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Als Hatsue gegangen war, fand Schiro keine Ruhe mehr. Er lief im Zimmer auf und ab, schob die Schoji auseinander, pfiff und trat auf die Galerie hinaus. Er hatte den Wunsch, sich auszusprechen. In diesem Augenblick hielt er sich für den glücklichsten Menschen auf der Welt. Er empfand Gewissensbisse, als wäre er vor allen Menschen schuldig.
„He! He!" schrie er und beugte sich über das Geländer. Die Köchin des Gemeinschaftsheims ging mit einem Korb über den Hof. Sie war offenbar auf dem Wege in die Stadt, um einzukaufen. Als sie Schiro rufen hörte, hob sie ärgerlich den Kopf. „Was wollen Sie denn?" „Ach, nichts..." Die Frau drohte ihm mit dem Finger und ging weiter.
Es war noch nicht Feierabend, und keiner von Schiros Freunden ließ sich blicken.
Er kehrte ins Zimmer zurück, nahm einige Mandarinen aus dem Päckchen, das Hatsue mitgebracht hatte, warf sie in die Luft, fing sie wieder auf und streichelte sie. Dann streckte er sich auf den Bastmatten aus.
Seine Liebe zu Hatsue, die erste Liebe seines Lebens, fegte alle trüben Erinnerungen und Gedanken mit einem Schlage hinweg. Er dachte nicht einmal daran, dass sie es schwer haben würden, wenn sie heirateten; denn sie besaßen beide nichts. All das hatte jetzt keine Bedeutung für ihn. Wichtig war nur - er warf die Mandarine in die Luft -, wichtig war nur, dass sie genickt hatte...
Die ganze Welt stand ihm jetzt offen. Er war nicht mehr allein. Er war nicht mehr unglücklich.
Bums! - Er hatte die Hand nicht rechtzeitig aufgehalten, und eine Mandarine knallte ihm gegen die Stirn.
Ob sie auch nicht böse ist? Ich bin doch immer so ungestüm. Er drehte sich auf den Bauch. Ich habe sie so heftig an mich gerissen, dachte er beunruhigt, dass sie beinahe gefallen wäre. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, wenn ich sie wiedersehe...
„Was ist das?" stieß er plötzlich hervor. Eine Zeitlang hatte er geistesabwesend die Zeitung betrachtet, in die Hatsues Mandarinen eingewickelt gewesen waren. Auf einmal drang der Sinn der Worte in sein Bewusstsein.
„Ablehnende Haltung gegenüber dem Kommunismus. Erklärung des Vertreters der Vereinigten Staaten von Amerika, Acheson."
Schiro streckte die Hand aus und strich die Zeitung glatt. Sekundenlang blickte er unbeweglich vor sich hin. Dann riss er das Blatt heraus und entzifferte mühsam das Datum. Sechzehnter Mai. Der sechzehnte?
Einen Tag vorher hatte er den Wortwechsel mit dem Direktor gehabt und sich nach seiner Heimkehr sofort zu Bett gelegt.
Er hob den Kopf und starrte die Schoji an, die der Wind hin und her warf. Dann sprang er mit einem
Ruck auf, schob die Schoji auseinander und stürmte die Treppe hinunter. Er lief in die Kantine und raffte alle Zeitungen zusammen, die dort umherlagen.
Er kehrte mit dem Stoß unter dem Arm zurück, breitete die zerrissenen, fettbeschmierten Blätter auf dem Fußboden aus und begann zu lesen.
Natürlich hatte er wieder keine Zigarette. Mechanisch steckte er die Hand in die Tasche und wühlte darin, ohne sich dessen bewusst zu werden.
„Nichtorganisierte Demonstrationen sind verboten" -„Erklärung MacArthurs", lauteten die Schlagzeilen auf der ersten Seite der „Asahi-Schimbun" vom 21. Mai. Unter diesen Artikeln stand in kleiner Schrift der Aufruf der Kommunistischen Partei: „Friedliche, organisierte Demonstrationen."
Schiro öffnete die Schoji und trat auf die Galerie hinaus. Unter ihm lagen die Dächer der Häuser; weiße Schaumkronen tanzten auf dem Suwasee. Der Gipfel des Jagatake stach in das grelle Blau des Himmels.
Schiro kniff die Augen zusammen und blinzelte in die hitzeflimmernde Luft. Plötzlich aber tauchte wie von ungefähr eine große schwarze Wolke auf. Der See, die Berge hinter dem Jagatake und die stufenförmig abfallenden Dächer - alles wurde mit einem Schlage fahl und blass. Furukawa hatte keine Zweifel mehr.
