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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Der Morgen graute. Schwach zeichnete sich die Gebirgskette gegen den Himmel ab. Die Windungen und Falten der Berghänge verschwammen hinter wallenden Nebelschwaden. Über einem tiefen, engen Tal erhob sich ein breites Felsplateau. Hier oben, etwa einen Kilometer von dem Dorf Torisawa entfernt, inmitten des üppig wuchernden Waldes, hielt ein Ochsengespann.
Zwischen den Felsblöcken kam ein Mann hervor. Er sah aus wie ein Bauer. Er schleppte Kisten herbei und verlud sie auf das Fuhrwerk. Der braune Ochse war nass von der Feuchtigkeit ringsum. Er peitschte seine Flanken mit dem Schwanz und brummte, aber die schwere, dumpfige Luft verschluckte jeden Laut.
Dichter Nebel hüllte auch die fünf Dörfer ein, die sich am Flussufer erstreckten. Sie schienen noch zu schlafen.
Fern im Osten hinter dem Suwasee tauchte der Jagatake aus dunstigen Wolken auf. Die Gipfel der Berge rings um die Siedlung am Fluss waren noch in Dunkel gehüllt. Hier schien sich der Tag verspätet zu haben. Torisawa lag zudem als einziges der fünf Dörfer in einer Schlucht.
Jede dieser Ortschaften bot ein anderes Bild, das von der Eigenart der Gegend geprägt wurde. Kami-Gawasoi und Schimo-Gawasoi, die beiden größten, grenzten an die Chaussee. Es waren alte, eingewohnte Siedlungen. An der Hauptstraße drängten sich kleine Läden, in denen man alle möglichen Waren kaufen konnte vom Tabak und von Gebrauchsgegenständen bis zum Salz und zu Medikamenten. Es gab auch Fischhändler, die vor allem Salzfische feilboten, Fleischer, die mit Pferdefleisch handelten, einen Schuhmacher und einen Haarschneider. Schimo-Gawasoi hatte sogar eine Grundschule, und seine Gemeindeverwaltung befand sich in einem zweistöckigen Gebäude europäischen Stils. Auf einem schmalen Uferstreifen zwischen Bergwand und Fluss lagen eine kleine Kokonverarbeitungsfabrik und ein unbedeutendes Sägewerk, das seine Produktion nicht einmal während des Krieges gesteigert hatte, da es in diesem Bezirk fast kein Holz gab, das sich für den Schiffsbau eignete.
Wollte man das Dorf Torisawa erreichen, so musste man hinter Schimo-Gawasoi von der Straße rechts abbiegen, immer höher hinaufsteigen und etwa zwei Kilometer weit ins Gebirge eindringen. Der Weg wand sich zwischen Feldern, die stufenförmig auf Felsvorsprüngen klebten, und kahlen, rötlichen Lehmflächen dahin, auf denen nicht einmal wildes Gras wuchs, schnitt sich in enge, sumpfige Täler ein, führte an manchen Stellen jäh aufwärts und fiel dann wieder ab in Schluchten voller riesiger Felsblöcke, wo das ganze Jahr hindurch Finsternis und Feuchtigkeit herrschten. Im Winter versank der ganze Pfad unter meterhohem Schnee oder in abgrundtiefem Schlamm.
An der Stelle, wo man den fernen Gipfel des „Bonzen" erblickte, öffnete sich die Schlucht und gab die Aussicht frei auf das Dorf mit seinen Stroh- und Holzdächern und den geweißten Mauern der Speicher. Die etwa hundertdreißig Häuschen der Siedlung zogen sich dicht aneinandergedrängt die Berghänge hinab bis ins Tal.
Zu dieser frühen Morgenstunde war das Dörfchen ganz in dicken Nebel eingebettet. Aber dort oben, wo der Wagen stand, wurde gearbeitet. Kisten mit Konserven, Säcke, Ballen von Bastmatten, Blechkanister, anscheinend voll Öl, und andere für diesen abgelegenen Ort ungewöhnliche Dinge wurden auf das Fuhrwerk gepackt. „So, das genügt. Zieh jetzt das Seil fest!" ertönte eine Stimme, und Takenoutschi trat aus dem grauen Dunst hervor. „Du lädst dort alles ab und kommst so schnell wie möglich wieder. Dann holst du den Rest, verstanden?"
Takenoutschis khakifarbenes Hemd war völlig durchnässt. Sein glattrasierter Kopf dampfte, der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn. Er war gerade dabei, dem Arbeiter beim Verschnüren der Ladung zu helfen. Plötzlich reckte er den Hals, blickte in den Nebel und lauschte. Dann lief er eilig bergab, als hätte er einen Ruf vernommen. Die Zweige schlugen ihm ins Gesicht.
