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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Die Arbeiter in der Werkhalle waren offenbar durch das Sammeln der Vorschläge ganz in Anspruch genommen. Araki hielt jedem ein kleines Kästchen hin; der Arbeiter streckte die Hand aus und ließ einen zusammengerollten Zettel hineinfallen, ohne sich von der Maschine zu entfernen. Einige kauten nachdenklich am Bleistift, andere machten mehr Aufhebens und Lärm, als notwendig war. Es gab so viele „offenherzige Vorschläge", dass die Leute verwirrt wurden und nicht wussten, was sie zuerst aufschreiben sollten.
„Nanu, was ist denn das?" rief plötzlich Onoki Kumao, der Araki beim Einsammeln half, als er am Tisch des Meisters den Soldaten bemerkte. Onoki Kumao, ein kleiner junger Bursche mit Brille, von dem man in der Dreherei sagte, er sei nicht auf den Mund gefallen, hatte schon in seiner Lehrlingszeit mit Furukawa zusammen gearbeitet. „Sieh mal einer an, du lebst ja noch! So ein Wunder!" schrie er begeistert. „He, Jungs! Furukawa, der Teufelskerl, ist wieder da! Seht mal, da sitzt er und verschlingt sein Frühstück!" rief er so laut, dass es alle hörten.
Die Arbeiter kamen herbei, umringten den Soldaten und starrten ihn an wie ein Fabelwesen. Furukawa stopfte sich beide Wangen voll Brot, und wenn ihm einer der alten Kollegen auf die Schulter klopfte oder ihm freundschaftlich gegen den Kopf schnippte, dann lachte er nur, denn sprechen konnte er nicht.
Da trat Inoue auf ihn zu. Er hatte bei den Truppen in Japan gedient und war früher heimgekehrt als Furukawa.
„Ach, J-Junge, wwas hahast du dudurchgemacht..." begann er stotternd und umarmte Furukawa. Der lachte nur.
Inoue hatte runde Augen, und seine Nasenspitze war rot wie eine Pfefferschote. Jetzt, da er aufgeregt war, sprach er mit schriller Stimme, und das wirkte besonders komisch. „Schnell, Kollegen, lasst mich durch!"
Araki erschien mit dem Kästchen unter dem Arm. „Los, Zählkommission, beeilt euch!" wandte er sich an seine Helfer. „Lasst uns durch, Kollegen, lasst uns durch!"
Verwirrt beobachtete Furukawa das Getümmel. In seinem Kopf drehte sich alles wie bei einem Betrunkenen. Offenbar suchte er sich krampfhaft an irgendetwas zu erinnern. „Schon fertig!" Eine Gruppe Arbeiter und Arbeiterinnen aus der Montagehalle im oberen Stockwerk, mit dem Obermeister Kassawara an der Spitze, umringte den Tisch Arakis. Sie redeten alle durcheinander, und wieder begann es in Furukawas Kopf zu kreisen. „Wir müssen uns beeilen, es ist bald Mittagszeit!" Kassawara war viel jünger als Araki. Er war vor kurzem erst Obermeister geworden. Er nahm regen Anteil an der Organisation des „Beratungskomitees" und hatte sich bereitwillig gemeldet, beim Einsammeln der Vorschläge zu helfen. Hinter ihm stand Jamanaka Hatsue mit einem Kästchen in den Händen. Mit ihr waren Kobajaschi Schige und andere Arbeiterinnen aus der oberen Montagehalle gekommen. „Es müssen Maßnahmen getroffen werden, damit in diesem Jahr nicht wieder die Wasserrohre einfrieren...", las jemand von einem Zettel ab. „Die Lebensmittelpreise sind zu hoch!" Araki notierte alles gewissenhaft.
„Wir müssen für den Wiederaufbau Japans arbeiten..."
„Ach, ich glaube, das geht über meine Kräfte!" sagte einer, und alle lachten. In diesem Augenblick klappte der Soldat den Deckel der Frühstücksbüchse zu. „Ach richtig, jetzt weiß ich's wieder!" rief er.
Endlich war ihm eingefallen, was ihn die ganze Zeit beunruhigt hatte. Die anderen sahen ihn erstaunt an.
„Ja, natürlich - ich muss doch Ikenobe begrüßen!"
