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Sunao Tokunaga - Stille Berge (1948)
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Die Fabrik steht still, vermutete Araki beim Anblick der zerstörten Bauten im Hintergrund des Hofes. Die unter dem Druck der Luftminen geborstenen Betonmauern waren schwarz, und von einigen Gebäuden waren nur noch die Außenmauern da, alles andere hatten die Brandbomben zerstört.
Araki schritt durch das Innentor zu den Werkhallen. In der Vakuumhalle und in der Abteilung für Radioapparate war es merkwürdig still. Einige Männer mit schwarzen Ärmelschonern, offenbar die Meister oder Abteilungsleiter, flüsterten miteinander und hielten die Arme über der Brust verschränkt, als wüssten sie nicht, was sie tun sollten.
Araki kannte die Lage der Hallen in diesem Hauptwerk der Gesellschaft, in dem fünftausend Menschen beschäftigt waren, sehr gut.
Er lief durch die dunkle Lampenabteilung, die wie eine Höhle wirkte, und stieg die Treppe hinauf. Ein scharfer Geruch, der in der Kehle kratzte, schlug ihm entgegen. Er betrat einen Raum mit einer riesigen Maschine, die automatisch Glaskolben für Glühlampen herstellte.
„Tschibakun!"
„Kuuun", hallte das Echo von dem hohen Glasdach wider.
Arakis Freund arbeitete hier als Abteilungsleiter, doch hinter der Scheidewand, die sein Büro abtrennte, standen nur zwei oder drei leere Tische. Araki wandte sich brüsk ab und ging zur Treppe. Am Ausgang sah er sich noch einmal um und zuckte unwillkürlich zusammen. Eine Fabrik ohne Arbeiter! Unmittelbar vor ihm, in der Feuerung eines gewaltigen Schmelzofens, züngelten hohe purpurrote Flammen empor. Jahrzehntelang war das Feuer in diesem Ofen, in dem das Glas für gut die Hälfte aller Glühlampen Japans geschmolzen wurde, Tag und Nacht nicht erloschen.
Von der Decke senkte sich die riesige Tatze eines Krans mit ihren langen Krallen herab und tauchte mit rhythmischer Bewegung in die Feuerung. Wenn Arbeiter den Ofen bedienten, dann hob die Tatze mit einem Griff ein paar Dutzend Glaskolben heraus, die zuerst grellrot waren und dann, je mehr sie abkühlten, durchsichtig wurden und zu funkeln begannen. Jetzt aber streckte die Maschine in streng bemessenen Abständen von einer Zehntelsekunde mit dumpfem Gerassel einen leeren Greifer aus und senkte ihn über das Fließband. Unablässig wiederholte sie diese Bewegung.
Einige Fließbänder, die mit zahlreichen Vorrichtungen ausgestattet waren, um die Wolframfäden automatisch in die Kolben einzusetzen, die Luft auszupumpen, die Metallfassungen anzubringen, schließlich den Stempel „Matsuda" auf die fertigen Birnen aufzudrücken und sie zu je einem Dutzend in Kartons zu verpacken, glitten rasselnd durch die Betonvertiefungen. Aber sie liefen leer.
Eine überflüssige, sinnlose Bewegung im Halbdunkel in kalter, scharf riechender Luft...
Eine Fabrik ohne Arbeiter! Das war so unheimlich, dass Araki ein Schauer über den Rücken rann. Nie hatte er etwas Ähnliches gesehen. Erschüttert trat er auf den Hof hinaus. Wieder blickte er um sich. Da hörte er dumpfes Stimmengemurmel. Ein Windstoß trug Beifallklatschen an sein Ohr - es klang wie der Applaus von vielen Menschen. Araki lief zum Tor.
Als er draußen um die Ecke bog, fand er sich plötzlich auf einer großen, reif bedeckten freien Fläche, die mit Trümmern und umgestürzten Zäunen übersät war. Die Wolken hingen tief am Himmel; der Wind heulte. Eine unabsehbare dunkle Menschenmenge, wie vom Sturm zusammengeweht, strebte offensichtlich einem bestimmten Punkt zu, den Araki noch nicht wahrnehmen konnte.
