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  Am Abend des nächsten Tages fuhr Schinitschi mit dem  letzten Zug nach Hause. Er stieg in Kami-Suwa aus und überquerte den Bahndamm. 
    Der See schimmerte trüb in der Finsternis. Es sah aus,  als wäre das Wasser über die Ufer getreten. Der Wind blies Schinitschi ins  Gesicht. In gebückter Haltung schritt er dahin und lauschte auf das Knistern  des Eises, das sich bereits am Rande des Sees bildete. 
    Heute war der Drehzahlmesser geprüft worden, Morgen  würde die Fabrik nicht arbeiten; der Strom war knapp. 
    Schinitschi hatte die beiden Broschüren dreimal  gelesen, aber vieles nicht begriffen. „...Der Sturz des monarchistischen  Regimes... Die Errichtung eines  republikanischen Systems." Wie Kieselsteine purzelten einzelne Sätze, die  er nie zuvor gehört hatte, in seinem Kopf durcheinander. Einem Mann wie ihm,  der nicht an eine solche Lektüre gewöhnt war, kamen manche Ausdrücke wie  verschlüsselte Formulierungen vor. 
    Was bedeutete zum Beispiel „kaiserliche Ordnung"?  Kaiser - das verstand er. Aber „kaiserliche Ordnung"? Oder das Wort  „Volk"? Das war ihm unverständlich. Gewiss war es etwas ganz anderes als  „Untertanen" oder „Bevölkerung". „Volk" - das klang stark und  gehaltvoll. Er selbst gehörte offenbar auch zum „Volk"; doch ihm blieb  unklar, wer denn nun eigentlich über diesem „Volk" stand. 
    Oder war es wirklich so, dass es nichts Höheres gab  als das „Volk"? 
    Als Schinitschi mit seinen Überlegungen so weit gekommen  war, geriet er völlig in Verwirrung. 
    Er schritt an reif bedeckten Feldern vorbei, die  längst abgeerntet waren. Die Gebäude der Hotels und Mineralbäder am Ufer des  Sees hoben sich dunkel gegen die mattschimmernde Wasserfläche ab. 
    Wie ein heißer, sengender Atem wehte es Schinitschi  aus den Seiten dieser Broschüren an. Einzelne Stellen berührten ihn so  unmittelbar, dass er fast erschrak. Wenn man bedachte, dass der Krieg, den er  im Stillens immer verabscheut hatte, weil  er unvereinbar war mit dem Begriff Humanität, zu einem so niedrigen Zweck  geführt worden war. Wer hatte Vorteile von diesem Krieg? Nach welchen Gesetzen  wurde diese Welt denn regiert? - Nur die Kommunistische Partei hatte dieses  Geheimnis entschleiert! 
    Vor Schinitschi tauchte das Gesicht des Direktors mit  dem borstigen grauen Schnurrbart über der dicken Oberlippe auf - das Gesicht  des Menschen, der ihn und seine Kollegen angeschrien hatte: „Macht, dass ihr  rauskommt!" und der Schinitschis Illusion zerstörte, dass es einen  „Humanismus" für alle gebe. 
    „Guten Abend!" grüßte er, als er im Arbeiterheim  an Nakatanis offener Tür vorüberkam. 
    Nakatani fühlte sich nicht wohl und war heute früher  als sonst nach Hause gefahren. Schinitschi hörte ihn husten. 
    „Guten Abend!" antwortete Nakatanis Frau.  Schinitschi nahm seine Schuhe in die Hand und stieg zum ersten Stockwerk  hinauf. Aus Inoues Wohnraum drang noch Licht durch die Schoji. Dort hatte sich  offenbar eine größere Gesellschaft versammelt Man hörte das Klappern der  Majong-Steine (Anm.: Ein chinesisches Spiel, das auch in Japan weit  verbreitet ist.) und eine Stimme, die die Punkte zählte. 
    „Die spielen wieder", murmelte Schinitschi und  betrat die Treppe zum zweiten Stockwerk. Er konnte solche Vergnügungen nicht  leiden. 
    „Tsutschisan!" rief er, während er seine Schuhe  in den Stiefelkasten stellte. Er hatte die Schuhe seines Nachbarn auf dem Gang  stehen sehen und nahm daher an, er sei zu Hause. Tsutschii arbeitete mit  Ikenobe zusammen in der Versuchsabteilung. Aber er war wieder einmal nicht da,  sondern zog durch die Dörfer und „hamsterte", Schinitschi bekam keine  Antwort; in Tsutschiis Zimmer blieb es dunkel und still. Schinitschi schob die  Schoji seines Wohnraumes auseinander und trat ein. „Guten Abend! Bist du noch  munter?" Furukawa Schiro hatte sich in dem kalten, ungeheizten Raum auf dem Fußboden ausgestreckt und schlief. Im Schlaf hatte er die  Decke abgeworfen. 
