Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
http://nemesis.marxists.org

38

Eine Stunde später erschien Schiro wieder in dem Buchladen, und kurz danach verließ er ihn mit dem „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie" unter dem Arm.
Er hatte sein ganzes Eigentum, ein Sommerhemd, das er bei der Demobilisierung erhalten hatte, aus dem Rucksack genommen und in dem kleinen Laden hinter dem Lokomotivendepot bei jenem Wucherer versetzt, zu dem ihn damals die gepuderte Frau geführt hatte.
Lächelnd blätterte Schiro die Seiten um. „Abstrakt - unanschaulich, auf Allgemeines bezogen... Konkret - wirklich, gegenständlich, greifbar..."
Die meisten Erklärungen in dem Wörterbuch waren schwer verständlich, aber das, was er zu erfassen vermochte, beeindruckte ihn tief. Es war, als zerrisse der Wind eine Nebelwand.
Schiro glaubte, er müsste sofort alles, was er gelernt hatte, an sich selbst erproben. Er hatte viel gesehen und erlebt; doch in seinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander; jedesmal aber, wenn er sich über etwas klar wurde, schien alles ringsum plötzlich in hellem Licht zu erstrahlen.
Trotzdem war vieles merkwürdig; der Mann zum Beispiel, der dieses Buch geschrieben hatte, oder der Inhaber des Buchladens... Es gab also eine ganze Menge Leute, denen die Wahrheit schon lange bekannt war. Warum schwiegen sie? Warum saßen sie mit den Händen im Schoß da und beobachteten kaltblütig diese ganze ungerecht geordnete Welt?
Schiro wich mit knapper Not den Radfahrern und Wagen aus und erreichte schließlich die Eisenbahnüberführung. Dort bot sich ihm ein seltsamer Anblick.
Ein Mann lehnte am Zaun und schrie mit heiserer Stimme: „Die Zeitung ,Akahata', das Organ der Kommunistischen Partei Japans!" Neben ihm stand ein junges Mädchen mit einem Packen Zeitungen unter dem Arm; sie schwenkte eine Glocke und rief: „Die neue Ausgabe der ,Akahata'! Einen Jen!" Der Mann und das Mädchen waren klein, untersetzt und sahen sich sehr ähnlich - wahrscheinlich Vater und Tochter. Das Mädchen hatte ein hübsches Gesicht und trug einen grellbunten Haori und eine rote Schürze. Schiro schien es, als klingelte das Mädchen nur für ihn. „Geben Sie mir fünf Stück!"
Furukawa reichte dem Mädchen einen Fünf-Jen-Schein. Er wollte die Zeitungen für Ikenobe, Onoki und zwei andere Kollegen mitnehmen. Als ihm das Mädchen versehentlich nur ein Exemplar gab, wiederholte er noch einmal: „Fünf, bitte!" Doch kaum hatte er die Zeitung entfaltet, als er mit veränderter Stimme sagte: „Nein, lassen Sie, eine genügt."
In der Mitte der aufgeschlagenen Seite prangte eine Karikatur mit der Unterschrift: „Kriegsverbrecher Kaiser Hirohito." Seine Majestät trug eine Brille und hielt ein abgebrochenes Schwert in der Hand, das einer Säge ähnelte. Schiro war fassungslos.
„Kaiser Hirohito! Kaiser Hirohito!" murmelte er vor sich hin, während er nach Hause lief. In seinem Zimmer setzte er sich aufs Bett und betrachtete die Zeitung von neuem.
Schiro war zumute, als hätte man ihm einen Schlag in die Herzgrube versetzt. Erst jetzt erfuhr er, dass Seine Majestät der Kaiser „Hirohito" hieß. Es wollte ihm nicht in den Kopf. Der „Tenno" hatte plötzlich einen Namen wie andere Menschen auch!
„Kriegsverbrecher Kaiser Hirohito" stand unter der Karikatur, weiter nichts. Nun ja, das war auch nicht nötig.
Die zerbeulte Mütze des Oberkommandierenden bedeckte den Kopf des Kaisers, die Unterlippe hing herab, sein Blick war stumpf und blöde, und er hielt das Schwert, als wollte er zum Schlage ausholen. Schiro wollte die Zeitung zerreißen, aber er vermochte es nicht. Seine Hände zitterten.
Er ärgerte sich über den Zeichner dieser Karikatur. Es war, als wäre ein Altar, den er sich im Herzen errichtet hatte, krachend zusammengestürzt. Er starrte auf die Zeitung und biss sich in die Lippen.
Seine Seele war verwundet; doch er hatte nicht die Kraft, den Schlag zu erwidern. Sekunde um Sekunde verrann; die Hand, die nach der Zeitung gegriffen hatte, erlahmte und sank herab.
Was bedeutete das? Warum schwankte er? Ihm fiel ein, wie er vor kurzem mit Inoue über den Kaiser gestritten hatte. Mit den Fäusten war Schiro über Inoue, einen demobilisierten Soldaten wie er selbst, hergefallen, weil der geschrien hatte: „Ich spucke auf deinen Kaiser! Er war schuld an diesem Krieg!"
In Schiros Vorstellung gab es keinen Zusammenhang zwischen dem Potsdamer Abkommen, dem Buch „Lohnarbeit und Kapital" und der Person des Kaisers. Der Zusammenhang zwischen dem Krieg und den Kapitalisten war ihm schon klargeworden, aber der Kaiser hatte seiner Meinung nach nichts mit den Kapitalisten zu tun.
Das Gesicht des Kaisers auf der Karikatur schien sich ständig zu verändern. Zuerst war es trübe wie hinter einem Nebelschleier, dann traten die hängende Lippe und der idiotische Blick wieder deutlich hervor. Allmählich verschwand der Kaiser, und an seiner Stelle erschien ein stumpfsinniges Männchen mit dem Namen Hirohito. Und auf einmal schob sich das Bild der toten Mutter zwischen Schiro und den Kaiser. So klar sah er sie vor sich, als stände sie hier neben ihm. Sie war hager, und ihr weitaufgerissener Mund über dem spitzen Kinn schrie ihm etwas zu. Schiros Lippen begannen zu zucken. Er hatte sich noch nicht ganz von der Erschütterung beim Anblick der Karikatur erholt, aber merkwürdig - jetzt interessierte sie ihn nicht mehr. Die Kaiserkarikatur kehrte auf das grobe, graue Papier zurück, und nur das Gesicht der Mutter blieb deutlich. Schiro stützte das Kinn in die Hand und seufzte tief auf.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur