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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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„Die Stunde der Revolution ist gekommen, die Stunde der Revolution ist gekommen!"
sang Fumija voller Begeisterung und wiegte das Kind im Takt der Melodie auf den Knien. Durch das kahle Geäst des alten Dattelpflaumenbaumes fiel das Licht der Herbstsonne auf den Vorplatz. Vor der geöffneten Stalltür tummelten sich die Hühner. Daneben waren Buchweizengarben, die man soeben vom Feld hereingebracht hatte, und Säcke mit Dünger und Asche aufgestapelt. Zwischen Stalldach und Zaun lag eine Stange, auf der Windeln trockneten. In der Nähe des Leiterwagens, vor den gewöhnlich Ochsen gespannt wurden, wenn man aufs Feld hinausfahren wollte, standen einige Eimer voll Mist. Überall waren die Spuren unvollendeter Arbeit zu bemerken.
„Ach, wie schwer der Weg zur Wahrheit ist! Wer will sich da ängstlich zeigen? Brüder, Mut! Nie wird das Joch der Willkürherrschaft Unsre stolzen Nacken beugen!"
Furnija sang, während er mit einer Hand sein Enkelkind stützte und ihm mit der anderen leicht auf das Hinterteil klopfte, das in schmuddligen Höschen steckte. Bei den beiden letzten Zeilen dröhnte seine Stimme, rote Flecke traten ihm auf die Wangen, und seine hellbraunen Augen unter den greisenhaft herabhängenden Brauen wurden feucht.
„Großväterchen, bitte, halt sie noch ein bisschen; ich nehme sie gleich!" bat seine Schwiegertochter Tschisu und lief eilig mit einer Schüssel in der Hand aus der Küche ins Zimmer. Dort lag Fumijas Sohn Motoja. Vor ein paar Tagen war er vollkommen erschöpft von den Südsee-Inseln heimgekehrt und hatte sich sofort übermüdet zu Bett legen müssen.
„Schon gut, schon gut, mach nur deine Arbeit!" Fumija beugte sich über seine kleine Enkeltochter. Sie strampelte ungeduldig mit Händchen und Beinchen, und dicke Tränen liefen ihr über das Gesicht. Als sein unrasiertes, stachliges Kinn ihre Wangen berührte, fing sie wieder laut zu weinen an.
„Ei, ei, ei! Na, na! Du bist doch ein liebes Mädchen, ein kluges Mädchen. Du darfst nicht weinen! Nicht weinen!" redete Fumija auf sie ein und schaukelte sie. In den drei Tagen seit der Rückkehr seines Sohnes hatte er diese Worte oft wiederholt. Der Sohn war heimgekehrt, wenn auch erschöpft und krank. Aber welch großes Glück, dass er überhaupt wieder da war! Es gab ja so viele, die gefallen oder zugrunde gegangen waren! Und Fumija stimmte wieder das alte Revolutionslied an, das man in den Tagen seiner Jugend gesungen hatte.
Torisawa Furnija war seinerzeit Mitglied der „Sozialistischen Liga", die 1921 gegründet wurde. Zehn Personen aus der Provinz Nagano gehörten ihr an - mehr als aus jedem anderen Bezirk. Einer dieser zehn war der 28jährige Fumija. Damals überwarf er sich mit seinem Vater, verließ das Haus und ging nach Tokio. Da er aber der älteste Sohn der Familie war, kehrte er nach dem Tode seines Vaters in sein Heimatdorf zurück und übernahm die Wirtschaft. Bald darauf wurde in Torisawa eine Grundschule eröffnet, und Fumija leitete sie lange Zeit, bis er 1934 mit vielen anderen aus der Provinz Nagano wegen „Verbreitung der roten Ideologie unter den Pädagogen" festgenommen, nach Nagano gebracht und ins Gefängnis geworfen wurde. Uber ein Jahr saß er in Untersuchungshaft und wurde schließlich freigelassen, weil sich der Gemeindevorsteher Saito Judschiro für ihn eingesetzt hatte. Man hielt ihn für einen „reuigen Sünder". Während des Krieges gelang es ihm, wieder mit Hilfe Saitos, Gemeindeschreiber zu werden. Er stand in Torisawa wie in allen umliegenden Dörfern seit langem in dem Ruf eines gefährlichen Schlaukopfs und Querulanten.
Eben war er mit einem Armvoll Gras für den Ochsen nach Hause gekommen, hatte seine Arbeitskleidung ausgezogen und ein Gläschen Sake getrunken. Nun hing er seinen Gedanken nach. Das imperialistische Japan, dieses letzte Bollwerk des faschistischen Lagers im zweiten Weltkrieg, war nun zerschlagen. Aber demokratische Organisationen hatte es in Japan allzu lange nicht mehr gegeben. Deshalb würde jetzt wohl einige Zeit vergehen, bis sie in diesem entlegenen Bergland wiederauflebten.
