25
Schinitschi eilte in sein Zimmer, zog seinen guten Anzug an und band eine Krawatte um. Dann überlegte er einen Augenblick und starrte zerstreut die Wand an. Plötzlich riss er die Krawatte wieder vom Hals und zog den Anzug aus. Ruhig, nur ruhig, befahl er sich selbst.
Er schlüpfte in eine verschossene blaue Joppe, warf einen alten schwarzen Mantel über die Schultern und stülpte eine gelbe Sportmütze auf den Kopf. Eine Zeitlang blieb er mit gespreizten Beinen stehen, ohne sich zu rühren, die Hände in den Taschen, und betrachtete aufmerksam die Bastmatten, die den Fußboden bedeckten.
Wenn sie von dem Wiedersehen mit ihm enttäuscht war, dann konnte man eben nichts machen...
Ohne in den kleinen Spiegel zu blicken, der auf dem Tisch stand, stieg Schinitschi in die Diele hinunter, zog die am meisten abgetragenen Getan an, die dort herumlagen, und trat in einem Gefühl trotziger Verzweiflung auf die Straße hinaus.
Raschen Schrittes ging er durch eine belebte Straße, an einem Kino vorüber; doch er bemerkte nichts von seiner Umgebung. Der eisige Wind rötete sein Gesicht Die Allee, in der Ren ihn erwartete, lag hinter dem Bahnhofsgebäude von Kami-Suwa. Früher war hier ein Vergnügungspark mit einer Reitbahn gewesen. Da war sie!
Kaum dass er Ren erblickte, schien alles ringsum in hellem Licht zu erstrahlen. Sie trug ein rundes Hütchen auf dem Kopf, Überschuhe an den Füßen und hatte die Hände tief in den Taschen ihres blauen Mantels vergraben. So stand sie neben einem jener uralten Bäume, die als Sehenswürdigkeit galten, und wandte ihm den Rücken zu.
Als er näherkam, drehte sich das runde Hütchen jäh um, und Ren neigte lächelnd die Stirn. Sie hatte Schinitschi schon von weitem erkannt, bevor er sie bemerken konnte. Gleich nach dem kurzen Gruß versteckte sie sich hinter dem dicken Baumstamm. Sie fürchtete wohl, dass jemand sie beobachten könnte.
Schinitschi hob hastig die Hand an die Mütze. Ohne ein Wort zu sagen, ging er um den Baum herum. Aber Ren war nicht mehr da. Sie war weitergegangen und schritt jetzt durch eine kleine Gasse, die hinter einem Badehaus entlangführte.
Die Sonne schien hell, und ganz nah schimmerte der See. Ein kalter Wind wehte. Auf den Zäunen trockneten Netze, welke gelbe Chrysanthemen hingen über eine Gartenmauer. Schinitschi hatte Ren fast eingeholt, als sie ebenfalls den Schritt beschleunigte, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass er nicht näher herankommen dürfe.
Schinitschis Verlegenheit wurde immer größer. In diesem Augenblick glich Ren dem jungen Mädchen auf der Fotographie überhaupt nicht. Der alte Mantel den sie schon im College getragen hatte, und der dunkelblaue Wollrock, der darunter hervorschaute, sahen sehr einfach aus. Die Wangen des Mädchens waren blau vor Kälte.
Als sie an den kleinen Fluss kamen, der in den See mündet, blieb Ren unvermittelt stehen und wandte sich zu Schinitschi um. „Ich... Nun bin ich gekommen...", stammelte sie.
Er blickte schweigend in ihr bleiches Gesicht. Die Erregung des Mädchens übertrug sich auf ihn und ließ sein Herz schneller schlagen. Ihre weitaufgerissenen, strahlenden Augen schienen zu sagen: Siehst du, hier bin ich, und gleichzeitig lag ein stiller Vorwurf darin: Und das alles deinetwegen.
Schinitschi litt innerlich Qualen. Er wusste, dass er sie eigentlich in die Arme nehmen und fest an sich drücken müsste. Nie gekannte Empfindungen durchströmten ihn. Jenes Gefühl, ihre Beziehungen zueinander wären zu wenig „erhaben", war auf einmal verschwunden.
Trotzdem war er außerstande, sich von der Stelle zu rühren.
„Weiß man denn bei Ihnen zu Hause davon?" fragte er und war sich bewusst, dass diese Worte weder seine eigenen noch ihre Gefühle ausdrückten.
