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Ende November, an einem kalten, nebligen Morgen stieg ein demobilisierter Soldat mit einigen anderen Fahrgästen in Okaja aus dem Zug. Er mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein und hatte ein hageres, sonnenverbranntes Gesicht. Anscheinend kam er zum ersten Mal in diese Gegend; denn als er auf den Bahnhofsvorplatz hinaustrat, entfaltete er ein zerknittertes Stück Papier, eine Art Geländeplan oder Landkarte. Sinnend betrachtete er die Skizze, als müsste er überlegen, wohin er seine Schritte lenken sollte. Schließlich nahm er seinen Rucksack auf und stieg schwankend vor Müdigkeit die Böschung zur Landstraße nach Sumikura empor.
Weiß leuchteten die Gipfel des Jagatake und des Kirigatake im ersten Schnee, und vom Suwasee wehte ein kalter, winterlicher Wind herüber. Da und dort schlängelten sich Rauchfahnen aus hohen Schornsteinen gen Himmel. Jetzt, drei Monate nach der Kapitulation, arbeiteten die meisten Fabriken wieder, die aus anderen Teilen Japans in diese Gegend evakuiert worden waren. Sie glichen verirrten Wanderern, die nicht wussten, ob sie jemals heimkehren würden. Sie stellten Kasserollen, Teekessel und Bratpfannen aus Rohstoffresten her, einige produzierten Seide wie früher. Wie würde man auf den Märkten Amerikas, wo die Nylonproduktion so weit entwickelt war, diese Seide aufnehmen? Das wusste niemand; doch die Regierung, die jede Orientierung verloren hatte, verbreitete das Gerücht, die Seide sei ein bedeutender Exportartikel und man könne die aus dem Ausland eingeführten Lebensmittel damit bezahlen. Die Seidenfabrikanten verließen sich wie immer auf Regierungsdarlehen.
„Ist es noch weit bis zur ,Tokio-Electro'?" fragte der Soldat und blieb an einer Straßenkreuzung vor dem Eingang einer kleinen Schreibwarenhandlung stehen. „Ungefähr einen halben Kilometer. Gehen Sie immer geradeaus, dann sehen Sie links hohe Schornsteine", antwortete die Ladeninhaberin und fuhr in ihrer Strickarbeit fort, ohne den Mann anzublicken. Heimkehrer waren ja eine alltägliche Erscheinung.
Der Soldat tippte mit den Fingerspitzen an den Schirm seiner Militärmütze und trottete weiter. Er ging so gebückt, dass sein Uniformmantel fast auf dem Boden schleifte. Der Wind blies ihm den Staub ins Gesicht und auf die Kleider; Lastwagen ratterten dröhnend an ihm vorbei. Mit gesenktem Kopf schritt er dahin. Seine großen Augen schienen leblos, die Wangen waren eingefallen, die Mundwinkel herabgezogen. Der Mützenriemen baumelte locker unter dem Kinn.
Endlich tauchten die Schornsteine auf, die hoch über eine lange, schwarze Mauer hinausragten. Als sich der Soldat der Fabrik näherte, trat Torisawa Fumija, seine unvermeidliche alte Aktentasche unter dem Arm, gerade aus dem Kontrollhäuschen. Er ging an dem müden, schmutzigen Soldaten vorbei, verbeugte sich höflich und grüßte.
Es blieb ungewiss, ob der Fremde den Gruß gehört hatte; denn er erwiderte ihn nicht, sondern starrte vor sich hin und stapfte mit gleichmäßig schleppenden Schritten geradenwegs in den Fabrikhof. Er besann sich erst, als der Wachtposten den Kopf aus dem Fenster des Kontrollhäuschens steckte und ihn anrief: „Wohin willst du? In die Personalabteilung?"
Der Soldat kramte lange in seiner Manteltasche herum und reichte schließlich dem Wachmann einen Briefumschlag mit dem Stempel der Personalabteilung bei der Hauptverwaltung von „Tokio-Electro".
„Ich möchte zu Meister Araki ... zu Araki in der Dreherei..."
Der Pförtner stierte auf den Umschlag, drehte ihn in der Hand und nahm den Telefonhörer von der Gabel. „Furukawa? Bist du Furukawa Schiro?"
Der gab keine Antwort. Er ließ sich langsam auf seinen Rucksack nieder, den er unter das Fensterchen im Durchgang gelegt hatte, barg den Kopf in den Armen und schloss seufzend die Augen.