    Schinitschi hängte seine Tasche an den Haken, hockte  sich an Furukawas Lager nieder und betrachtete ihn. Furukawas Mund stand halb  offen, die Augenbrauen waren zusammengezogen, und sein Gesichtsausdruck wirkte  im Schein der Lampe seltsam traurig und verlassen. 
    Schinitschi wärmte sich die Hände an der Glühbirne,  ließ den Blick umherschweifen und ärgerte sich wie immer über die Unordnung im  Zimmer. Neben Furukawas Kopf lagen verschiedene Mathematiklehrbücher und ein  aufgeschlagenes englisches Lesebuch, nach dem Schinitschi im Selbstunterricht  Englisch lernte. Der Rand einer Seite im Algebrabuch war kreuz und quer mit  Zahlen und Formeln bekritzelt. Furukawa hatte offenbar aus Langerweile eine  Aufgabe gelöst. 
    Seit drei Tagen erst wohnte Furukawa bei Schinitschi,  aber er hatte schon alles durcheinandergebracht. Die belletristischen Bücher  Schinitschis waren ihm gleichgültig, dafür nahm er sich ein Werk nach! dem  andern über Mathematik und Maschinenbau. Furukawa war früher der beste Schüler  in der Abendschule der „Tokio-Electro-Company" gewesen. 
    Die Absolventen dieser Schule erhielten später den  Titel „Niederer Angestellter der Gesellschaft". Siel bildeten eine  Zwischenschicht, abgesondert von der Masse der andern Arbeiter. So war es  wenigstens bis zur Kapitulation. Furukawa war außergewöhnlich begabt für  Mathematik, so dass Onoki und Schinitschi, die mit ihm zusammen studierten,  nicht mit ihm Schritt halten konnten. Die „Tokio-Electro-Company" hatte  zwar wie alle anderen Unternehmen seit Kriegsbeginn die Stipendien für  Studierende gestrichen, bei Furukawa jedoch wurde eine Ausnahme gemacht: Er  sollte seine Kenntnisse auf Kosten der Company an der Technischen Hochschule  vervollständigen. „He du, Tokio-Electro-Mann, steh auf!" Schinitschi zog  zwei Äpfel aus der Tasche und stupste sie dem Freund auf den runden,  glattrasierten Kopf. Furukawa aber drehte sich nur auf die andere Seite und  zog die Decke höher. Den Spitznamen „Tokio-Electro-Mann" hatten ihm seine  ehemaligen Mitschüler eines Tages gegeben, als er in einer Rede unter anderem  einen Satz aussprach, der aus dem Munde eines jungen Burschen sehr komisch  klang: „Wir, die Männer der Tokio-Electro..." 
    Schinitschi fröstelte. Er nahm einen Apfel  und begann, daran zu knabbern. 
    Die Dinge, die ihm früher so fern und unerreichbar  schienen, rückten jetzt, nachdem er die beiden Broschüren gelesen hatte, viel  näher und wurden viel verständlicher. 
    Die    Kommunisten   waren   jedenfalls    prächtige Kerle! 
    Die Reden, die während des Krieges von den leitenden Angestellten  der Company und den Kontrolloffizieren  gehalten  wurden, die Artikel in den Zeitungen - all das zielte darauf ab,  Schinitschi Angst und Schrecken vor der Kommunistischen Partei einzujagen. Einige  Reste dieser Erziehung steckten auch jetzt noch in seinem Bewusstsein, obwohl  er den Verleumdungen, die über die Kommunisten verbreitet wurden, niemals so  recht geglaubt hatte. Außerdem übte der Umgang mit Araki einen gewissen  Einfluss auf ihn aus. 
    Die Lektüre der Broschüren bereitete ihm zwar einige  Schwierigkeiten, doch eines stand für ihn fest: Sie waren von Menschen  geschrieben, die trotz langer Gefängnisjahre ihrer Überzeugung treu geblieben  waren. 
    Die echte Menschlichkeit der Kommunisten erregte ihn  tief. Wenn Nakatani nicht verlangt hätte, dass er die Broschüren niemandem  zeigen sollte, so hätte er diesen schlafenden, kahlgeschorenen Burschen jetzt  wachgerüttelt und sich mit ihm über all das ausgesprochen, was ihn bewegte. 
