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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Am Abend des nächsten Tages fuhr Schinitschi mit dem letzten Zug nach Hause. Er stieg in Kami-Suwa aus und überquerte den Bahndamm.
Der See schimmerte trüb in der Finsternis. Es sah aus, als wäre das Wasser über die Ufer getreten. Der Wind blies Schinitschi ins Gesicht. In gebückter Haltung schritt er dahin und lauschte auf das Knistern des Eises, das sich bereits am Rande des Sees bildete.
Heute war der Drehzahlmesser geprüft worden, Morgen würde die Fabrik nicht arbeiten; der Strom war knapp.
Schinitschi hatte die beiden Broschüren dreimal gelesen, aber vieles nicht begriffen. „...Der Sturz des monarchistischen Regimes... Die Errichtung eines republikanischen Systems." Wie Kieselsteine purzelten einzelne Sätze, die er nie zuvor gehört hatte, in seinem Kopf durcheinander. Einem Mann wie ihm, der nicht an eine solche Lektüre gewöhnt war, kamen manche Ausdrücke wie verschlüsselte Formulierungen vor.
Was bedeutete zum Beispiel „kaiserliche Ordnung"? Kaiser - das verstand er. Aber „kaiserliche Ordnung"? Oder das Wort „Volk"? Das war ihm unverständlich. Gewiss war es etwas ganz anderes als „Untertanen" oder „Bevölkerung". „Volk" - das klang stark und gehaltvoll. Er selbst gehörte offenbar auch zum „Volk"; doch ihm blieb unklar, wer denn nun eigentlich über diesem „Volk" stand.
Oder war es wirklich so, dass es nichts Höheres gab als das „Volk"?
Als Schinitschi mit seinen Überlegungen so weit gekommen war, geriet er völlig in Verwirrung.
Er schritt an reif bedeckten Feldern vorbei, die längst abgeerntet waren. Die Gebäude der Hotels und Mineralbäder am Ufer des Sees hoben sich dunkel gegen die mattschimmernde Wasserfläche ab.
Wie ein heißer, sengender Atem wehte es Schinitschi aus den Seiten dieser Broschüren an. Einzelne Stellen berührten ihn so unmittelbar, dass er fast erschrak. Wenn man bedachte, dass der Krieg, den er im Stillens immer verabscheut hatte, weil er unvereinbar war mit dem Begriff Humanität, zu einem so niedrigen Zweck geführt worden war. Wer hatte Vorteile von diesem Krieg? Nach welchen Gesetzen wurde diese Welt denn regiert? - Nur die Kommunistische Partei hatte dieses Geheimnis entschleiert!
Vor Schinitschi tauchte das Gesicht des Direktors mit dem borstigen grauen Schnurrbart über der dicken Oberlippe auf - das Gesicht des Menschen, der ihn und seine Kollegen angeschrien hatte: „Macht, dass ihr rauskommt!" und der Schinitschis Illusion zerstörte, dass es einen „Humanismus" für alle gebe.
„Guten Abend!" grüßte er, als er im Arbeiterheim an Nakatanis offener Tür vorüberkam.
Nakatani fühlte sich nicht wohl und war heute früher als sonst nach Hause gefahren. Schinitschi hörte ihn husten.
„Guten Abend!" antwortete Nakatanis Frau. Schinitschi nahm seine Schuhe in die Hand und stieg zum ersten Stockwerk hinauf. Aus Inoues Wohnraum drang noch Licht durch die Schoji. Dort hatte sich offenbar eine größere Gesellschaft versammelt Man hörte das Klappern der Majong-Steine (Anm.: Ein chinesisches Spiel, das auch in Japan weit verbreitet ist.) und eine Stimme, die die Punkte zählte.
„Die spielen wieder", murmelte Schinitschi und betrat die Treppe zum zweiten Stockwerk. Er konnte solche Vergnügungen nicht leiden.
„Tsutschisan!" rief er, während er seine Schuhe in den Stiefelkasten stellte. Er hatte die Schuhe seines Nachbarn auf dem Gang stehen sehen und nahm daher an, er sei zu Hause. Tsutschii arbeitete mit Ikenobe zusammen in der Versuchsabteilung. Aber er war wieder einmal nicht da, sondern zog durch die Dörfer und „hamsterte", Schinitschi bekam keine Antwort; in Tsutschiis Zimmer blieb es dunkel und still. Schinitschi schob die Schoji seines Wohnraumes auseinander und trat ein. „Guten Abend! Bist du noch munter?" Furukawa Schiro hatte sich in dem kalten, ungeheizten Raum auf dem Fußboden ausgestreckt und schlief. Im Schlaf hatte er die Decke abgeworfen.
