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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Im Speiseraum, der sich seit der Sumikura-Zeit in einem kalten, dunklen Gebäude am Flussufer befand, herrschten Lärm und Gedränge. Auf dem Zementfußboden standen lange Tische in Reihen nebeneinander. Der schwache Geruch der Seidenkokons schien noch in der Luft zu liegen.
Das Abendessen begann, sobald die Sirene das Ende des Arbeitstages verkündet hatte. Die Arbeiter, die in den Fabrikheimen wohnten, drängten zum Speisehaus, nahmen an der Theke ihre Portion Reis mit Rettichkraut und eine Aluminiumschüssel voll Suppe in Empfang, suchten sich einen Platz an einem der Tische, aßen im Stehen oder im Sitzen und liefen gewöhnlich gleich wieder fort, um sich mit ihren privaten Angelegenheiten zu beschäftigen. Heute aber hatte sich in einem Teil des Raumes eine Gruppe von Arbeitern versammelt. Sie verstopfte die Durchgänge, und so war das Gedränge noch größer als sonst.
In der Mitte der Gruppe stand Araki. Er hatte gerade über die Lage in der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerks der Company berichtet und hielt nun ein Flugblatt in den Händen, auf dem zu lesen war, dass vier Fabriken der Tokio-Electro-Company im Bezirk Tokio-Jokohama, darunter auch das Hauptwerk, eine fünffache Lohnerhöhung gefordert hätten. Diese Forderung sei abgelehnt worden; deshalb seien die Arbeiter in den Streik getreten.
Arbeitervertreter aus allen Betrieben des Bezirkes Tokio-Jokohama hätten auf einer Konferenz zum Ausdruck gebracht, dass sie diesen Streik begrüßten und unterstützten. Als Araki geendet hatte, verteilte ein älterer Mann mit Brille und schwarzer Joppe die Flugblätter an alle, die auf den Bänken saßen. Ikenobe und Onoki halfen ihm dabei. Außer den ehemaligen Mitgliedern des „Beratungskomitees" waren Vertreter aller Abteilungen, einige Obermeister und Büroangestellte erschienen. Sogar Tschidschiwa  war  gekommen.   Zuerst  blickte  er schüchtern hinter den Rücken der anderen hervor, dann aber setzte er sich auf eine Bank und begann, das große Wort zu führen.
„Äh... ich bin nicht würdig... äh... wie soll ich sagen... ich betrachte das natürlich als eine hohe Ehre... Nun bin ich ja sozusagen Werkhallenleiter. Deshalb bitte ich, mir bis morgen Zeit zum Überlegen zu lassen..."
Eine halbe Stunde später sah Tschidschiwa zu seinem größten Erstaunen, dass man ihn auf die Liste der Delegierten für das Vorbereitungskomitee gesetzt hatte, die nach Tokio fahren sollten, um Verbindung mit der Gewerkschaftsorganisation des Hauptwerks der Company aufzunehmen.
Selbst Takenoutschi Tadaitschi, der Versammlungsleiter, schien heute revolutionär gesinnt. Ikenobe und der schweigsame Nakatani waren in den Hintergrund gedrängt.
Die Versammlungsteilnehmer waren in kämpferischer, gehobener Stimmung. Wenn jetzt der Direktor aufgetaucht wäre, so hätten sie sich kaum stören lassen.
In der allgemeinen Erregung bemerkte niemand, wie der Mann in der schwarzen Joppe Araki etwas zuflüsterte. Araki rief Furukawa zu sich und übergab ihm einen Stoß Flugblätter.
Keiner wusste, dass der Mann in der schwarzen Joppe der Kommunist Kobajaschi Masaru war. Er hatte die Flugblätter, die im Auftrage der Arbeitervertreter des Bezirks Kanagawa gedruckt worden waren, in die Fabrik gebracht.
Nur Jamanaka Kiku verhielt sich den Ereignissen gegenüber gleichgültig. „Lasst mich durch! Lasst mich durch!" schrie sie mit gellender Stimme und blieb vor der lebenden Mauer stehen, die ihr den Weg versperrte. In einer Hand hielt sie eine Schale mit Reis, in der anderen eine Aluminiumschüssel mit Suppe. „Da, jetzt habe ich etwas verschüttet! Lasst mich doch endlich durch!"
Sie drängte sich durch die Menge zum Ausgang. Ihr Gesichtsausdruck ließ deutlich erkennen, dass sie sich für Gewerkschaften und ähnliche Dinge nicht interessierte. Sie lief über die kalte, düstere Innengalerie ins Zimmer elf des Fabrikheims drei. Die beiden Schüsseln, die sie trug, enthielten die Ration für Oikawa Mitsu.
Vielleicht hat Schinobu die Fladen gestohlen? dachte sie.
Sie bereute tief, dass sie Oikawa Mitsu des Diebstahls verdächtigt hatte. Wie ein Schlag war es gewesen, als sie sah, dass sich Oikawa Mitsu, die sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnte, neben der Spulmaschine auf den Fußboden setzte und einen Rettich aß. Kiku war empört über die Handlungsweise des Unbekannten, der die Fladen gestohlen hatte.