Unten im dichtbewaldeten Talgrund herrschte noch Halbdunkel. Takenoutschi stieg immer tiefer hinunter. Bald tauchten in dem milchigen Nebel vor ihm dunkle Schatten auf. Es waren zwei langgestreckte, miteinander verbundene Baracken. Sie sahen aus wie Fabrikhallen - ein ungewöhnlicher Anblick in dieser Einöde.
Am Eingang zu den Baracken stand Direktor Sagara. Er trug eine weiße Sportmütze, feldgraue Hosen und hohe Stiefel mit Ledergamaschen. Ungeduldig sah er auf seine Armbanduhr und fragte gereizt: „Wie lange fährt er?"
„Na ja doch, er kommt gleich zurück." Der Buchhalter machte eine beruhigende Handbewegung und schritt den neuangelegten Pfad entlang, der zu den Baracken führte. Seine Füße versanken in dem roten Lehm. „Wir haben die Ladung geteilt, um den Wagen nicht zu sehr zu belasten. So wird's schneller gehen." Seine Schweinsäuglein blitzten auf, als wollten sie zum Ausdruck bringen, er als Einheimischer wisse am besten, wie man das machen müsse. Ihm brauchte man nichts zu erklären. Zugleich aber drückte sein Gesicht eine anzügliche Vertraulichkeit aus, die zu sagen schien: Wir sind ja jetzt Komplicen...
„Ach, wie das hier alles verkommt!" rief Takenoutschi und warf einen Blick auf die Kisten und Säcke, die ringsum verstreut lagen. Dann betrat er eilig die Baracke. Der Direktor folgte ihm.
In dem fahlen Morgenlicht, das durch die Fenster in den Raum drang, konnte man gerade die Umrisse der verschiedenen Gegenstände erkennen, die sich auf dem Fußboden türmten: Stöße von Kupferplatten, in Bastmatten eingewickelt, Stapel von Stangen aus einem merkwürdigen Metall, das wie Silber glänzte.
Takenoutschi blickte suchend hierhin und dorthin und schob einige Platten beiseite. Unter Strohmatten schauten die dick eingeölten Rümpfe von Schleifmaschinen hervor; Teile von Drehbänken lagen umher, mit Lappen zugedeckt; in einer Ecke standen halbfertige Werkbänke mit hohen Rahmen. Diese ganze Anlage auf dem Grunde eines Tales mitten im dichten Wald war offenbar erst kurz vor Kriegsende entstanden, weil diese Gegend besseren Schutz gegen Luftangriffe bot.
„Das hier ist wohl das Richtige, nicht wahr?" Takenoutschi sah den Direktor an und stieß mit dem Fuß gegen einen Haufen Blechkisten. Sagara antwortete nicht. Takenoutschi trat näher ans Fenster, zog ein Schreibheft aus der Tasche und blätterte darin. „Ich glaube, hiervon könnten wir drei Kisten nehmen."
Er umfasste die oberste Kiste mit beiden Armen und stellte sie auf den Boden. Zu zweit trugen sie die Last durch das lange Gebäude zum Ausgang. Beim Transport der zweiten Kiste ging Sagara schon der Atem aus.
„Genug!" sagte er zu Takenoutschi, der sich anschickte, die dritte zu holen. „Der Krieg ist aus, das ganze Zeug ist keinen Pfifferling wert."
Das Fuhrwerk kam zurück, Takenoutschi und der Kutscher luden die Blechkisten auf, Sagara stand mit mürrischer Miene dabei und sah zu. Seine feuchte Zigarette erlosch immer wieder, schließlich zerdrückte er sie und warf sie weg. Der Wagen ruckte an, und Sagara stapfte hinter ihm her den Berg hinauf.
„Ich muss schon sagen, ich habe mächtigen Hunger!" bemerkte Takenoutschi.
Der Direktor schwieg. Der zweirädrige Karren schwankte bedenklich von einer Seite zur anderen. Die nasse Erde und das Gras dämpften das Rattern und Knarren der Räder. Endlich tauchten die mit großen Steinen beschwerten Holzdächer der Siedlung auf. Meckernde Ziegen sprangen im hohen Gras umher. Der Nebel hatte sich noch nicht verzogen, aber im Dorf herrschte bereits reges Leben. Hinter einer schwarzen steinernen Einfriedung ragten die weißen Mauern der zahlreichen Gutsgebäude der Familie Torisawa auf.
Direktor Sagara Eiki hatte schlechte Laune. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, schritt er hinter der Fuhre einher durch den feuchten, schweren Sand. Im Stillen warf er sich vor, leichtsinnig zu handeln, und er bereute, dass er sich in einer so wichtigen Angelegenheit diesem Dorftölpel Takenoutschi anvertraut und sich dadurch in eine gewisse Abhängigkeit von ihm gebracht hatte. Aber die Zukunft war unsicher, man konnte nie wissen... Jedenfalls musste man in einer solchen Zeit möglichst viele Lebensmittel beiseite schaffen.
