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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Das Heim drei, in dem die ehemaligen Arbeiterinnen der Seidenspinnerei wohnten, war von einem hohen Holzzaun umgeben, dessen oberer Rand mit Nägeln gespickt war.
In jedem Raum hausten zehn Mädchen. Früher hatten sie darauf geachtet, dass nach Möglichkeit immer Bekannte aus demselben Dorf zusammen waren. Aber als die Dienstverpflichteten einzogen, wurde diese Tradition wie alle anderen Regeln in der Fabrik durchbrochen.
Im Augenblick dachten die Arbeiterinnen nur daran, wenigstens einen Teil ihres Lohnes von der Gesellschaft zu erhalten und so schnell wie möglich in den Zug zu steigen, um nach Hause zu fahren. Sie waren fest überzeugt, dass anderntags amerikanische Soldaten kommen und sie alle miteinander totschlagen würden.
Sogar die Zimmerältesten wurden von der Panikstimmung erfasst.
Im Korridor des oberen Stockwerks türmten sich Körbe, Säcke und Bündel. Überall lagen Beutel mit Reis, zerschlagene Cremedosen und Getan (Anm.: Schuhe mit Holzsohlen) umher. Die Schoji (Anm.: Papierschiebetüren) standen nicht mehr fest und drohten, jeden Augenblick umzustürzen.
Es herrschte eine solche Unordnung, dass man nirgends hintreten konnte.
Unter Drängen, Stoßen und Schimpfen schleppten die jungen Mädchen Körbe, rafften Hanagami (Anm.: Papiertaschentücher), Kämme, zerbrochene Taschenspiegel, Haarnetze, Nadelkissen und anderen Krimskrams zusammen und stopften alles hastig in Bündel und Säcke.
„Kimitjan! Kimitjaaan!" schrie Jamamoto Fumi, eine der Zimmerältesten. Sie war nur mit einer dunkelblauen Jacke bekleidet, die bis zu den Knien reichte und die nackten Beine sehen ließ.
Kimi, ein junges Mädchen mit einem Kopftuch, presste das Knie gegen einen Korb und zog die Verschnürung fest. Auf ihrer Nase blinkten Schweißtröpfchen, ihre Unterlippe bebte - Kimi machte ein Gesicht, als wollte sie gleich losheulen.
„Geh sofort in den Hof und stell dich an!" befahl Jamamoto Fumi. „Nimm meine Fahrkarte und halte einen Platz für mich frei. Ich bringe deine Sachen mit. Kram nicht hier herum, mach, dass du fortkommst!"
Plötzlich drang aus dem Raum Nummer elf lautes Geschrei. Die Zimmerälteste Kobajaschi Schige hielt sich an den schwankenden Schoji fest und kreischte: „Es gibt keine Fahrkarten mehr! Vor morgen Abend können wir nicht weg."
Da verloren die Mädchen, die noch in den Zimmern waren oder bereits auf dem Flur ihr Bündel schnürten, vollends den Verstand. Die Arbeiterinnen aus Inatani erklärten, sie wollten zu Fuß gehen, die Mädchen aus der Siedlung Kohata beschlossen, sich geradenwegs
über die Berge durchzuschlagen. Kobajaschi Schige lief schluchzend den Korridor entlang. Ihr leichter Sommerkimono stand über der Brust offen, ihr Haar war zerzaust. „Was soll ich bloß machen?" schrie sie gellend. „Ich muss mit dem Zug fahren, neun Stunden brauche ich bis nach Hause!"
Und wie auf Kommando begann ein allgemeines hysterisches Jammern und Wehklagen. Plötzlich hob ein Mädchen sein Bündel hoch und schleuderte es über den Zaun auf die Straße. „Weg mit dem ganzen Kram!"
Andere Bündel flogen hinterdrein. Ohne zu überlegen, warfen die Arbeiterinnen Pakete, Körbe und Kästen über den Zaun, als wäre das die Rettung vor der drohenden Gefahr.
Araki stieg die Treppe zum Obergeschoß hinauf, doch niemand beachtete ihn. „Was soll das, du Närrin?" Araki fing eines der Bündel auf. Die Arbeiterin, der es gehörte, klammerte sich an seinen Arm. Araki wollte erklären, dass Sagara gelogen hätte, aber die Mädchen waren so erregt, dass sie überhaupt nicht auf ihn hörten. Sie hatten längst vergessen, warum sie tobten. Araki beruhigte ein völlig außer Rand und Band geratenes Wesen und brachte die heulende Kobajaschi Schige wieder zur Besinnung. Allmählich wurde es etwas ruhiger im Hause.
„Die Zimmerältesten hierher!" rief Araki. „Die Zimmerältesten!"
Die aber versteckten sich in ihrer Angst hinter ihren Arbeitskameradinnen und starrten Araki erschrocken an. Er stampfte mit dem Fuß auf. „Na, wird's bald?"
In Zimmer fünfzehn war es während des ganzen Tumultes ruhig geblieben. Jamanaka Hatsue, die Zimmerälteste - ein hübsches, stattliches Mädchen mit großen, klugen Augen, weißen, gleichmäßigen Zähnen, vollen Wangen und schönem schwarzem Haar -, und einige Arbeiterinnen hockten neben ihren gepackten Körben und lauschten gespannt dem Lärm auf dem Flur. Die ohnehin stets wortkarge Hatsue schwieg auch jetzt, nur ihre schreckgeweiteten Augen und ihre fest zusammengepressten Lippen zeigten, wie sehr sie sich anstrengte, ihre Angst zu überwinden. Natürlich konnte sie ebenso wenig wie ihre Kameradinnen die Lage überblicken, doch eines war ihr klar: Heulen und Jammern half gar nichts.
