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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Als am Nachmittag in der Montagehalle zwei der Aufruf an den Stützpfeilern klebte, stellte sich die kleine Jamanaka Kiku immer wieder auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um von ihrem Platz an der Maschine aus den Text zu lesen. Aber da sie kurzsichtig war und die Schriftzeichen vor ihren Augen verschwammen, konnte sie nichts entziffern. Außerdem war sie böse auf Oikawa Mitsu, die an der Maschine neben ihr arbeitete.
Oikawa Mitsu, ein großes, schlankes Mädchen mit blassem Gesicht, las laut, ohne sich von ihrem Platz zu rühren: „,An alle! Wir gründen eine Gewerkschaft. Unser Ziel ist die Erhöhung der Löhne.' Ist das denn möglich? Was meinst du?" Jamanaka Kiku vermied hartnäckig, Mitsu anzusehen, und antwortete nicht. Sie kochte innerlich. Wie konnte Mitsu es wagen, sich auch noch anzubiedern?
Die Gespräche über den Anschlag versetzten die ganze Abteilung in Aufruhr. Dieser Anschlag ähnelte in keiner Weise den Bekanntmachungen, die gewöhnlich hinter dem Tisch des Abteilungsleiters hingen. Das Plakat klebte an einer Säule, mitten in der Werkhalle. Obermeister Kassawara saß an seinem Arbeitstisch und tat, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an; aber die Arbeiterinnen wussten, dass er zu der „Initiativgruppe" gehörte, die den Aufruf unterzeichnet hatte. „Ist das denn möglich?"
„Was ist eigentlich eine ,Gewerkschaft'?" hörte man flüstern.
Die jungen Mädchen waren es noch nicht gewohnt, ihre Meinung zu äußern, selbst dann nicht, wenn es sich um die Erhöhung ihrer Löhne handelte.
Doch sie spürten, dass sich hinter der Sache etwas Ernsthaftes verbarg. Obermeister Kassawara tat nicht dergleichen, aber die Kontoristin Toki Hana ging durch die Abteilung und erklärte den Arbeiterinnen leise, was eine Gewerkschaft ist. Alles geschah heimlich, also gegen den Willen der Company.
Das war sehr aufregend.
in der Abteilung, in der fast nur Frauen beschäftigt waren, wurde es unruhig. Wäre nicht das unablässig weiterrollende Fließband gewesen, dann hätte es wahrscheinlich in einigen Ecken der Halle geheime Zusammenkünfte gegeben.
Die Frauen und die Mädchen saßen an den Längsseiten des Fließbandes in Abständen, die durch die Zeit für die Montage der einzelnen Teile bestimmt waren. Spulen wurden gewickelt, Gehäuse montiert, Skalen und Achsen geprüft. Am Ende der Halle wurde alles auf ein anderes Fließband übergeleitet, das in entgegengesetzter Richtung lief. Hier verwandelten sich die Einzelteile in Zähler, wie man sie überall in Japan in jedem Haushalt sehen kann. „Na schön, ich sehe es mir mal an." Die mutige Jamanaka Kiku stoppte die Maschine, trat vor den Pfeiler, stützte die Hände in die Hüften und las. Sie begriff selbst nicht, wie sie die Kühnheit aufbrachte, etwas so Unerhörtes zu tun.
„Na und? Stimmt's?" erkundigte sich Oikawa Mitsu, als Kiku an ihren Platz zurückkehrte; aber sie bekam keine Antwort. Kiku umwickelte geschickt einen vierkantigen Metallstab mit Isolierband, trat auf das Pedal und zog den Hebel heran. Dünne, mit bloßem Auge kaum wahrnehmbare Drahtfaden ringelten sich aus der Spulmaschine.
„Was meinst du, werden wir mehr Lohn bekommen, wenn es eine Gewerkschaft gibt?" fragte Oikawa Mitsu.
Sie war erst siebzehn Jahre alt, aber größer als Kiku. Ständig kaute sie irgendetwas. In dem schwarzen Arbeitsanzug mit den engen Ärmeln wirkte sie sehr mager. Die großen Augen in dem bleichen, vor Kälte blauangelaufenen Gesicht fielen besonders auf. „Aber ob es ohne Streik gehen wird? Ich glaube
kaum...", meinte sie. „Streik? Was meinst du denn damit?" Kiku war nach wie vor böse auf Mitsu. Natürlich wusste sie, was ein Streik war, aber ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Sie dachte auch nicht mehr daran, dass man sie vor ein paar Tagen überredet hatte, die Broschüre „Was muss man von den Gewerkschaften wissen?" zu kaufen. In dieser Broschüre gab es eine unglaubliche Menge chinesischer Schriftzeichen. Kiku hatte versucht, die Stellen zu lesen, die in japanischen Silbenzeichen (Anm.: Die moderne japanische Schrift ist eine Mischung von chinesischen Schriftzeichen und japanischen Silbenzeichen.) gedruckt waren; doch all das erschien ihr so uninteressant, dass sie die Broschüre sofort in ihren Kleidersack steckte und nicht wieder anrührte.
Kiku hielt Oikawa Mitsu für eine Diebin. So eine freche Person! Von zehn Fladen, die Jamanaka Hatsue in eine Zeitung gewickelt und in ihren Wandschrank gelegt hatte, war nur noch die Hälfte übrig. Außer den Zimmergenossinnen kam niemand als Dieb in Frage; natürlich war es Mitsu, die schon früher mitunter heimlich fremde Brotrationen aufgegessen hatte, dachte Kiku.