Von seinem Standpunkt aus war er im Recht. Er bedauerte, dass der Krieg verloren war, nicht anders, als er ein „missglücktes Geschäft" bedauert hätte. Es ging ihm durchaus nicht so nahe wie einigen Angestellten der Fabrik, die bei der Nachricht von der Kapitulation geweint hatten. Zwar fürchtete er, als Direktor einer Waffenfabrik von den Alliierten bestraft zu werden, aber es kam ihm nicht in den Sinn, sich als Kriegsverbrecher zu betrachten.
Er hatte schon vergessen, dass er bis zuletzt von seinen Untergebenen verlangt hatte, seine Befehle als „Kriegsbefehle" anzusehen.
Sagara hatte die Technische Hochschule in Tokio besucht und besaß eine ziemlich klare Vorstellung vom Staatsaufbau der USA. Das verlieh ihm eine gewisse Ruhe. Doch da war noch die Sowjetunion. Was würde aus der „Tokio-Electro", wenn die wahre Demokratie käme? Das Kapital der Gesellschaft gehörte  dem   Mitsui-Konzern,   folglich  waren  einschneidende Maßnahmen zu erwarten. Damit rechneten alle, die für die Verwaltung des Konzerns verantwortlich waren. Aber zu denen gehörte er ja nicht: Er war schließlich nur einer der technischen Leiter, und wer weiß, vielleicht eröffneten sich für ihn sogar in allernächster Zukunft neue Perspektiven... „Tametsugi, he, Tametsugi!" Takenoutschi überholte das Fuhrwerk und eilte auf einen hageren Mann von etwa dreißig Jahren zu, der neben dem hohen, mit einem Schutzdach aus Schilfrohr gedeckten Einfahrtstor stand. Der Mann trug ein altes, grobgewebtes Militärhemd. Er sah aus wie eine Feldmaus - ein kleines, dunkles Gesicht, dünne Lippen, ein spitzes Kinn. Das war Takenoutschi Tametsugi, der ältere Bruder des Buchhalters. Er wohnte im Hause der Torisawas und war zugleich Pächter und Verwalter.
Der Karren rollte durch das Tor, und Tametsugi führte das Gespann über den geräumigen Hof, am Wohnhaus vorbei, zu den Speichern.
„Warten Sie einen Augenblick, ich bin gleich wieder da!" Tadaitschi winkte dem Direktor zu und folgte dem Fuhrwerk.
Das Wohnhaus machte einen imposanten Eindruck. "Vom Dach leuchtete in weißen auf schwarzen Schindeln das Familienwappen der Torisawa. Eine breite Veranda zog sich rings um das ganze Gebäude. Am Eingang in die geräumige, altertümliche Diele hing eine kleine Tafel, die bekundete, dass der Hausherr auf Lebenszeit Mitglied des Japanischen Roten Kreuzes sei. Ein Schildchen daneben nannte die Telefonnummer. Der nächste Raum hinter der Diele war ein europäisch eingerichteter Salon. Das Anwesen lag an einem Berghang, von dem ein kleines Bächlein herabfloss und als Wasserfall in einen Teich strömte. Das Haus war von uralten Buchsbäumen und einigen schönen chinesischen Kiefern umgeben, denen man ansah, dass sie sorgsam gepflegt wurden. Beiderseits des Fußpfades, der zu den Speichern führte, schimmerten wie überall in dieser Gebirgsgegend bunte Zinnien und Tausendschönchen.
Acht Tscho (Anm.: Flächenmaß, etwa 1 Hektar) Ackerland und fünfzehn Tscho Wald... Natürlich konnte sich Torisawa nicht als übermäßig reichen Gutsbesitzer betrachten. Hier aber, wo man an den Abhängen Steinwälle errichten und Erddämme bauen muss, um das Wasser aufzuhalten, und wo auf einem Tan (Anm.: Flächenmaß, etwa 0,1 Hektar) mitunter neun oder sogar zehn winzige Parzellen liegen, war das schon ein bemerkenswerter Landbesitz. In allen fünf umliegenden Dörfern konnte man Gutsherren wie Torisawa an den Fingern abzählen.
Direktor Sagara stand tief in Gedanken versunken mitten auf dem großen Hof.
Plötzlich vernahm er eine Stimme: „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle - ich bin der ältere Bruder von Torisawa Ren. Bitte, erweisen Sie uns die Ehre, eine Tasse Tee bei uns zu trinken."
In der Haustür stand der Gutsherr Torisawa Kintaro, ein Mann von etwa vierzig Jahren. Er trug einen Anzug von halbmilitärischem Schnitt, seine Füße steckten in Getan. Ein Lächeln erschien auf seinem bleichen, etwas länglichen Gesicht mit der „hohen" Nase (Anm.: Eine „hohe" Nase ist eine - wie beim Europäer - hoch ansetzende Nase, selten bei Japanern, deshalb in Japan auffallend.), als er jetzt dem Direktor entgegenkam.

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