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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Ikenobe Schinitschi erwachte als erster, warf einen Blick auf die Armbanduhr, die an seinem Kopfende lag, und sprang erschrocken hoch.
Es war fast ein Viertel vor sieben. „Du, steh auf!" rief er dem schlafenden Furukawa zu, während er sich hastig ankleidete. Gewöhnlich brauchte Schinitschi fünf Minuten zum Waschen, zehn Minuten zum Frühstücken und weitere fünf Minuten für den Weg zum Bahnhof. Dort stieg er in den Sieben-Uhr-Zug und schritt zwanzig Minuten später die Straße entlang, die vom Bahnhof Okaja zur Fabrik führte. „Beeil dich, Furukawa, sonst kommst du zu spät!" Er zog seinen alten Mantel über, legte seine Armbanduhr an und bückte sich, um die Hefte und die Notizzettel aufzunehmen, über denen er bis tief in die Nacht gesessen hatte. Dabei fiel sein Blick auf eine der Seiten, und er hockte sich nieder.
„...Unser Land hat eine militärische Niederlage erlitten. Wir müssen jetzt auf den Trümmern ein neues, demokratisches Japan aufbauen. Wir, die Arbeiterjugend, verkünden den neuen Humanismus der Nachkriegsepoche..."
Das war der Entwurf zu einer Rede, die Schinitschi zwei Tage später auf einer allgemeinen Betriebsversammlung halten sollte.
Schinitschi und Onoki hatten den Auftrag bekommen, im Namen der Arbeiter die Begrüßungsworte zu sprechen.
„...Ja, wir sind einfache Arbeiter, doch wir sind die Träger des Humanismus. Mehr noch..." Zum ersten Mal in seinem Leben sollte er öffentlich auftreten und reden. Er vermochte ein ängstliches Gefühl nicht zu unterdrücken. Übermorgen - dieser Gedanke verfolgte ihn.
„...Mehr noch: Wir, die Werktätigen, sind berufen, die neuen Prinzipien des Humanismus zu festigen...", flüsterte er den Text seiner Rede vor sich hin, während er das Heft in die Tasche steckte. Im Geiste stellte er sich die Versammelten und unter ihnen hauptsächlich Ren vor, die gewiss dort sein würde. Er wollte den Humanismus mit den schönsten und klangvollsten Ausdrücken preisen, die er nur finden konnte. Allerdings war er nicht ganz sicher, ob sie auch in jedem Falle zutreffend sein würden. Er fasste das Potsdamer Abkommen und „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" von Engels auf seine Weise auf. Er fühlte, wie sich unter dem Einfluss der Lehre vom Klassenkampf seine Vorstellungen vom Humanismus änderten. Für Schinitschi waren die Begriffe „Menschlichkeit" und „Klassenkampf" jetzt unlösbar verbunden; sie ergänzten einander. Er war fest überzeugt, dass seine Liebe zu Ren ebenfalls auf den Prinzipien der Menschlichkeit beruhte, und fürchtete, Ren könnte die Idee des Klassenkampfes ablehnen. Das würde unweigerlich zum Bruch zwischen ihnen führen.
„Na, Furukawa, was ist denn?" rief er im Weggehen noch einmal. So ein Kerl! Man bekommt ihn nicht munter. Und gestern hat er auch nicht gearbeitet. Will er heute etwa wieder blau machen? „Was ist, bist du krank?" Furukawa schlief mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht ins Kissen vergraben. „Nein, krank nicht...", murmelte er, als Schinitschi ihn durch Püffe zu wecken versuchte. „Na schön, ich werde es Araki melden." Schinitschi war schon auf der Treppe, als Furukawa plötzlich in Unterhosen auf dem Korridor erschien. „He, Ikenobe, borge mir zehn Jen!" rief er
Furukawa ging ins Zimmer zurück, kroch wieder unter die Decke, legte sich auf den Bauch, presste das Kinn ins Kissen und starrte mit entzündeten Augen vor sich hin. Er war nicht krank, aber er hatte ein Gefühl, als ob sein ganzer Körper vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen gelähmt wäre.
Es schien ihm, als wären seit vorgestern Abend viele Jahre vergangen. In diesen beiden Tagen hatte er „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" und die Broschüre über die Gewerkschaften gelesen und mit der Lektüre von „Lohnarbeit und Kapital" begonnen. Wie war das gekommen?
Er war in einer seltsamen Verfassung, seit er die Aufrufe angeklebt und, selbst überrascht, dem Montagemeister erklärt hatte: „Was das ist? Das Recht der Arbeiter!"
Und als wäre diese kurze Zeitspanne eine Art Grenze für ihn geworden, rückten alle bisherigen
Ereignisse seines fünfundzwanzigjährigen Lebens weit fort.
Interessante Dinge geschehen auf der Welt! Furukawa starrte vor sich hin. Die alten Schoji knarrten leise; das Überzugpapier war rissig und an manchen Stellen geplatzt. Hinter dem Geländer der Galerie sah man die vom goldenen Sonnenlicht überflutete Straße. In der Ferne pfiff eine Lokomotive, eine Fabriksirene heulte. Alles war sinnlos gewesen... Wieder klang ihm in den Ohren das Brummen amerikanischer „Grumman"-Jäger, die so stürmische Sturzflüge vollführten, dass sie jeden Augenblick die Erde zu berühren schienen... Ein Torpedo zog seine Bahn durch die Wellen und ließ einen langen, weißen Streifen hinter sich... Das Schiff brannte und versank im Meer... Alles, was er im Krieg erlebt hatte, erschien ihm jetzt in einem neuen, ungewohnten Licht. Die Kapitalisten und die Armee... die Kapitalisten und der Krieg...
„Na, schon gut!" stieß er hervor, schleuderte das Kopfkissen beiseite, suchte Hefte und Bücher zusammen und griff nach einem Rotstift. Mehr als dreißig Stunden hockte er schon über den Büchern. Er war sich kaum bewusst, dass er tags zuvor die Arbeit versäumt hatte, und er erinnerte sich nicht, wie oft er in dieser Zeit in den Speisesaal gegangen war. Er wusste nur, dass er bereits zwei Bücher ausgelesen hatte. Das dritte aber war nicht so leicht zu bewältigen, und gerade dieses dritte - „Lohnarbeit und
Kapital" von Karl Marx - fesselte ihn am meisten. Ein paar Stellen las er laut und merkte nicht einmal, dass ihm die Decke von der Schulter rutschte, die vor Kälte blau anlief.
„Der Kapitalist, so scheint es, kauft also ihre Arbeit mit Geld. Für Geld verkaufen sie ihm ihre Arbeit. Dies ist aber bloß der Schein. Was sie in Wirklichkeit dem Kapitalisten für Geld verkaufen, ist ihre Arbeitskraft. Diese Arbeitskraft kauft der Kapitalist auf einen Tag, eine Woche, einen Monat usw."
Schiro wechselte die Stellung und setzte sich auf das Bett. Sieh mal einer an, was für interessante Dinge da stehen!
Er begann zu frieren. Hastig zog er die Decke hoch und schrieb die Ausdrücke „Arbeitskraft" und „Tauschwert", unter denen er sich noch nichts vorstellen konnte, in sein Heft. Dann machte sich der Hunger bemerkbar. Schiro wurde schwarz vor den Augen, und die Schriftzeichen verschwammen. Aber leider war ihm zu spät eingefallen, dass er etwas essen musste - die Frühstückszeit war längst vorüber. Er zog seinen Mantel über den Nachtkimono und verließ das Haus.

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