Ikenobe und Furukawa waren beide als Lehrlinge in die Fabrik gekommen, und Ikenobe hatte seinem Freund mehrmals über das Befinden seiner Mutter berichtet.
Furukawa Schiro wurde im Kreise seiner alten Arbeitskollegen beschwingt und heiter. Vergnügt und lebensfroh, wie er von Natur aus war, vergaß er in diesen Minuten seinen Kummer und alle erlittenen Qualen.

„Also, du warst beim Militär und bist jetzt entlassen. Dann zählen wir dich zu den anderen vom Werk Oi, die hierher versetzt wurden", sagte der Angestellte der Personalabteilung mit wichtiger Miene und blickte auf den Umschlag mit dem Stempel der Hauptverwaltung.
Araki regelte alles für Furukawa; die Höhe des Lohnes - die Preise waren ja jetzt ganz anders als zu der Zeit, da Furukawa einberufen wurde -, die Wohnung im Arbeiterheim, die Verpflegung. Furukawa stand nur dabei und lächelte glücklich.
Als es zur Mittagspause läutete, waren sie noch immer im Kontor. Furukawa aber wollte vor allem Ikenobe wiedersehen.
„Unser Direktor ist ja gut - tut, als ob er dich nicht kennt", brummte Araki, während sie den Flur hinuntergingen. Direktor Sagara war zu der Zeit, als Furukawa lernte, Abteilungsleiter gewesen. Er musste also wissen, wen er vor sich hatte.
Die Versammlungsteilnehmer liefen eilig durch den Korridor in den Saal.
Als Araki und Furukawa an der Versuchsabteilung vorbeikamen, trat Nakatani aus der Tür. Die Hände in den Hosentaschen, blieb er stehen und lächelte freundlich. „Ach, Furukawakun! Willst du zu Ikenobe? Er ist schon im Saal. Er ist Mitglied des Organisationskomitees."
„Im Saal? Wo ist der Saal?" Furukawa wäre am liebsten gleich losgelaufen, aber Araki sagte: „Warte doch, warte, wir gehen alle zusammen hin."
Furukawa rannte voraus, dann blieb er ein Stück zurück, und wieder packte ihn die Ungeduld, Ikenobe so schnell wie möglich zu finden. Er war so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie Araki dem Meister Nakatani heimlich einen weißen Umschlag zusteckte, den er von Torisawa Fumija bekommen hatte - von demselben Manne, dem Furukawa am Fabriktor begegnet war. Der Umschlag enthielt ein kleines Flugblatt „Aufruf an das japanische Volk!" und die erste Nummer der kommunistischen Zeitung „Akahata" (Anm.: Rote Fahne.).
Das Gebäude, in dem sich der Versammlungssaal befand, stand unmittelbar am Flussufer. Der Raum war voller Menschen. Auf den Bastmatten, die den Bretterfußboden bedeckten, hockten die Leute in der gewohnten Rangordnung, wie sie im Kriege üblich gewesen war. In der Mitte des Saales war ein Gang freigelassen. Links von ihm hatten die Arbeiterinnen Platz genommen, rechts die Arbeiter. Im Ganzen waren es sieben- oder achthundert Menschen. Ein paar Dutzend Angestellte hatten die Stühle an den Wänden besetzt. Über dem Podium hing noch ein Spruchband mit der Aufschrift: „Heiliges Land Japan."
Furukawa blickte sich verwirrt nach allen Seiten um. Auf dem Podium stand Takenoutschi und eröffnete die Versammlung. Davor auf dem Fußboden saßen Schulter an Schulter die Mitglieder des Organisationskomitees.
„Und nun hören wir, der Tagesordnung entsprechend, die Begrüßung durch den Vorsitzenden des Beratungskomitees", schloss Takenoutschi seine Ausführungen. Man applaudierte, und Direktor Sagara betrat die Bühne. Da entdeckte Furukawa endlich Ikenobe Schinitschi. Er hatte sich auf einer Matte niedergelassen, die spitzen Knie vorgestreckt; jetzt wandte er den Kopf zur Seite und flüsterte seinem Nachbarn Kassawara etwas ins Ohr. Furukawa stieg über Köpfe und Schultern der andern hinweg und drängte sich zu Schinitschi durch.

Die Freunde verließen den Saal und gingen auf die Galerie hinaus. Unter ihnen plätscherte der Tenrju. Eine Weile blickten die jungen Leute  einander schweigend an. „Ich werde jetzt auch hier arbeiten."