„Man kann den Leib in Fesseln legen, Uns aufs Schafott und ins Gefängnis jagen, Es führt uns der Gerechtigkeit entgegen Der Geist in uns, den niemand kann in Fesseln
schlagen!"
Fumija sagte Verse von Sussui Kotoku (Anm.: Japanischer Dichter und Revolutionär, der 1911 hingerichtet wurde.) vor sich hin. Greisenhaft empfindlich, wie er war, nahm er sich alles sehr zu Herzen. Er dachte an seine Frau, die ein trübseliges, mühevolles Leben an seiner Seite verbracht hatte, an die Menschen, die er in seiner Jugend gekannt hatte und deren Dasein ein ständiger schwerer Kampf gewesen war - Ossugi Sakae, Sakai Toschihiko, Itschikawa Sejitschi... Er sprach die Verse vor sich hin, wiegte bedächtig den Kopf, und Tränen rollten ihm in den grauen Bart:
„Sturmnacht in Russlands Hauptstadt, Die rote Fahne über dem Winterpalais..."
Das dunkle Blau der welligen Silhouette der Berge ging allmählich in Violett über. Fumija murmelte die Verse, und Bilder aus seiner Jugendzeit stiegen vor ihm auf. Er wollte sich nicht in seine Erinnerungen verlieren, aber in diesem Augenblick beschäftigten sie ihn gegen seinen Willen. Mechanisch schaukelte er sein Enkelkind und sah zu, wie die Dunkelheit hereinbrach und wie der Nebel, der aus Tälern und Sümpfen aufstieg, nach und nach die Berge einhüllte.
Hinter der Hecke kam ein Mann vorüber, der ein Fahrrad neben sich herschob. Er trug ein Käppi und ein schwarzes, bis zum Hals zugeknöpftes Jackett, das über und über mit weißem Staub bedeckt war. Es schien, als suche er jemanden. Jetzt blieb er stehen, ging aber gleich wieder weiter, unschlüssig, ob er den Alten ansprechen sollte oder nicht. „Vater!" drang die Stimme Motojas aus dem Zimmer an sein Ohr.
„Ja, was willst du?" Ohne aufzustehen streckte Fumija die Hand aus, schob die Schoji ein wenig auseinander und schaute in den Raum. Motoja richtete sich auf. Als Fumija sah, dass sein Sohn ihn anblickte, wandte er sich ab und fragte, obwohl er wusste, dass Motoja ihn sprechen wollte: „Soll Tschisu kommen?"
Motoja saß auf der Matratze, die dürren, knochigen Arme und Beine von sich gestreckt. Sein geschwollenes Gesicht war gelblichbleich.
„Vater, hat Mutter vor ihrem Tode noch etwas gesagt?" fragte er.
„Was... was meinst du denn? Wovon sprichst du?" Fumija war verwirrt, gewann aber gleich darauf mühsam die Fassung wieder und sagte mit ruhiger Stimme: „Wo denkst du hin! Deine Mutter ist ganz plötzlich gestorben. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit, einen Seufzer auszustoßen."
Vater und Sohn schwiegen eine Weile. Fumija tat, als wäre er vollauf mit dem plärrenden Kind beschäftigt, und redete ihm zu: „Still, still, nicht weinen, nicht..."
Der Alte hatte seinem Sohn nicht die Wahrheit gesagt. Länger als zwei Jahre hatte er ihm den Tod seiner Mutter verschwiegen und ihm auch jetzt, nach seiner Rückkehr, noch nichts Näheres erzählt. Motoja hatte offenbar Verständnis für die Gefühle seines Vaters, und beide waren bisher einem Gespräch über diesen Punkt ausgewichen. Die Mutter war wohl schon lange krank gewesen, als Motoja in den Krieg zog. Später, nach ihrem Tode, erkannte Fumija das selbst; aber damals steckte er bis zum Hals in der Arbeit für die Gemeindeverwaltung und seine Wirtschaft und hatte keine Zeit, auf die Gesundheit seiner Frau zu achten.
Fumija galt früher im Dorf als mittlerer Bauer; doch während seiner Gefängniszeit hatten seine Angehörigen sein Waldgrundstück völlig vernachlässigt und nur ein kleines Stück Land von vier Tan Größe bebaut. Aus diesem Grunde war die Seidenraupenzucht eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Familie. Sie brachte ihnen gerade so viel ein, dass sie von der Hand in den Mund leben konnten.
Die Frühjahrsbrut der Seidenraupen war besonders wichtig; deshalb gab es in den Tagen vor Motojas Abreise im zweiten Stockwerk des Hauses, wo die Raupen gezüchtet wurden, viel zu tun, und Mutter Tatsu schloss nächtelang kein Auge.
„Mir ist so schwindlig...", klagte sie oft, wenn Fumija mit einem Korb voll Maulbeerblättern heraufkam. Mit gebeugtem Rücken hockte sie in dem schmalen Gang zwischen den Regalen, auf denen die kleinen Brutkästen standen. Es war ihr anzusehen, dass sie mehr als eine Nacht schlaflos verbracht hatte.