An der Tür des Fabrikheims hing noch immer das Schildchen mit der Aufschrift „Männern ist der Eintritt verboten". Im Korridor, der von einer trüben Lampe erhellt wurde, hörte man einige Mädchen laut miteinander sprechen. Sie wollten gerade das Haus verlassen.
„Wohin?" Zwei in Wolltücher gehüllte Mädchen drückten sich mit abgewandtem Gesicht an Kiku vorbei, die die Treppe hinaufstieg. „Ins Kino?"
„Ja..." Die Stimmen der jungen Mädchen klangen gedämpft unter den Tüchern, die das Gesicht verdeckten.
„Wenn ihr wieder erst nach Torschluss zurückkommt, dann lehne ich jede Verantwortung ab."
In Abwesenheit Hatsues fühlte sich Kiku, eine der ältesten Bewohnerinnen, für die Ordnung im Heim verantwortlich.
Kiku schob die Schoji ihres Zimmers auseinander und erblickte Kassuga Schinobu, die mit ausgestreckten Beinen, den Rücken gegen die Wand gelehnt, auf einer Bastmatte saß und sich in einem zerbrochenen Spiegel betrachtete, während sie hingebungsvoll ihre geschminkten Lippen leckte. Unter der einzigen Lampe hockte tief gebückt Tojoda Schige und nähte einen Kragen an ihren Kimono. Sie war die Tochter eines Pachtbauern in Kami-Ina, ein rundliches, rotwangiges Mädchen mit kleinen Augen. „Ich wärme dir gleich dein Essen auf, Mitsutjan", sagte Kiku.
In der gegenüberliegenden Wand unter dem Fenster war eine Nische, in der ein Kohlenbecken, ein Kessel und ein Eimer standen. Das Essen im Speisehaus war nicht ausreichend, und wenn die Mädchen sich Mehl und andere Lebensmittel beschaffen konnten, so bereiteten sie sich zusätzlich Mahlzeiten im Zimmer.
„Verzeih mir bitte, dass ich dich verdächtigt habe", murmelte Kiku, stocherte energisch in dem Kohlenbecken und drehte sich zu Oikawa Mitsu um, die in einer Ecke lag. Offenbar war sie noch immer sehr schwach. Ihr Kopf ruhte auf dem Kissen, und sie blickte schweigend mit weitaufgerissenen Augen zur Decke empor.
„Als ob sich das lohnte - vier oder fünf Fladen. Aber einer muss sie doch gestohlen haben!" brummte Kiku, holte ihr Mehl und begann, Klößchen zu formen.
Hatsue gegenüber wäre Kiku in der Wahl ihrer Worte vorsichtiger gewesen. Doch jetzt fiel es ihr bei ihrem hitzigen Charakter schwer, sich zu beherrschen.
„Süßes Äpfelchen, schönes Äpfelchen..."
sang Kassuga Schinobu und fuhr fort, sich im Spiegel zu betrachten. Sie trug ein hellgrünes Jackett
und eine grellrote Baskenmütze. Unter ihren Zimmergenossinnen galt sie als Putzliese und als „Großstadtpflanze."
„Ruhig strahlt der blaue Himmel..."
Schinobu brach mitten im Vers ab, stand auf, schob die Schoji auseinander und wollte das Zimmer verlassen, als plötzlich Kiku, deren Geduld durch Schinobus Gesang erschöpft war, heftig hervorstieß: „Das kann einen ja rasend machen! Ich komme dahinter, pass nur auf, ich komme dahinter!" Kassuga Schinobu lehnte sich gegen die Wand und sah Jamanaka Kiku wütend an. Die Mädchen waren gleichaltrig, Schinobu aber war größer und schlanker als Kiku. Sie lächelte ironisch, zog ihre hübsche Oberlippe kraus und zupfte an den gewellten Haaren, die unter der Mütze hervorschauten.
Bei einem Bombenangriff auf Tokio war ihr Haus zerstört worden; die Familie hatte sich über ganz Japan verstreut. Nach Kriegsende, als die Fabrik vorübergehend stillgelegt wurde, fuhr Schinobu bis nach Kiuschiu, um ihre Eltern zu suchen, die mit unbekanntem Ziel evakuiert worden waren. In Tokio hatte sie eine Zeitlang in einem Teehaus gewohnt und war erst vor kurzem zurückgekehrt.
Unter den Mädchen von Zimmer elf hatte sie als einzige nicht in der Seidenfabrik gearbeitet, und vielleicht wurde dieses „Mädchen aus dem Teehaus" deshalb von Kiku und den andern über die Schulter angesehen.
„Jetzt habe ich es aber satt! Gestohlen, gestohlen... Es wird einem ja übel, wenn man das immer wieder hört!" rief Tojoda Schige auf einmal böse. „So ein Lärm wegen der paar Fladen! Du kannst meine haben, bitte!"