Das Leuchten in ihren Augen wurde sofort schwächer und erlosch gleich darauf ganz. Sie senkte den Kopf.
„Natürlich, das kann ja gar nicht anders sein", verbesserte Schinitschi sich erschrocken. „Jeder Mensch muss schließlich arbeiten."
Langsam kam Farbe in ihr Gesicht. Als sie die Augen niederschlug, fiel Schinitschi zum ersten Mal auf, was für schöne Wimpern sie hatte. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, zog die Winkel ihres eigenwilligen Mundes herab, machte auf den Absätzen kehrt und lief mit raschen Schritten davon.
Schinitschi war außer sich. Er hatte dieses Wiedersehen herbeigesehnt und fast den Kopf verloren, als er ihre Augen erblickte, die ihm so deutlich sagten: Da bin ich, siehst du ... - doch er fand die Worte nicht, um seine Gefühle auszudrücken.
Sie gingen am Seeufer entlang. Um die Pfähle, die aus dem Wasser herausragten, und um die Schilfrohrstengel hatte sich Eis gebildet; weiter draußen aber wogten langsam schwere, bleigraue Wellen. Ab und zu flogen weiße Schaumspritzer auf. Der Wind zauste die kahlen Zweige der alten Trauerweiden, die wie zerrauftes Haar aussahen."
„Ich... Natürlich, ich kann ja nicht dagegen sein."
Aber was so leicht aus der Feder floss, das ließ sich nicht ohne weiteres laut aussprechen. Schinitschi wusste nicht mehr, wo sie sich befanden und ob es heiß oder kalt war. Er bemerkte nicht, dass Ren den Schritt verlangsamte, an seiner Seite blieb und ihm den Kopf zuwandte. Er spürte nicht, dass sich ihre Stimmung verändert hatte.
„Ich glaube nur... Ich finde, dass die Liebe... Die Liebe muss unbedingt die Seele des Menschen erheben . . .", sagte er und errötete vor lauter Verlegenheit bei jedem Wort mehr.
„Jaja", rief Ren plötzlich und packte Schinitschi am Arm. „Wir wollen dort hingehen, ja?" Sie zeigte auf die hohe Betonmauer des Rohrwalzwerks „Tojo", die einen langen Schatten auf die Wasserfläche warf. „Ich weiß. . ."
Schinitschi wunderte sich über den neuen Klang in ihrer Stimme. Ein zärtliches Lächeln erhellte ihre Züge.
„Ich habe alles verstanden. Sie sind wirklich ein guter, anständiger Mensch", sagte sie demütig. Sie ließen sich an einer windgeschützten Stelle unter der Mauer im welken Gras nieder.
„Sie werden in der Fabrikverwaltung arbeiten?" erkundigte sich Schinitschi.
„Ja."
„Und wann fangen Sie an?"
„Morgen. Morgen beginnt gerade ein neuer Monat."
Ihre Stimme war sanft. Sie drehte ihr Taschentuch zwischen den Händen, und ihr Gesicht im Schatten des Hutrandes sah kindlich aus.
Schinitschi vermied es immer noch, sie anzuschauen; aber diese Ren, die da neben ihm saß, war ihm verständlich und nahe. Langsam stieg ein Glücksgefühl in ihm auf.
In der Ferne, am gegenüberliegenden Ufer, sah man das Dorf Kogutschi in einem leichten, nebligen Dunst verschwimmen, den die Sonnenstrahlen bald blau bald violett färbten. Die kleinen und großen Häusel zogen sich bis dicht ans Wasser hinab.
„Wo werden Sie wohnen? Im Fabrikheim?"
„Nein, bei den Komatsu, in der Siedlung Sanbonmatsu." Das runde Hütchen schwankte, und sie verbesserte sich: „Ich meine, bei Verwandten in Sanbonmatsu. Von dort gehe ich zur Arbeit."
Das alles war Schinitschi ganz gleichgültig. Ren lachte, und ihr Kopf sank unvermutet an seine Schulter. Er staunte.
„Ich freue mich so!" Wie eine kleine, zarte Blüte tauchte ihr Gesichtchen plötzlich dicht vor seinem Kinn auf. „Ich werde jeden Tag in die Versuchshalle gehen, zum ,Täuberich' ... Ich werde schon einen Grund finden..."
Schinitschi sah Ren nicht an, und doch verstand er sie jetzt. Das runde Hütchen schaukelte vor seinen Augen, und die zärtliche, weiche Stimme umschmeichelte seine Ohren.
„Ja, Sie sind wirklich ein guter Mensch ... Ich will auch anfangen zu lernen. Dort in den Bergen ist es so langweilig ... Wissen Sie, ich habe großen Respekt vor Ihnen!"
Schinitschi saß stocksteif. Was würde sie in ihrer Leidenschaftlichkeit nur noch alles sagen? In diesem Augenblick fiel ihm ein, wie der Direktor ihn angeschrien hatte: „Macht, dass ihr rauskommt!" Die Beleidigung hatte sein Selbstbewusstsein empfindlich getroffen, und die Erinnerung an diese Szene war
so bedrückend lebendig, dass er es nicht fertigbrachte, Ren anzuschauen. „Ich werde arbeiten, und meine Angehörigen werden wohl auch bald keine Gutsbesitzer mehr sein", fügte sie leise hinzu.
„Was sagen Sie da? Warum denn?"
„Wie, Schinitschisan, das wissen Sie nicht?" Sie rückte ein wenig von ihm ab. „Ich habe gehört, es soll ein Gesetz herauskommen, eine Reform oder wie das heißt ... Mein Bruder ist schon ganz außer sich. Er will den Wald und das Land verkaufen und eine Fabrik aufmachen."
Schinitschi war verblüfft. Er wunderte sich, dass sie über die Bodenreform in einem so gleichgültigen, unbeteiligten Ton sprach und dass sie so sorglos dabei lächelte.
Nun blickte er sie doch an und fühlte, dass sie ihm noch näher gekommen war.
„Was Sie nicht sagen! Das ist doch sehr schlimm für Ihre Familie."
„Na ja, natürlich ist es schlimm."
Ren lächelte spöttisch. Dann erhob sie sich plötzlich und machte ein paar Schritte.
Schinitschi sprang auf und ging hinter ihr her. Sie tat ihm auf einmal leid, und er hätte ihr das gern gesagt.
„Aber ich kann doch auch nichts dagegen tun!" flüsterte sie mit abgewandtem Gesicht und zuckte mit den Schultern, als wollte sie eine drückende Last abwerfen.
Ja, das stimmt, dachte Schinitschi. Für sie muss das viel schwerer sein als für unsereinen, der gar keinen Überfluss kennt. Wird dieses kleine Mädchen, das da gesenkten Hauptes vor mir geht, die rauen Stürme des Lebens ertragen können, die ihm drohen? „Hören Sie..." Fast unbewusst legte er ihr die Hand auf die Schulter. Das war seine erste kühne Geste „Eine neue Zeit wird kommen, auch wenn Sie kein Land mehr haben. Die Hauptsache ist, dass man arbeiten kann. Alle werden gleich sein..." Er suchte nach den passenden Worten und blickte ihr in die Augen. Doch sie schienen undurchdringlich. „Sie... haben gewiss von dem Potsdamer Abkommen gehört?"
Mit einem Ruck befreite Ren ihre Schulter und lief rasch weiter. „Nein, davon habe ich nichts gehört", sagte sie abweisend.
Nun verstand Schinitschi sie wieder nicht mehr. Er senkte den Kopf und folgte ihr. Ohne dass sie es merkten, entfernten sie sich vom See und gingen wieder durch die Gasse hinter dem Badehaus. „Halt!"
Ren drehte sich jäh um, so dass Schinitschi beinahe mit ihr zusammengeprallt wäre, und drängte ihn durch eine Zaunlücke auf einen schmalen Pfad.
Sie presste sich an ihn und verbarg ihr Antlitz an seiner Brust.
Takenoutschi Tadaitschi und Komatsu Nobujoschi in braunen Ledergamaschen marschierten dicht an ihnen vorbei und unterhielten sich laut.
„Ob sie uns gesehen haben?" Ren griff nach Schinitschis Händen und drückte sie heftig. Ihr aufgeregtes Gesicht näherte sich dem seinen. Ein ängstlicher Schatten huschte darüber hin und verschwand gleich wieder. „Und wenn, mir ist es gleich." Und dann geschah es - ihre schwarzen Augen blitzten, sie hob sich auf die Zehenspitzen, und ihre Lippen berührten die seinen. Schinitschi wusste selbst nicht, wie es kam, aber auf einmal durchströmte eine ungeahnte Kraft seine Arme. Mit einem kurzen Aufschluchzen schmiegte sich das Mädchen an seine Brust.
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