Er lief an den dichtgeschlossenen Reihen entlang. Über einem schwankenden Meer von Köpfen leuchtete ein Plakat: „Wir gründen einen Gewerkschaftsverband der Arbeiter des Bezirks Horikawa!" Und nun erblickte Araki einen Mann in Arbeiterjoppe, der auf einer behelfsmäßigen Tribüne stand und in ein Mikrophon sprach. Aber der Wind trug seine Stimme fort; man sah nur, wie er die Lippen bewegte und den Kopf hoch emporreckte.
Plötzlich geriet das Menschenmeer in Bewegung. Beifall prasselte. Araki drängte sich nach vorn. „Tokuda... Tokuda Kjuitschi!" „Wer ist denn das? Ein Kommunist?" „Tokuda! Tokuda spricht!"
Ein kahlköpfiger Mann von kräftigem Körperbau trat vor das Mikrophon. „Kollegen!" begann er laut und deutlich; der Beifall verstummte, aber die Bewegung in der Menge ließ nicht nach. Die Menschen drängten näher an die Tribüne heran, um diesen Mann, der nach achtzehn Jahren Haft aus dem Gefängnis gekommen war, mit eigenen Augen zu sehen. „Ein großer Kerl!" „Pst!"
„Oho! Das ist er also?" flüsterten die Arbeiter. Ein geheimnisvoller, legendenumwobener Mensch war unvermutet vor ihnen aufgetaucht. Ungeachtet der Verleumdungen, die man über ihn in Umlauf setzte und durch eine lügenhafte Propaganda schürte, hatte er immer in den Herzen der japanischen Proletarier gelebt, die fühlten, dass ihnen dieser kraftvolle Mann nahestand.
„Seid doch still! Haltet den Mund!" „Ruhe!"
Aber ein jeder schien die Gestalt, die er sich in der Phantasie ausgemalt hatte, mit diesem Menschen vergleichen zu wollen, der etwas schielende Augen und ein rötlichbraunes Gesicht hatte und ganz einfach gekleidet war - er trug einen grauen Pullover und darüber eine schwarze Joppe. Die Arbeiter, die in dem kalten Wind fröstelten, wurden still und bemühten sich, die etwas heisere Stimme zu verstehen, die aus dem Lautsprecher drang. Einige lauschten mit niedergeschlagenen Augen, andere hielten die Hände hinter die Ohren, um nur ja keine Silbe zu verlieren. Ein junges Mädchen lehnte den Kopf an die Schulter einer Freundin.
Der Lautsprecher war schlecht; der Wind verwehte die Worte des Redners. Trotzdem konnte man ihn gut hören.
Tokuda sprach über den Krieg, seine Folgen für das japanische Volk und die Bedeutung des Potsdamer Abkommens. Er legte dar, was die japanischen Arbeiter unter „Demokratie" verstehen müssten und wie die demokratische Revolution zu verwirklichen sei. Schließlich behandelte er die Gründung von Arbeitergewerkschaften und ihre Aufgaben.
Araki wandte kein Auge von dem Redner. Tokudas Gesicht rötete sich; er geriet in immer größere Begeisterung. Jetzt kam er zu einer besonderen Frage, und Araki beugte sich weit vor: Dieser Mann - das war einer vom Schlage seines Bruders! „Natürlich verpflichtet das Potsdamer Abkommen die japanische Regierung, die Gewerkschaften zu unterstützen, ebenso wie die Bauernverbände und andere demokratische Organisationen. Dennoch, Kollegen, ist es unmöglich, ohne Kampf Arbeitergewerkschaften zu schaffen. Warum ist es unmöglich? Das wisst ihr genau! Die kapitalistische Regierung Japans hasst die Gewerkschaften ingrimmig. Ich spreche nicht von den Lakaien-Gewerkschaften, die auf Weisung von oben gegründet werden. Das ist etwas anderes. Die echten, unabhängigen Arbeitergewerkschaften sind es, die die Regierung hasst. Weil diese Gewerkschaften, die eine Waffe im ökonomischen Kampf der Arbeiter sind, gleichzeitig eine Waffe im Klassenkampf darstellen..."
Die eindringliche, hervorragend gegliederte Rede wurde durch einen Beifallssturm jäh unterbrochen. Araki stand mit niedergeschlagenen Augen da und biss sich auf die Lippen. Ohne Kampf ist es unmöglich... Man muss kämpfen...