Hatsue meldete sich nicht auf Arakis Ruf. Die Mädchen bemühten sich, Ruhe zu bewahren, und blickten die Zimmerälteste hilfesuchend an. Aber Hatsue verzog keine Miene, ihr Gesicht schien zu Stein erstarrt.
„Man ruft dich", flüsterte eine. Hatsue erhob sich und ging hinaus. Die anderen folgten ihr.
Endlich hatten sich einige der Zimmerältesten entschlossen, Arakis Aufforderung nachzukommen; doch die verstörten Mädchen redeten so verworrenes Zeug, dass der Meister die Geduld verlor.
„Also schön. Sagara hat es gesagt. Das weiß ich nun. Aber zu wem hat er es gesagt?" forschte er.
„Schigetjan wollte fragen, wie es mit der Lohnzahlung wird... Und da...", begann Jamamoto Fumi und schob die Lippen vor.
Schige, die älteste der Arbeiterinnen, ein aufrichtiges, aber wenig gewitztes Mädchen, unterbrach sie: „Wer hat gefragt? Ich? Komisch, dass du als Zimmerälteste so etwas behauptest! Was hast du gesagt, als ich von dir wissen wollte, wie wir uns verhalten sollen? Das hast du wohl vergessen? Schieb jetzt bloß nicht alles auf mich!"
Araki fuhr sie wütend an: „Nun aber Schluss! Was war mit der Lohnzahlung? Wer hat nach dem Geld gefragt und bei wem?"
Jamamoto Fumi starrte Araki mit offenem Munde an. Da sagte Hatsue: „Ich habe mich erkundigt, im Kontor."
Araki wandte sich zu ihr um: „Warum bist du ins Kontor gegangen?"
„Wir waren in Sorge, ob wir auch alles bekommen würden, was uns zusteht. Da haben wir eine Abordnung hingeschickt. Fünf von uns..."
„Fünf? Wer war denn noch dabei?" Wieder brach ein Tumult aus. Eine Arbeiterin nannte die Namen, eine andere rief, es habe sich nicht nur um das Geld gehandelt, sondern auch darum, ob man sie wiedereinstellen würde, wenn die Fabrik von neuem zu arbeiten anfinge - kurz, alle redeten durcheinander, nur Hatsue schwieg und überließ es ihren Freundinnen, alles zu erzählen. Mit hängenden Armen und halboffenem Munde stand sie da, blickte ernst von einer zur anderen und hörte gespannt zu. Ein paarmal runzelte sie die Stirn, bewegte die Lippen oder nickte zustimmend. Endlich gelang es Araki, einigermaßen Klarheit zu schaffen.
In dem Gemeinschaftsheim wohnten Mädchen, die bereits in der Seidenspinnerei gearbeitet hatten. Als sie erfuhren, dass die Fabrik stillgelegt werden sollte, nahmen sie es widerspruchslos hin. Sie sahen keinen anderen Weg, Japan hatte nun einmal den Krieg verloren. Aber einige von ihnen waren hier schon mehr als zehn Jahre beschäftigt. Die Entlassungsvergütung und die Ersparnisse dieser Zeit bedeuteten ihnen mehr als nur einen Teil ihres Aussteuergeldes, denn fast die Hälfte ihres Lebens hatten sie dafür arbeiten müssen. Wenn ihnen die Gesellschaft auch den zustehenden Lohn zuschicken wollte, so bezweifelten sie doch, dass sie den Betrag in voller Höhe erhalten würden. Sie berieten sich also, wählten fünf aus ihrer Mitte - Kobajaschi Schige, Jamamoto Fumi, Jamanaka Hatsue und zwei andere — und schickten sie ins Kontor, um sich genau zu erkundigen. Dort erklärte ihnen Direktor Sagara, die Beträge müssten seiner Meinung nach in voller Höhe überwiesen werden, er könnte jedoch nicht dafür bürgen. Der Krieg sei verloren, und niemand, auch nicht die Gesellschaft, wisse, was weiter geschehen werde. Vor allem aber riet er den Arbeiterinnen, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren, solange sie noch heil und gesund wären.
Bis dahin hatte die eine oder andere noch an der Zuverlässigkeit der umlaufenden Gerüchte gezweifelt, aber diese Äußerung des Direktors musste ja alle in panische Angst versetzen.
„Wie könnt ihr nur auf einen solchen Blödsinn hereinfallen?" fragte Araki ruhig. „Ihr habt doch selbst im Radio vom Potsdamer Abkommen gehört, nicht wahr?"
Ja, das hatten sie wohl, aber keine erinnerte sich, um was es sich dabei handelte. Sie begriffen kaum, was Araki ihnen klarzumachen versuchte. Heftig gestikulierend,  erläuterte er den  Punkt des Abkommens, in dem es hieß, die Alliierten seien nicht gewillt, das japanische Volk zu vernichten oder in die Sklaverei zu stürzen. Schließlich hörte ihm nur noch Jamanaka Hatsue zu. Auch ihr fiel es schwer, Araki zu verstehen, denn er gebrauchte viele ausländische Wörter. Aufmerksam schaute sie ihn an und bemühte sich nach Kräften, den Sinn seiner Rede zu erfassen. Die anderen blickten nicht mehr auf Araki, sondern auf Hatsue. Und als ihre Augen zu leuchten begannen, als sie lächelnd nickte, da atmeten alle erleichtert auf. Die Spannung schwand, die Aufregung legte sich, und bald herrschte im Arbeiterinnenheim wieder Ruhe und Ordnung.

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