Er lief ins Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. „So etwas!" sagte er laut. Nachdenklich starrte er die Decke an. Schließlich erhob er sich, ging zu der Stelle, wo die Mandarinen auf den Bastmatten lagen, und hockte sich nieder.
Der Klassenkampf ist ein politischer Kampf...
Die Worte Lenins gingen ihm durch den Kopf. Er dachte an seine Freunde. Mit einem Mal wusste er, dass sie alle, seine Freunde und er, von furchtbaren, feindlichen Kräften bedroht wurden.
Die Hände über der Brust gefaltet, musterte er die Rahmen der Schoji. Eine seltsam feierliche Erregung ergriff ihn und raubte ihm fast den Atem. Ein Schauder rann ihm durch den ganzen Körper. Ich darf nicht länger zögern! Ich bin ein Arbeiter, ein Proletarier! Die Arbeiter müssen sich zusammenschließen! sagte er sich immer wieder. War er selbst auch nur ein Sandkorn - ohne Sandkörner gab es keinen Damm!
Er holte ein Blatt Papier, streckte sich auf den Bastmatten aus und schrieb sein Gesuch um Aufnahme in die Partei. Als er es unterzeichnet hatte, nahm eisernen Stempel mit dem Namen „Furukawa", hauchte ihn an und drückte ihn zweimal neben die Unterschrift. Mit angehaltenem Atem betrachtete er den fertigen Antrag.
Bis zum Abend blieb Schiro auf einem Fleck sitzen und blickte nur von Zeit zu Zeit durch das Fenster zu Onokis Zimmer hinüber, das sich im dritten Stockwerk des gegenüberstehenden Gebäudes befand. Solange Schiro krank war, wohnte Ikenobe bei Onoki. Nach Feierabend besuchten ihn beide regelmäßig. Heute fiel Furukawa das Warten besonders schwer. Es drängte ihn, sich mit den Freunden auszusprechen.
„Ich bin Proletarier, und mein ganzes Leben wird der Partei gehören", hatte er in seinem Antrag geschrieben. Natürlich war ihm dabei auch Hatsue eingefallen; aber er machte sich keine Gedanken darüber, wie sie sich zu seinem Eintritt in die Kommunistische Partei stellen würde.
Na, endlich! In Onokis Zimmer wurde Licht gemacht, und man hörte seine scharfe, hohe Stimme. Schiro steckte den Antrag in die Tasche und ging hinüber.
Als. er bei seinen Freunden eintrat, war Ikenobe noch in Arbeitskleidung, mit Notizen beschäftigt, und Onoki streifte gerade den Kimono über.
„Nanu, der Patient? Was fällt dir ein, gehst du auf einmal spazieren?"
„Er ist lange genug krank gewesen. In einer solchen Zeit darf man nicht im Bett liegen", sagte Onoki scherzend, band den Gürtel um und wandte sich Schiro zu.
„Oh!" stieß er im selben Moment hervor und blieb mit offenem Munde stehen. Ikenobe und Onoki starrten Schiro, der ihnen mit finsterer Miene sein Aufnahmegesuch entgegenhielt, sprachlos an.
„Sieh mal, er hat den Aufnahmeantrag geschrieben!" rief Onoki und verzog die Lippen, als wäre er wirklich böse. Dann stürzte er an seinen Tisch. Ikenobe schwieg einige Sekunden, schlug die Augen nieder und zog langsam ein sorgfältig zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche, nahm es auseinander und legte es mit zitternder Hand auf Schiros Antrag.
„Und das ist - meiner! Alles in Ordnung, mit Stempel." Onoki brachte seinen Antrag und legte ihn zuoberst auf die beiden andern.
Wortlos setzten sich die Freunde - Ikenobe aufrecht, die Arme über der Brust verschränkt, Onoki zurückgelehnt, den Kopf in den Nacken geworfen und die Hände um die Knie geschlungen, Furukawa mit übergeschlagenen Beinen und steifen Ellbogen - und blickten auf die Anträge. Ikenobe und Onoki hatten ihre Gesuche unzählige Male geändert und neu geschrieben. Keiner war zum Sprechen aufgelegt. Was sollte man auch sagen? Sie konnten vor Erregung kaum atmen. So still saßen sie beieinander, dass selbst das Ticken von Onokis Tischuhr ungewöhnlich laut klang. „Gehen wir!" meinte Onoki schließlich. „Ja, gehen wir!" rief Furukawa wie ein Echo, obgleich er nicht wusste, wohin. Aber er fühlte, dass sie jetzt auf dem richtigen Wege waren.