Tokuda Kjuitschi verließ die Tribüne; die Menge geriet in Bewegung; die Menschen begannen, sich in verschiedene Richtungen über den weiten Platz zu zerstreuen. Jeder ging in seine Abteilung zurück. Araki aber rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte vor sich hin.
Da hatte er nun erwartet, dass sich die Arbeiter in Kawasoi von selbst in bewusste Kämpfer verwandelten. Mehr noch - er war unzufrieden gewesen, weil sie es nicht mit einem Schlag geworden waren.
„Oh, Arakisan!" rief plötzlich ein großer, schlanker Jüngling in zerrissenem blauem Pullover und stürzte auf Araki zu. „Wann sind Sie denn gekommen?"
Araki musterte das kindliche Gesicht des jungen Mannes, konnte sich aber nicht auf seinen Namen besinnen. Er nickte ihm zu und vermutete, dass es sich um einen der Lehrlinge handelte, die unter seiner Leitung im Werk Oi gearbeitet hatten. Wie hieß doch nur?
„Haben Sie die Rede von Tokuda Kjuitschi gehört? „Ja."
„Unsere ganze Zelle ist zur Versammlung gekommen", sagte der junge Mann mit einem Anflug von Stolz. Seine Augen unter der gewölbten Stirn strahlten. „Die Zelle?"
Araki war verblüfft. Er wusste, was das Wort „Zelle" bedeutet. Sollte dieser junge Bursche Kommunist sein? Und er sprach ganz offen darüber, als wäre es das Natürlichste von der Welt! „Ja wir haben eine Zelle. Und auch eine Gewerkschaft. So weit sind wir schon. Zuerst hatten die Fabrikherren und die Werkleitung miteinander ausgemacht, selbst eine Gewerkschaftsorganisation zu gründen", berichtete er eifrig und warf eine Haarsträhne aus der Stirn zurück.
Nach der Bildung dieser sogenannten Gewerkschaft begann in der Fabrik eine kommunistische Zelle zu arbeiten, die anfangs keine zehn Mann zählte. Auf ihre Initiative hin wurde eine Konferenz von Arbeitervertretern aller Abteilungen einberufen. Es ging um die Erhöhung der Löhne. Die Konferenz endete damit, dass eine unabhängige Gewerkschaftsorganisation geschaffen wurde, die sofort in Aktion trat. „Ihr seid tüchtig." „Ja, es ist kein schlechter Anfang."
Araki betrachtete das kühne, lebhafte Gesicht mit dem spitzen Kinn, und da erinnerte er sich plötzlich: Ja, natürlich, diesen Jungen hatte er doch einmal besucht, im Bezirk Meguro war es wohl, als er an Bronchitis litt und nicht zur Arbeit kommen konnte. „Sag mal, wie geht's dir denn jetzt gesundheitlich?" „Danke, gut", antwortete der junge Mann verlegen und schlug die Augen nieder. Gleich darauf blickte er Araki wieder an. „Entschuldigen Sie, ich muss mich verabschieden. Wir haben eine Sitzung des Gewerkschaftskomitees." Er verbeugte sich und fügte hinzu: „Man muss ununterbrochen beobachten und helfen. Das Klassenbewusstsein ist erst sehr schwach entwickelt."
Araki sah ihm lange verblüfft nach, wie er in Richtung der Fabrik davonlief und der Schmutz unter seinen Getan nach allen Seiten spritzte.
Der Name des Jungen fiel ihm noch immer nicht ein, aber das hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Das wichtigste war für Araki der letzte Satz, den er ausgesprochen hatte: Das Klassenbewusstsein ist erst sehr schwach entwickelt...

Einige Stunden später verließ Araki staubbedeckt in Jojogi die elektrische Vorortbahn. Unter einer Brücke gegenüber dem Bahnhof blieb er stehen, faltete einen Stadtplan auseinander, betrachtete ihn eine Zeitlang und schritt dann die Straße hinunter.