„Mir ist... nicht gut...", sagte Tatsu eines Abends kurz nach Motojas Abreise plötzlich mit ganz fremder, seltsamer Stimme. Sie stand auf einer Leiter, nahm ein Kästchen mit Raupen und wollte es gerade ihrer Schwiegertochter Tschisu hinunterreichen. „Mir ist... schlecht..."
Erschrocken lief Fumija hinzu, Tatsu warf den Kopf hintenüber und stürzte ihm mit weitaufgerissenen Augen wie eine Getreidegarbe in die Arme.
Schlaganfall... Tatsu war einst eine kräftige, lebhafte und fleißige Frau gewesen. Als ihr Mann für einige Jahre nach Tokio übersiedelte, als er im Gefängnis saß und das ganze Dorf ihn verurteilte, als sie ohne ihn den jüngsten Sohn begraben musste, bewältigte sie allein die ganze Arbeit, und niemals hörte man die leiseste Klage von ihr.
„Tatsu, möchtest du etwas sagen?" fragte Fumija immer wieder während der zehn Tage, die sie noch lebte. Sie schien bei Bewusstsein, denn ihre Lippen bewegten sich von Zeit zu Zeit krampfhaft. Fumija holte einen Schreibpinsel, schob ihn ihr mit Mühe in die Hand, die sie noch ein wenig bewegen konnte, und sie schrieb auf ein Stück Papier: „Motoja". Dann, nach einer Weile, fügte sie hinzu: „Nichts sa..." - und verschied. Der Satz blieb unvollendet, doch Fumija begriff, und er hatte seinem Sohn nichts über ihren Tod mitgeteilt.
Als Motoja vom Militär heimkehrte, ging er geradenwegs zum Hausaltar und zündete eine Kerze an. Wahrscheinlich hatte er schon an der Front alles geahnt. Jetzt, nach der Antwort seines Vaters, fühlte er, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, darüber zu sprechen, und er fragte nicht weiter.
„Weißt du was, Vater, wir wollen uns eine Kuh anschaffen", sagte er unvermittelt und wandte sich dem Alten zu. Mit seinem etwas groben Bauerngesicht, der breiten Nase und dem großen Mund war er seiner Mutter sehr ähnlich. Im offenen Ausschnitt seines dunklen Kimonos war seine Brust mit den deutlich hervortretenden Rippen zu sehen, unter seinen spitzen Wangenknochen lagen tiefe Schatten; doch seine Augen leuchteten jugendlich.
„Ich habe es bei den Bauern dort gesehen. Es ist sehr schön..."
Seine Stimme hatte einen schwärmerischen Klang. „Was sagst du?"
„Ich finde, wir sollten auch hier in Nagano endlich aufhören, uns ausschließlich mit der Seidenraupenzucht zu beschäftigen. So wertvoll ist diese Rohseide ja nicht! Was meinst du?"
„Da hast du schon recht", murmelte Fumija zustimmend und fuhr fort, das Kind zu schaukeln. Er wunderte sich, auf was für Gedanken sein Sohn kam, seit er heimgekehrt war.
„Vater, hast du schon einmal etwas von Roggen gehört? Ich hatte in der Armee einen Kameraden ein Agronom, der mir oft von der Landwirtschaft in der Sowjetunion erzählte. Von ihm habe ich viel erfahren... Ich glaube, bei uns würde der Roggen gut gedeihen." Motoja sprach lebhaft und strich dabei mit der Hand über sein langes, mageres Bein.
Er erzählte von Milchfarmen in fremden Gegenden, auf den Südseeinseln, und von seinem Freund, dem Agronomen, der aus Tokio stammte und von dem er soviel über die Landwirtschaft in der Sowjetunion gehört hatte. Fumija betrachtete seinen Sohn von der Seite. Wie konnte er das bei allem, was er durchgemacht hatte, nur aufnehmen und sich einprägen? Er lauschte und dachte verwundert: Was für ein Volk wir Bauern doch sind!
Die Schwiegertochter kam aus der Küche. „Sieh nur, Großvater", sagte sie, trocknete ihre nassen Hände und nahm Fumija das Kind ab. „Da ist dieser Mensch wieder. Ein sonderbarer Kerl..."
Tatsächlich, hinter der Einfriedung tauchte von neuem der Mann in dem schwarzen Jackett auf. Er hielt das Fahrrad fest und blickte unentschlossen zu dem Haus auf. „Verzeihen Sie, bitte", begann er schließlich und hob die Hand an den Mützenschirm. „Wohnt hier Torisawa Fumijasan?"
„Was gibt's?" Fumija reckte den Hals vor, tastete nach den Sori, die vor dem Hause standen, schob die Füße hinein und machte in gebückter Haltung ein paar Schritte auf den Fremden zu. „Ich bin Fumija. Was wünschen Sie?"
Und plötzlich glätteten sich die Falten auf seiner Stirn: „Oh, Kobajaschi! Das ist doch Kobajaschi Masaru!"

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