Ab und zu hob er die Lider ein wenig, doch seine vor Übermüdung geröteten Augen schienen noch immer Traumbilder zu sehen.
Die meisten der in Kawasoi beschäftigten Arbeiter stammten aus dem Werk Oi in Tokio, das ebenfalls der „Tokio-Electro-Company" gehörte. Furukawa hatte in der Fabrik Oi als Lehrling begonnen. Im Laufe der Jahre hatte er es bis zum qualifizierten Dreher gebracht.
Im November 1943 aber, einen Tag vor der Evakuierung der Fabrik, wurde er zum Militär einberufen und Anfang 1944 auf die Insel Luzon (Anm.: Hauptinsel der Philippinen.) geschickt. Unterwegs wurde das Transportschiff von einem Torpedo getroffen. Es flog in die Luft, und Furukawa wurde ins Meer geschleudert. Ein Küstenschutzboot fischte ihn am zweiten Tage auf und brachte ihn nach Manila.
Anderthalb Jahre lang verrichtete der Soldat Furukawa die Arbeit eines Lastträgers. Aus Japan kamen kleine Dampfer mit Kriegsmaterial. Sie gingen an dem felsigen Gestade vor Anker, und die Ladung musste unter Lebensgefahr gelöscht werden. Tag und Nacht warfen amerikanische Flugzeuge ihre Bomben, und die Soldaten pressten sich platt wie Tintenfische auf den Ufersand. Es gab keine Splittergräben und keine Schutzwälle, und so blieb nichts anderes übrig, als auf die Gnade des Schicksals zu hoffen. Furukawa schleppte Lebensmittel und Munition für die Truppen, die in den Philippinenbergen von Partisanen umzingelt waren, über die Gebirgspässe. Sechs Wochen lang schüttelte ihn die grausame Malaria. Während dieser Zeit kampierte er in einem Krankenzelt. Anschließend transportierte er, oft bis zum Hals im Wasser, Kriegsausrüstungen durch eine Gegend mit unwahrscheinlich vielen Seen.
Als der Krieg zu Ende war, kehrte Furukawa auf einem amerikanischen Schiff nach Japan zurück. Die Fabrik Oi war zerstört; ein verbogenes Eisengerüst lag an der Stelle, wo sich einst die Werkhallen erhoben.
Aber ein anderer, größerer Kummer machte Furukawa das Herz schwer. Die Bombenangriffe der amerikanischen Luftwaffe im April hatten den Tokioter Stadtteil Fukagawa, wo sein Haus stand, in einen einzigen Trümmerhaufen verwandelt. Und seitdem war Furukawas Mutter verschollen.
Er suchte sie, er erkundigte sich in der Bezirksverwaltung und bei der Polizei, er fragte bei ihren Verwandten im Bezirk Tschiba nach und in Nagoja, der Heimat seines verstorbenen Vaters. Die Karteikarte Furukawas war nach der Evakuierung der Fabrik in die Personalabteilung der Hauptverwaltung der Tokio-Electro-Company geleitet worden. Dort erfuhr er, dass seit April niemand die Unterstützung abgeholt hatte, die den Familien der Eingezogenen gezahlt wurde. Nun zweifelte er nicht mehr an dem Tod seiner Mutter.
Der Soldat hob den Kopf, ließ ihn aber gleich wieder sinken. Offenbar konnte er sich nicht klarwerden, wo er sich befand, auf den Philippinen oder in Japan, ob der Krieg zu Ende war oder nicht...
Er bemerkte Araki gar nicht, der quer über den Fabrikhof auf ihn zueilte. „Furukawa? Bist du's denn wirklich?" Araki klopfte dem Soldaten auf die Schulter und blickte ihn an. Furukawa schlug die Hände vor sein schmutziges, mageres Gesicht.
Dann hob er langsam den Kopf. Seine trüben, übermüdeten Augen öffneten sich weit, immer weiter, und es schien, als ob ganz tief im Innern dieser Augen mühsam das Leben erwachte. Ein schwaches Lächeln huschte über seine Züge, und er klammerte sich mit beiden Händen an Araki. „Arakisan!" rief er und presste die Stirn an die Brust des Mannes. „Ich bin wieder da! Ja, ich bin wieder da!"
Araki umarmte ihn, und Furukawa wiederholte unaufhörlich, fast schluchzend: „Ich bin wieder da! Ich bin wieder da!" „Komm mit in die Fabrik, dort sind sie alle!" Araki nahm den Rucksack auf, legte dem Soldaten den Arm um die Schultern und schritt mit ihm über den Hof zu den Werkhallen. Furukawa hielt Arakis Hand fest, als fürchtete er, ihn zu verlieren, wenn er ihn eine
Sekunde losließe.