Sie schritten durch die Gasse hinter dem Güterbahnhof von Kami-Suwa, überquerten eine Allee und gelangten auf die hellerleuchtete Hauptstraße. Hier blieb Onoki eine Sekunde lang stehen, sah sich um und setzte seinen Weg fort. Offenbar wusste er genau, wohin sie sich wenden mussten. Wieder kamen sie durch eine dunkle Gasse und machten gleich darauf vor einem villenartigen Hause halt. „Wir sind da."
Neben dem Eingang schimmerte im Halbdunkel ein neues weißes Schild mit der Aufschrift „Bezirkskomitee der Kommunistischen Partei von Süd-Schinano".
„Geh voraus!" Ikenobe stieß Furukawa mit der Schulter an, als sie den Vorraum betraten. Schiro wollte der Aufforderung Folge leisten, besann sich aber eines andern und schob Onoki vor. „Los, du! Du bist älter als ich."
„Was redest du nur für Unsinn? Ganze drei Tage!" rief Onoki.
Da wurde eine Tür geöffnet, und helles Licht fiel in den Vorraum. Ein junges Mädchen in gelbem Kleid erschien auf der Schwelle. Nun gab es kein Zurück mehr - Onoki ging auf sie zu.
„Aus welcher Fabrik kommen Sie?" fragte das Mädchen freundlich. Es war dasselbe junge Mädchen, das im Frühjahr, als noch Schnee lag, am Bahnhof von Kami-Suwa die „Akahata" mit der Karikatur des Kriegsverbrechers Hirohito verkauft hatte.
„Oho, wen sehe ich da?" In der Tür tauchte der Inhaber der Buchhandlung „Rote Mütze" auf, bei dem Furukawa das „Wörterbuch der sozialpolitischen Terminologie" erstanden hatte. „Ach so, ich verstehe... Kommen Sie doch herein. Ehrlich gesagt, ich habe Sie schon lange erwartet. Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie herkommen werden."
Der kahlköpfige Mann lächelte. „Ich mache Sie gleich mit unserem Sekretär bekannt."
Sie folgten dem Buchhändler, durchschritten ein Zimmer, in dem einige Männer offenbar eine Sitzung abhielten, und betraten ein zweites. Ein untersetzter, alter Mann trat durch eine andere Tür ein.
„Kodschima Schotaro", stellte der Buchhändler vor. „Kommen Sie hierher... Bitte, eine Tasse Tee..." Er gab dem alten Mann die drei Anträge. Der Alte setzte eine Brille mit dicken Gläsern auf und begann zu lesen.
Dieser gebückte Greis in der abgetragenen Wolljacke war der älteste Kommunist im Bezirk. Sie hatten schon von ihm gehört.
„Na schön, als Bürgen können wir vielleicht Kobajaschi Massarukun und Kodanakun vorschlagen."
Die Freunde hatten überhaupt nicht daran gedacht, dass sie Bürgen haben müssten.
Der alte Mann las ihnen laut das Parteistatut vor. Er sagte, dieses Statut sei nicht einfach eine Reihe von Worten, die auf dem Papier stünden, sondern es sei das Ergebnis langer Erfahrung, die man im Kampf gesammelt habe, in einem Kampf, dem viele Kommunisten in Japan und in der ganzen Welt zum Opfer gefallen seien. Dann reichte er jedem eine Schale Tee und fuhr lächelnd fort: „Die Kommunistische Partei - das ist keine Partei, in die man beliebig eintreten und aus der man, wenn es einem passt, wieder austreten kann. Die Kommunistische Partei ist die Partei, die sich die Befreiung der Menschheit, die Beseitigung der Ausbeutung zum Ziel gesetzt hat. Jeder, der in diese Partei eintritt, muss ihr seine ganze Kraft und sein Leben widmen."
Die Freunde vergaßen, ihren Tee zu trinken. „Glauben Sie also nicht, dass Sie mit dem Eintritt in die Partei schon wer weiß was vollbracht hätten. Ihre Aufgabe beginnt jetzt erst. Nicht wahr, Genossen? Lassen Sie uns gemeinsam und voneinander lernen..."
Als die Freunde wieder auf der Straße standen, seufzte Furukawa tief auf, als hätte er die ganze Zeit den Atem angehalten, und schrie: „Hurra!" Onoki und Ikenobe brüllten ebenfalls „Hurra!", und alle drei stürmten davon.