Mitsu stammte nicht aus einer Bauemfamilie. Ihr Vater, ein Schuhmacher in Schimo-Suwa, war seit langem schwer krank. „Ach, wie schön wäre es, wenn wir mehr Lohn bekämen", sagte sie kindlich naiv. Mit gewohnter Bewegung streckte sie die Hand nach dem Hebel aus, nahm die fertige Spule von den Eisenstangen ab, legte sie aufs Fließband, griff von neuem nach dem Hebel und steckte eine Hand in die Tasche. „Ich bin mit allem einverstanden, auch mit einem Streik", sagte sie mit ihrer monotonen, singenden Stimme. Die sechs Spulmaschinen zu beiden Seiten des Fließbandes führten die gleichen Arbeitsgänge aus; Mitsu schaffte ebenso viel wie die andern; doch ihr Lohn betrug nur zwei Drittel von dem, was Kiku. verdiente - drei Jen fünfzig Sen täglich.
„Ah, Mitsutjan isst etwas Schönes!" rief Kiku hitzig. Sie konnte sich nicht länger beherrschen und blickte das Mädchen, das gerade etwas in den Mund schob, wütend an.
Mitsu aber beobachtete aufmerksam die Drehungen der Spule und schwieg.
Kiku leckte einen Bleistift an und kritzelte auf einen Zettel: „Ich weiß, wer die Fladen gestohlen hat." Auf die Rückseite schrieb sie: „An Jamanaka Hatsue." Dann legte sie den Zettel heimlich, damit Mitsu es nicht sähe, auf das Fließband. Mitsu hatte nichts bemerkt. Ihr Gesicht war noch bleicher geworden als sonst, und sie riss die Augen weit auf; ihr war schwindlig...
Die Spulen kommen von der Maschine auf das Fließband, werden mit Isolierband umwickelt und weitergeschickt bis zum Arbeitsplatz von Jamanaka Hatsue. Sie sitzt vor einem Widerstandsmesser, greift flink nach den Spulen, die das Fließband heranträgt, und drückt die Enden der Drähte in eine Steckdose. Der Zeiger schlägt aus, und wenn er einen bestimmten Strich auf der Skala erreicht hat, dann legt Hatsue die Spule rasch wieder auf das Band und greift nach der nächsten. Erreicht der Zeiger nicht den gewünschten Teilstrich, so drückt Hatsue einen Stempel „Ausschuss" auf und wirft die Spule in einen Korb. Es ist eine monotone, ermüdende Arbeit. Hatsues Bewegungen sind gleichmäßig wie die eines Uhrwerks. „Hör mal, Hatsutjan, diese Gewerkschaft gefällt mir nicht. Es sind also nur die Arbeiter, die das anzetteln?" fragte Tojoda Schige, die mit dem Rücken zu Hatsue in einer Gruppe von Arbeiterinnen saß. Sie schraubte die Zählergehäuse fest. „Da wir Arbeiter sind, ist es auch unsere Sache. Es wäre doch schön, wenn man uns den Lohn erhöhen würde."
„Natürlich! Richtig!" riefen Stimmen von allen Seiten. Hatsue aber sagte nichts mehr; sie war noch schweigsamer als gewöhnlich.
Woher kam überhaupt mit einem mal dieses Potsdamer Abkommen? Wer war stärker, das Potsdamer Abkommen oder die Company? Und die japanische Regierung - war sie mit dem Abkommen einverstanden oder nicht?
Hatsue hatte die Broschüre über die Gewerkschaften viel aufmerksamer und mit viel größerem Interesse gelesen als Kiku; trotzdem verstand sie nicht ganz, was dieses Abkommen bedeutete. Auch für sie war es etwas ganz Neues. So etwas hatte es noch nie gegeben. Zweifellos stand alles, was hier vorging, in irgendeinem Zusammenhang mit diesem Potsdamer Abkommen.
Die zurückhaltende, verschlossene Hatsue nickte nur als Antwort auf alles, was die Freundinnen zu ihr sagten, oder sie lächelte schweigend, wobei sich in ihren Wangen kleine Grübchen bildeten. In Wirklichkeit war sie erregt. Als sie zusammen mit einer Spule den Zettel Kikus erhielt, ihn umdrehte und las, dachte sie nur: Ach, diese Kikutjan! Immer weiß sie alles früher als die andern. Sie sollte lieber nicht so voreilig sein! Sie schob den Zettel in die Tasche und vergaß ihn sofort. „Jamanakasan, einen Augenblick..." Toki Hana beugte sich zu Hatsue hinunter und flüsterte ihr ins Ohr, dass sich alle Angehörigen des „Beratungskomitees" nach der Arbeit im Speisesaal versammeln würden.
„Hörst du? Hast du verstanden?" fragte Toki Hana noch einmal. Hatsue errötete und nickte. Hana wollte weitergehen, da stieß sie plötzlich einen Schrei aus und stürzte auf die gegenüberliegende Seite des Raumes. Hatsue sah, wie sie zu den Spulmaschinen rannte, begriff im ersten Augenblick aber nicht, was los war.
„Jamanakasan! Hatsutjan!" vernahm sie Kikus Stimme. Hatsue sprang auf; Meister Kassawara lief an ihr vorbei. Einige Arbeiterinnen hatten sich neben den Spulmaschinen versammelt, und eine rief: „Sie ist ohnmächtig geworden!"
„Rasch, bringt sie ins Ambulatorium", ordnete Kassawara an. „Hatsutjan!" rief Kiku mit kläglicher Stimme. Sie hatte Oikawa Mitsu die Hände unter die Achseln geschoben und versuchte, sie aufzurichten. Mitsu war bleich wie der Tod, ihre Augen waren geschlossen, und ihre Arme hingen kraftlos herab. Neben ihr auf dem Fußboden lag ein Stückchen Rettich.

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