Sie stieß die Nähnadel in den Kragen, sprang auf und ging zu ihrem Korb, der in einer Ecke des Zimmers stand. „Aber nein! Ich habe das doch nicht zu dir gesagt." Kiku schob den Kessel über dem Kohlenbecken zu Recht, lief zu Tojoda Schige und packte sie erschrocken an der Hand. Doch Schige war nicht zu beruhigen, wenn sie einmal in Zorn geraten war. „Nicht zu mir? Zu wem denn sonst?" Kiku wurde verlegen. „Zu niemandem." Sie sah sich bestürzt im Zimmer um und begegnete plötzlich dem Blick Schinobus, die die Augen abwandte und zur Decke empor starrte. „Was habe ich denn gesagt? Ich habe nur festgestellt, dass bei uns etwas gestohlen worden ist."
Kiku verzog das Gesicht, als wollte sie sogleich anfangen zu weinen. Durch ihre unüberlegten Redereien geriet sie ständig in Konflikte; aber sie hätte lieber alles andere getan, als ihren Fehler zuzugeben.
Tojoda Schige blähte ihre rosigen Wangen und zog ein gelbes Säckchen aus dem Korb. Darin lagen ein paar Fladen und etwas Reis, den sie von zu Hause mitgebracht hatte.
Schige wollte die Hand in das Säckchen schieben, aber Kiku hielt sie am Ellbogen fest.
„Ach, ihr Kleinkrämer!" rief Kassuga Schinobu laut, riss den streitenden Mädchen das Säckchen aus der Hand, öffnete die Schoji und warf es auf den Korridor hinaus. „Pah, was für ein Reichtum! Lächerlich!"
Sie lehnte sich gegen die Wand und brach in ein hysterisches Gelächter aus. „Du hast es erraten. Ich habe die Fladen gegessen." Schinobu näherte ihr Gesicht dem Antlitz Kikus. „Ja, ich bin die Diebin. Hast du verstanden?" „Unverschämtheit!" war alles, was Kiku hervorbringen konnte.
Für einen Augenblick verschlug ihr das grässliche Lachen Schinobus die Sprache.
Tojoda Schige hob das Säckchen im Korridor auf, trat wieder ins Zimmer und zupfte Kiku am Ärmel.
„Genug, lass sie. Du hast die Sache geklärt, nun ist es gut."
Kiku aber konnte nicht mehr schweigen, obgleich sie wusste, dass es unmöglich sein würde, Kassuga Schinobu zu beruhigen, wenn sie einen hysterischen Anfall bekam. „Und wegen so einer habe ich schlecht von Mitsutjan gedacht. Nein, jetzt muss es heraus." Kiku stieß Schige zurück und sprach immer schneller: „Am meisten auf der Welt hasse ich die, die lange Finger machen. Das ist eine Schande für unser ganzes Zimmer. Ich wohne hier seit neun Jahren, aber so etwas..."
Kassuga Schinobu lächelte und warf den Kopf in den Nacken.
„Pah!" unterbrach sie Kiku herausfordernd. „Was willst du eigentlich?" Sie stieß Kiku und Schige beiseite, ging in die Ecke, wo ihr alter Segeltuchkoffer lag, und ließ sich auf die Bastmatte fallen.
„Wenn du willst, dann sage ich es der Zimmerältesten oder meinetwegen auch dem Heimleiter. Was ist denn dabei, in dieser elenden Fabrik, bei diesem Hungerlohn..." Ohne zu Ende zu sprechen, begann sie, mit betont gleichgültiger Miene ein Lied zu summen.
Es wäre am besten gewesen, sie in Ruhe zu lassen; doch Kiku musste sich Luft machen und schleuderte ihr  zwar leise,  aber  deutlich   genug   entgegen: „Du Dirne!"
Kassuga Schinobu fuhr auf. „Was hast du gesagt? Wie hast du mich genannt?"
Ihre großen Augen irrten sekundenlang zwischen Kiku und Schige hin und her, dann brach sie in grobes Schimpfen aus. „Und ihr - ihr seid stinkende Bauernweiber! Habt spekuliert, am Krieg profitiert, und prahlt noch: Wir haben Reis und Fladen."
Kiku wollte etwas erwidern, aber Schinobu ließ sie nicht zu Wort kommen. „Als die hungrige Mitsutjan einmal ein Stückchen von eurem Brot gegessen hat, habt ihr sie behandelt wie eine Diebin. Und da behauptet ihr..."
Auf einmal vernahmen alle, dass Oikawa Mitsu weinte und schluchzte wie ein kleines Kind.
„Hört auf, hört doch endlich auf!" Mitsu hatte die Stäbchen in die Reisschale fallenlassen und den Kopf aufs Kissen geworfen. Kassuga Schinobu drehte sich um und heulte plötzlich noch lauter als Mitsu. „Was ist hier los?"
Keine hatte bemerkt, dass Hatsue eingetreten war. Als Kiku sah, was für eine Wendung die Dinge nahmen, verlor sie ganz und gar die Fassung. Sie zog die Brauen zusammen, kaute an ihren Nägeln und blickte zu Boden.

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