    Er legte einen Apfel und zwei Zigaretten neben  Furukawas Kopfkissen. „Das schenke ich dir!" sagte er absichtlich laut. Es  kostete ihn einige Überwindung; denn er war selbst sehr hungrig und hätte gern  geraucht. Der Monat ging zu Ende, und Geld für Lebensmittel war nicht mehr  vorhanden. Das Abendessen in der Fabrikkantine aber bestand nur aus einer  dünnen Nudelbrühe. 
   
    Schinitschi bereitete sein kaltes Lager an der Seite  des schlummernden Furukawa, legte sich nieder und schlug sein Tagebuch auf.  Seine erstarrten Finger vermochten den Füllfederhalter kaum zu fassen, als er  das Gedicht noch einmal überlas, das er drei Tage zuvor abgeschrieben hatte:  „Dein schönes Bild steht immer mir vor Augen..." 
    Er wollte die Wirkung, die die Broschüren auf ihn  ausgeübt hatten, in dem Tagebuch festhalten. Aber während er nach den  passenden Ausdrücken suchte, irrten seine Gedanken immer wieder ab. Die  Überlegung, sein Gefühl für Ren könnte nicht tief genug sein, ließ ihn nicht  zur Ruhe kommen. In ihren Briefen fand er Wendungen wie „mein Lieber",  „mein geliebter Schinitschi", niemals aber etwas Geistiges, Erhabenes. 
    Da stand zum Beispiel in dem Brief mit dem blauen  Umschlag, den er jetzt in seinen Händen hielt: „Tag für Tag verbringe ich in  den Bergen. Ich bin traurig und langweile mich. Die Wälder sind schon ganz  kahl. Bald werden die Berge sich mit Schnee bedecken... Und wenn ich daran  denke, dass ich hier den ganzen langen, langen Winter allein in der Einsamkeit  verbringen soll, dann finde ich keine Ruhe... Ich kann keinen Tag mehr leben,  ohne Dich zu sehen..." 
    Die Liebe muss eine gehobene, geistige Grundlage  haben. Dieser Gedanke war ihm bei der Lektüre der Broschüren gekommen, aber er  war auch Ausdruck seines unbewussten Aufbegehrens gegen den Standesunterschied  zwischen ihm und Ren. Und obgleich Schinitschi sich keine Rechenschaft darüber  gab, suchte er die Erregung zu unterdrücken, die der Zauber der Weiblichkeit,  der von Ren ausstrahlte, in ihm erweckte, ein Zauber, dem zu widerstehen über  seine Kräfte ging. 
    Er legte eine Photographie Rens auf sein Kopfkissen  und betrachtete sie. Merkwürdig - ihr Gesicht auf dem Bild schien sich mit  seinen wechselnden Empfindungen zu verändern. Jetzt sah sie ihn mit leicht  zurückgelegtem Kopf streng und fremd an, und in ihren herabgezogenen  Mundwinkeln saß ein spöttisches Lächeln. 
    „Herr Oberleutnant!" schrie Furukawa plötzlich.  Schinitschi fuhr zusammen.  Furukawa  träumte wahrscheinlich vom Krieg; er murmelte vor sich hin, während er eines  seiner nackten behaarten Beine unter der Decke hervorstreckte. 
    „Still! Wie kannst du einen so erschrecken!"  Schinitschi stand auf und zog Furukawa die Decke zu Recht, dann löschte er das  Licht aus und lag eine Weile mit offenen Augen im Dunkeln. Ach, ich bin ein  richtiger Duckmäuser geworden! dachte er. Er wurde unruhig. Würde sie denn  überhaupt kommen? 
    Das schrille Pfeifen der Lokomotiven, das Krachen und  Knirschen der Puffer beim Anhängen der Wagen, eine Stimme, die durch  Lautsprecher den Namen der Station ausrief - all das war deutlich zu hören;  denn in Kami-Suwa gab es einen Rangierbahnhof, auf dem selbst bei Nacht reger  Betrieb herrschte. 
    Auf einmal wurden die Schoji des Nebenzimmers mit  Gepolter auseinandergeschoben. Tsutschii warf sich ein Bündel über die Schulter  und eilte zum ersten Zug nach Tokio. Dort lebten seine Frau und seine Kinder.  Er verdiente ungefähr ebenso viel wie Schinitschi; doch selbst mit dem Geld,  das er für Überstunden bekam, waren es nur dreihundert Jen. 
    Schinitschi presste Rens Photographie fest in der Hand  und starrte in die Finsternis. Schleichende Schritte gingen hinter der Wand  dicht an seinem Kopf vorbei und entfernten sich in Richtung der Treppe. 
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