Schinitschi hängte seine Tasche an den Haken, hockte sich an Furukawas Lager nieder und betrachtete ihn. Furukawas Mund stand halb offen, die Augenbrauen waren zusammengezogen, und sein Gesichtsausdruck wirkte im Schein der Lampe seltsam traurig und verlassen.
Schinitschi wärmte sich die Hände an der Glühbirne, ließ den Blick umherschweifen und ärgerte sich wie immer über die Unordnung im Zimmer. Neben Furukawas Kopf lagen verschiedene Mathematiklehrbücher und ein aufgeschlagenes englisches Lesebuch, nach dem Schinitschi im Selbstunterricht Englisch lernte. Der Rand einer Seite im Algebrabuch war kreuz und quer mit Zahlen und Formeln bekritzelt. Furukawa hatte offenbar aus Langerweile eine Aufgabe gelöst.
Seit drei Tagen erst wohnte Furukawa bei Schinitschi, aber er hatte schon alles durcheinandergebracht. Die belletristischen Bücher Schinitschis waren ihm gleichgültig, dafür nahm er sich ein Werk nach! dem andern über Mathematik und Maschinenbau. Furukawa war früher der beste Schüler in der Abendschule der „Tokio-Electro-Company" gewesen.
Die Absolventen dieser Schule erhielten später den Titel „Niederer Angestellter der Gesellschaft". Siel bildeten eine Zwischenschicht, abgesondert von der Masse der andern Arbeiter. So war es wenigstens bis zur Kapitulation. Furukawa war außergewöhnlich begabt für Mathematik, so dass Onoki und Schinitschi, die mit ihm zusammen studierten, nicht mit ihm Schritt halten konnten. Die „Tokio-Electro-Company" hatte zwar wie alle anderen Unternehmen seit Kriegsbeginn die Stipendien für Studierende gestrichen, bei Furukawa jedoch wurde eine Ausnahme gemacht: Er sollte seine Kenntnisse auf Kosten der Company an der Technischen Hochschule vervollständigen. „He du, Tokio-Electro-Mann, steh auf!" Schinitschi zog zwei Äpfel aus der Tasche und stupste sie dem Freund auf den runden, glattrasierten Kopf. Furukawa aber drehte sich nur auf die andere Seite und zog die Decke höher. Den Spitznamen „Tokio-Electro-Mann" hatten ihm seine ehemaligen Mitschüler eines Tages gegeben, als er in einer Rede unter anderem einen Satz aussprach, der aus dem Munde eines jungen Burschen sehr komisch klang: „Wir, die Männer der Tokio-Electro..."
Schinitschi fröstelte. Er nahm einen Apfel und begann, daran zu knabbern.
Die Dinge, die ihm früher so fern und unerreichbar schienen, rückten jetzt, nachdem er die beiden Broschüren gelesen hatte, viel näher und wurden viel verständlicher.
Die   Kommunisten   waren   jedenfalls   prächtige Kerle!
Die Reden, die während des Krieges von den leitenden Angestellten der Company und den Kontrolloffizieren gehalten wurden, die Artikel in den Zeitungen - all das zielte darauf ab, Schinitschi Angst und Schrecken vor der Kommunistischen Partei einzujagen. Einige Reste dieser Erziehung steckten auch jetzt noch in seinem Bewusstsein, obwohl er den Verleumdungen, die über die Kommunisten verbreitet wurden, niemals so recht geglaubt hatte. Außerdem übte der Umgang mit Araki einen gewissen Einfluss auf ihn aus.
Die Lektüre der Broschüren bereitete ihm zwar einige Schwierigkeiten, doch eines stand für ihn fest: Sie waren von Menschen geschrieben, die trotz langer Gefängnisjahre ihrer Überzeugung treu geblieben waren.
Die echte Menschlichkeit der Kommunisten erregte ihn tief. Wenn Nakatani nicht verlangt hätte, dass er die Broschüren niemandem zeigen sollte, so hätte er diesen schlafenden, kahlgeschorenen Burschen jetzt wachgerüttelt und sich mit ihm über all das ausgesprochen, was ihn bewegte.
