch den Stoff seines Kimonos hindurch die feuchten, warmen Wangen des Mädchens und zerbrach sich den Kopf, warum sie weinte. „Du wirst dich daran gewöhnen", suchte er sie zu trösten. Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Als er merkte, dass er sie noch immer umfasst hielt, geriet er in Verlegenheit: Sollte er die Hand wegnehmen oder nicht? Wie sollte er sich überhaupt in dieser Situation benehmen? Sie erschien ihm hilflos, einfach und mädchenhaft, und er musste wieder an den Grashalm am Wege denken. Sie war ihm so nah und teuer in diesem Augenblick, dass er den Mut fand, sie fest in seine Arme zu schließen. „Und wenn du alles überwunden hast, dann wirst du ein prächtiges Mädchen sein."
Ren aber litt nicht, weil sie sich an das Essen in der Kantine oder an das Reinigen der Toiletten gewöhnen musste. Viel schwerer war es, Beleidigungen zu ertragen und zuzugeben, dass sie sie verdient hatte. Schwer war es, die Mängel einzugestehen, die sie bisher nicht an sich bemerken wollte - ihre Dünkelhaftigkeit, die an Hochmut grenzte, ihr Bestreben, ständig andere zu kommandieren, alles nach ihrem Willen gehen zu lassen, jeden zurechtzuweisen, der sich dagegen aufbäumte.
Ihre Einstellung zu den anderen Mädchen hatte sich ganz unbewusst ergeben, als Folge der Gewohnheiten, die man ihr als Kind eingeimpft hatte. Jetzt fühlte sie sich tief verletzt, und das tat weh.
„Hörst du? Du wirst gewiss damit fertig werden. Das meiste ist ja schon überstanden", flüsterte Schinitschi und streichelte sie. „Du schaffst das Letzte auch noch, und dann liegt ein neuer Weg ins Leben vor dir. Ja, man muss sich selbst überwinden..." Schinitschi verstummte; er fühlte, dass man diese Worte auch auf ihn anwenden konnte. Hatte er sich denn selbst überwunden? Hatte er nicht sein Aufnahmegesuch in die Partei immer wieder umgeschrieben und dann doch
liegengelassen?
Ren hob den Kopf und blickte Schinitschi forschend an. „Es ist dir wahrscheinlich widerwärtig, so ein kleinbürgerliches Geschöpf wie mich anzusehen!" sagte sie schließlich. „Wieso?"
„Weil..." Sie schlug die Augen nieder und zerrte mit beiden Händen am Kragen seines Kimonos. Dann lächelte sie unvermittelt und barg ihr Gesicht rasch an seiner Brust.
„Genug! Alles wird gut."
„Wirklich?"
„Natürlich. Ich glaube, wir sind jetzt ein bisschen klüger geworden, nicht wahr?"
Sie nickte folgsam wie ein Kind. Er gab einer plötzlichen Aufwallung nach, legte die Arme um ihre Schultern und zog sie an sich.

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