Ihre freudige Erregung wurde immer stärker. Nun waren sie Kommunisten! Sie wollten es kaum glauben! Von heute ab, so schien es ihnen, waren sie für alles verantwortlich, was um sie herum vorging: für die Lokomotive dort, deren Lampen beim Rangieren aufleuchteten, für das Häuschen des Polizisten, der den Straßenverkehr regelte, für das Bahnhofsgebäude, für die Arbeiter, die mit vereinten Kräften einen Güterwagen auf ein Abstellgleis schoben, für die Leute auf der Straße und für die Händler mit den Bauchläden, die sich im trüben Licht einer Laterne drängten.
All das war nur eine kleine, abgelegene Stadt in den Bergen; aber wie dieses Städtchen ein Teil der ganzen Welt und mit der ganzen Welt verbunden ist, so sind auch die Kommunisten aller Länder miteinander verbunden. Die drei Freunde rückten unwillkürlich dichter aneinander. Seit ihrer Lehrzeit hatten sie zehn Jahre lang wie Brüder zusammen gelebt, aber noch nie hatten sie sich einander so nahe gefühlt wie in dieser Minute.
Im Fabrikheim erfuhren sie, dass Nakatani noch nicht zu Hause sei. Das Ergebnis der Besprechungen mit dem Vorstand der Company über die Frage der
Rückführung des Betriebes sollte im Laufe der Nacht bekanntwerden, und Nakatani war im Werk geblieben, um das Telegramm in Empfang zu nehmen. Alle drei liefen wieder auf die Straße.
Sie hätten ohnedies vor Aufregung nicht schlafen können.
Sie beschlossen, nach Okaja zu fahren, um Nakatan oder Araki alles zu erzählen. Vorher würden sie ja doch keine Ruhe finden.
„Bist du nicht müde?" fragte Ikenobe, als sie in Okaja ausstiegen, und legte den Arm um Furukawas Schultern.
„Woher denn! Heute ist doch ein ganz besonderer Abend!" rief Onoki, bevor Furukawa antworten konnte.
Arm in Arm schritten sie die mondbeschienene Sumikurastraße entlang. Furukawa dachte nicht mehr an seine Krankheit und fühlte keine Müdigkeit.
Ein leichter, nebliger Dunst lag über der Asphaltchaussee, und der vertraute Weg kam ihnen in dieser Nacht neu und unbekannt vor.
„Bist du nicht zu früh aufgestanden?" fragte Nakatani, als er vor die Tür des Gewerkschaftsbüros trat und Furukawa mit den beiden andern erblickte. Hinter Nakatanis Rücken tauchte die hohe Gestalt Arakis auf. Er hatte die Hände in den Hosentaschen, lächelte und schwieg. Er schien etwas zu ahnen und musterte forschend die Gesichter der jungen Burschen. „Wir sind in die Kommunistische Partei eingetreten!"
Nakatani riss erstaunt die Augen auf. Araki streckte ihnen die Hand entgegen.
„Prachtjungs! Das habt ihr gut gemacht!" rief er und drückte Furukawa fest die Hand. „Ich habe mich auch entschlossen... aber ihr seid mir zuvorgekommen. Na, dafür werdet ihr jetzt meine Bürgen."
Furukawa klatschte begeistert in die Hände.
„Kommt!" schrie Onoki und schüttelte wild den Kopf. Alle drei stürmten weiter.
„Wohin?" rief ihnen Nakatani nach.
„In den Wald hinauf! In den Wald!" Sie hatten das Verlangen, so hoch wie möglich zu steigen. Oben traten sie auf die Lichtung hinaus und blieben Schulter an Schulter stehen.
Der Mond hing genau über dem Jagatake. Der Wind hatte sich gelegt, und das Wasser des Suwasees schimmerte in weichem, goldigem Glanz. Die Berggipfel leuchteten silbern, und die Schluchten und Falten waren in Nebel gehüllt. Schwarz hoben sich die Fabrikschornsteine am Seeufer gegen den hellen Hintergrund ab.
„Furukawa, schrei ,Hurra'! Du hast als erster davon gesprochen, nun gib auch das Kommando!"
Sie wandten ihre Gesichter den dunklen Betonschornsteinen zu. In dieser Fabrik, die auf ein halbes Jahrhundert Geschichte zurückblicken konnte, waren sie - Ikenobe, Furukawa und Onoki - die ersten drei Kommunisten.
Vor Erregung traten Ikenobe Tränen in die Augen. Alle drei hoben die Hände: „Es lebe unser Tag!" -„Es lebe die Kommunistische Partei Japans!" |
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