Allmählich kam er zu sich, eine heftige Erregung befiel ihn. Sie überquerten eine schmale Galerie, die zu der Dreherei führte, in der Araki arbeitete, und gelangten in einen hohen Raum, auf dessen kaltem Betonfußboden das vertropfte Maschinenöl große, schmierige Flecke gebildet hatte. Als Furukawa den süßlichen Geruch des bearbeiteten Eisens einatmete, das rhythmische Dröhnen der Automaten (Anm.: Werkzeugmaschinen mit selbsttätigem Arbeitsablauf mehrerer aufeinanderfolgender Arbeitsvorgänge.) und das Klatschen der Treibriemen hörte, steigerte sich seine Erregung.
„Warte ein bisschen, wir sind gerade bei einer Abstimmung", sagte Araki und setzte den Soldaten auf einen Schemel neben seinem Tisch, der am Fenster in einer Ecke der Halle stand. Dann zog er einen Schubkasten auf, nahm sein Frühstück heraus und legte es vor Furukawa hin. „Iss inzwischen. Wenn wir fertig sind, dann gehe ich mit dir ins Kontor."
Der Soldat nickte gehorsam wie ein Kind zu allem, was Araki sagte. Der Meister erzählte ihm noch rasch, dass in der Fabrik ein „Beratungskomitee" gegründet werde und dass man gerade in allen Abteilungen dabei sei, durch geheime Abstimmung eine Satzung für dieses Komitee anzunehmen. In der Mittagspause solle eine Versammlung stattfinden, auf der die Mitglieder des Komitees gewählt würden.
Furukawa nickte wiederum; doch es war ihm anzusehen, dass er den Sinn der Worte Arakis kaum erfasste. Bevor Araki geendet hatte, stand er zerstreut auf, blickte zu den gleitenden Treibriemen hinüber und schritt den schmalen Gang zwischen den Maschinen entlang.
Ein verkrampftes Lächeln lag auf seinen zuckenden Lippen, als er an den Drehbänken vorbeiging und sie wie ein Kind mit den Händen streichelte.
Die vier Meter langen Rohre an den Revolverdrehbänken sahen aus wie Elefantenrüssel. In kleinen Rinnsalen floss das Maschinenöl an ihnen herunter. Die Revolverköpfe mit den verschieden geformten Drehstählen ruckten in genau bemessenen Zeitabständen weiter.
Da, an der Spitze eines Stabes, der in der Mitte herausgesprungen ist, macht ein Stahl eine Vertiefung, und drei Sekunden später zieht er sich zurück. An seine Stelle schiebt sich ein Bohrer und bohrt ein Loch. Fünf Sekunden, und er geht zurück und überlässt seinen Platz einem anderen Stahl, der eine neue Vertiefung schält. Drei Sekunden, und der Stahl verschwindet. Jetzt rücken zwei Stähle von beiden Seiten heran. Der eine formt die Spitze, der andere schneidet das fertige Werkstück ab. Dieser Arbeitsgang dauert drei Sekunden, und beide Stähle schnellen an ihren früheren Platz zurück. Jetzt springt ein anderer Stab hervor, und wieder bewegt sich der erste Stahl darauf zu.
In wenigen Sekunden ist die Schraube für einen elektrischen Zähler fertig und gleitet lautlos in eine Ölwanne.
„Ich bin wieder da! Ich bin wieder da! Haha!" Erst hier in der vertrauten Werkhalle, wo die Maschinen dröhnten und ratterten, schien Furukawa endgültig überzeugt zu sein, dass er in die Heimat zurückgekehrt war. Das Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht - so groß war die Freude, die ihn erfüllte. „Guten Tag, mein Freund! Ich bin wieder da! Guten Tag!" Er klopfte allen Arbeitern der Reihe nach auf die Schultern. Sie sahen den fremden Burschen erstaunt an und erwiderten nachsichtig lächelnd seinen Gruß. Doch das störte Furukawa nicht. Schließlich ging er auf eine der Werkbänke zu, die er so gut kannte, und tätschelte ihren Rumpf mit beiden Händen. „Guten Tag, guten Tag, meine Liebe!"
Mit dieser Werkbank war er von Kind auf befreundet. Er beklopfte und streichelte sie wie einen Menschen, und die Tränen traten ihm in die Augen. „Guten Tag, guten Tag, altes Haus. Ich bin wieder da, hörst du?"
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