Er legte einen Apfel und zwei Zigaretten neben Furukawas Kopfkissen. „Das schenke ich dir!" sagte er absichtlich laut. Es kostete ihn einige Überwindung; denn er war selbst sehr hungrig und hätte gern geraucht. Der Monat ging zu Ende, und Geld für Lebensmittel war nicht mehr vorhanden. Das Abendessen in der Fabrikkantine aber bestand nur aus einer dünnen Nudelbrühe.

Schinitschi bereitete sein kaltes Lager an der Seite des schlummernden Furukawa, legte sich nieder und schlug sein Tagebuch auf. Seine erstarrten Finger vermochten den Füllfederhalter kaum zu fassen, als er das Gedicht noch einmal überlas, das er drei Tage zuvor abgeschrieben hatte: „Dein schönes Bild steht immer mir vor Augen..."
Er wollte die Wirkung, die die Broschüren auf ihn ausgeübt hatten, in dem Tagebuch festhalten. Aber während er nach den passenden Ausdrücken suchte, irrten seine Gedanken immer wieder ab. Die Überlegung, sein Gefühl für Ren könnte nicht tief genug sein, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. In ihren Briefen fand er Wendungen wie „mein Lieber", „mein geliebter Schinitschi", niemals aber etwas Geistiges, Erhabenes.
Da stand zum Beispiel in dem Brief mit dem blauen Umschlag, den er jetzt in seinen Händen hielt: „Tag für Tag verbringe ich in den Bergen. Ich bin traurig und langweile mich. Die Wälder sind schon ganz kahl. Bald werden die Berge sich mit Schnee bedecken... Und wenn ich daran denke, dass ich hier den ganzen langen, langen Winter allein in der Einsamkeit verbringen soll, dann finde ich keine Ruhe... Ich kann keinen Tag mehr leben, ohne Dich zu sehen..."
Die Liebe muss eine gehobene, geistige Grundlage haben. Dieser Gedanke war ihm bei der Lektüre der Broschüren gekommen, aber er war auch Ausdruck seines unbewussten Aufbegehrens gegen den Standesunterschied zwischen ihm und Ren. Und obgleich Schinitschi sich keine Rechenschaft darüber gab, suchte er die Erregung zu unterdrücken, die der Zauber der Weiblichkeit, der von Ren ausstrahlte, in ihm erweckte, ein Zauber, dem zu widerstehen über seine Kräfte ging.
Er legte eine Photographie Rens auf sein Kopfkissen und betrachtete sie. Merkwürdig - ihr Gesicht auf dem Bild schien sich mit seinen wechselnden Empfindungen zu verändern. Jetzt sah sie ihn mit leicht zurückgelegtem Kopf streng und fremd an, und in ihren herabgezogenen Mundwinkeln saß ein spöttisches Lächeln.
„Herr Oberleutnant!" schrie Furukawa plötzlich. Schinitschi fuhr zusammen.  Furukawa träumte wahrscheinlich vom Krieg; er murmelte vor sich hin, während er eines seiner nackten behaarten Beine unter der Decke hervorstreckte.
„Still! Wie kannst du einen so erschrecken!" Schinitschi stand auf und zog Furukawa die Decke zu Recht, dann löschte er das Licht aus und lag eine Weile mit offenen Augen im Dunkeln. Ach, ich bin ein richtiger Duckmäuser geworden! dachte er. Er wurde unruhig. Würde sie denn überhaupt kommen?
Das schrille Pfeifen der Lokomotiven, das Krachen und Knirschen der Puffer beim Anhängen der Wagen, eine Stimme, die durch Lautsprecher den Namen der Station ausrief - all das war deutlich zu hören; denn in Kami-Suwa gab es einen Rangierbahnhof, auf dem selbst bei Nacht reger Betrieb herrschte.
Auf einmal wurden die Schoji des Nebenzimmers mit Gepolter auseinandergeschoben. Tsutschii warf sich ein Bündel über die Schulter und eilte zum ersten Zug nach Tokio. Dort lebten seine Frau und seine Kinder. Er verdiente ungefähr ebenso viel wie Schinitschi; doch selbst mit dem Geld, das er für Überstunden bekam, waren es nur dreihundert Jen.
Schinitschi presste Rens Photographie fest in der Hand und starrte in die Finsternis. Schleichende Schritte gingen hinter der Wand dicht an seinem Kopf vorbei und entfernten sich in Richtung der Treppe.

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