„Ja?"
„Und mit dir zusammen wohnen, in Kami-Suwa", erklärte Furukawa in freudiger Erregung. Schinitschi aber ließ den Kopf immer tiefer sinken. Er war blass geworden. „Hast du meinen Brief bekommen, den ich dir im Mai geschrieben habe?" fragte er und stocherte mit der Spitze seiner Sandale im Boden.
„Im Mai? Nein, den habe ich nicht bekommen", antwortete Furukawa. „Im Mai haben wir überhaupt nichts..." Seine eingefallenen Wangen begannen plötzlich zu zittern. Er packte Schinitschi an den Schultern und schüttelte ihn heftig. Ikenobes Gesicht sagte ihm alles. „Du! Weißt du etwas von meiner Mutter?"
Er hörte nicht auf, ihn zu rütteln, doch Ikenobe brachte kein Wort heraus.
Als Furukawa Soldat geworden war, hatte Ikenobe seiner Mutter mehrmals geschrieben, um die alte Frau zu trösten. Nach dem furchtbaren Luftangriff der Amerikaner auf den Stadtteil Fukagawa bat Ikenobe seine Eltern, sich nach Furukawas Mutter zu erkundigen. Sie teilten ihm mit, es sei zwar nicht gelungen, ihren Leichnam zu finden, man könne aber mit Sicherheit annehmen, dass sie im Feuer umgekommen sei.
„Wir sprechen später über alles... wenn wir im Heim sind..."
In diesem Augenblick erschien Komatsu Nobujoschi und schlurfte watschelnd an den beiden jungen Leuten vorüber.
Ikenobe fühlte, dass er Furukawa nicht in die Augen sehen konnte, und machte eine Bewegung, um in den Saal zurückzukehren; doch Furukawa hielt ihn fest. „Nein, sag es mir gleich, hörst du? Sie ist tot, nicht wahr?"
Ikenobe antwortete nicht; er machte ein finsteres Gesicht und biss die Zähne zusammen. Da ließ Furukawa den Kopf an seine Schulter sinken und schluchzte.
Komatsu Nobujoschi, der wie immer seine Offiziersuniform trug, auf die er so stolz war, ging gemächlich die Galerie entlang und rauchte eine amerikanische Zigarette. Seine ganze Haltung brachte zum Ausdruck, dass er es für unter seiner Würde hielt, Reden oder Vorträge anzuhören.
Als er Furukawas Schluchzen hörte, wandte er sich um. Aber so etwas vermochte ihn nicht zu rühren. Beim Anblick des schmutzigen Soldaten, der sein Gesicht an Ikenobes Schulter barg, dachte er nur: Ach, wieder so ein dreckiger kleiner Soldat, und spie über das Geländer.
Fünfzig Meter weiter sah er den Obermeister Nakatani von der Versuchsabteilung, der sich gegen das Geländer lehnte und las.
„...Wir fordern die Entthronung des Kaisers und die Beseitigung der Monarchie. Unser Ziel ist eine republikanische Volksregierung, die auf dem Willen des ganzen Volkes beruht..."
Nakatani las den „Aufruf an das japanische Volk!". Der eisige Wind wehte Schaumspritzer vom Fluss bis zu ihm herüber. Nakatani zitterte vor Kälte. Er hatte sich in diesen entlegenen Winkel zurückgezogen und studierte heimlich die Broschüre. In seiner Vorstellung war die Kommunistische Partei noch immer etwas Verbotenes, Illegales.
„...unser Volk ist obdachlos geworden, es leidet unter Hunger und Kälte und ist vom Tode bedroht. Die derzeitige Regierung, die alle ihre Kräfte für die Erhaltung des monarchistischen Regimes und für das Wiedererstehen des Militarismus einsetzt, ergreift nicht nur keine Maßnahmen, um das Volk aus seiner Not zu befreien, sondern sie verschärft und vergrößert diese Not durch ihre Politik."
Nakatanis Blick verweilte bei den Worten, mit denen der Aufruf unterzeichnet war: „Eine Gruppe Genossen, die aus dem Gefängnis gekommen ist".
Zusammengekauert saß er eine lange Zeit unbeweglich da und spürte nicht den kalten Wind, der vom Fluss herüber wehte.

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