Ohne zu wissen warum, beeilte er sich sehr. Vom Hauptwerk der „Tokio-Electro" war er geradenwegs
in den Bezirk Kanda gefahren und hatte einige Bücher gekauft, einfache, schmucklose Ausgaben, darunter „Lohnarbeit und Kapital", „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", „Über die Grundlagen des Leninismus"... Als er zum Schluss auf die Broschüre „Was muss man von den Gewerkschaften wissen?" gestoßen war, hatte er auf dem Umschlag die Adresse des Herausgebers - Zentralkomitee der Kommunistischen Partei - gelesen und sich gleich auf den Weg dorthin gemacht.
Jetzt darf ich mich nirgends mehr aufhalten, dachte er, sondern muss so schnell wie möglich nach Hause und anfangen, das Klassenbewusstsein zu entwickeln...
Von der Seite musterte er das neue Schild „Zentralkomitee der Kommunistischen Partei". Das niedrige Gebäude sah aus wie ein Kino. Unentschlossen ging er ein paarmal auf und ab, schließlich fasste er sich ein Herz und trat ein.
„Ich möchte ins Zimmer 30", wandte er sich an den Pförtner.
Der Vorraum war voller Menschen. Die meisten waren Arbeiter; sie hatten Soldatenhemden an oder abgetragene Mäntel. Dazwischen standen Eisenbahner in Uniformjacken, offenbar Angestellte der Staatsbahn. Und dann gab es noch einige Leute mit schiefaufgesetzten Baskenmützen - wahrscheinlich Künstler. Im Hintergrund sah man ein halbdunkles Zimmer mit einem Steinfußboden. Auch dort hielten sich zahlreiche Leute auf.
Araki wollte wieder gehen und zog die Riemen seines Rucksacks fest. Da trat jemand rasch auf ihn zu und tippte ihm an die Schulter. „Hier treffen wir uns also wieder!" Es war der Anwalt Obajaschi, den Araki im Zuge kennengelernt  hatte.   Er  lächelte  sein  verlegenes Lächeln und hob die Hand an den Mützenschirm. Merkwürdig, er benahm sich völlig ungezwungen und schien sich hier ganz zu Hause zu fühlen. „Haben Sie Literatur bekommen?" Während Araki noch nach einer Antwort suchte, stellte Obajaschi ihn seinen beiden Begleitern vor. Einer von ihnen ergriff plötzlich Arakis Arm. „Sind Sie das - Araki Toschio? Und ich... ich heiße Kobajaschi Masaru. Ich habe mit Ihrem Bruder zusammen im Gefängnis gesessen." Kobajaschi trug keinen Mantel; seine schwarze Joppe stand ihm vom Körper ab. Das dunkle Gesicht mit dem spärlichen Bärtchen ließ keinen Schluss auf sein Alter zu. Seine Wangen zuckten nervös, und seine Augen hinter den Brillengläsern blitzten. „Kommen Sie, wir unterhalten uns draußen", sagte er.
Obajaschi ging voran und schlug die Richtung zu den Bänken in der Allee vor dem Haus ein. Der zweite Begleiter des Anwalts, ein Mann von etwa dreißig Jahren, war offenbar ein Arbeiter. Er trug eine Soldatenuniform. Er wurde Araki als Ogutschi vom Rohrwalzwerk „Tojo" vorgestellt. Alle vier nahmen auf einer Bank Platz. In seiner Verwirrung fiel Araki gar nicht ein, dass die Fabrik „Tojo" das große Unternehmen am Ufer des Suwasees war, gleich neben dem Werk Kawasoi.
Obajaschi fragte Araki und Kobajaschi über die Lage in Kawasoi aus.
„Bei ihm hat man zuerst mit dem Kampf um die Erhöhung der Löhne begonnen", sagte Obajaschi lächelnd und zeigte auf Ogutschi.
„Ja, wenn wir morgen eine negative Antwort von der Gesellschaft bekommen, dann treten wir in den Streik."
Kobajaschi, der den Kampf der Arbeiter im Rohrwalzwerk „Tojo" leitete, und Ogutschi waren als Vertreter der Arbeiter in die Hauptverwaltung gekommen. Kobajaschi hätte mit Araki sehr gern über vieles gesprochen und ihm von seinem verstorbenen Bruder erzählt, doch dazu war keine Zeit. Er sagte daher nur: „In Schimo-Suwa, also auch in Ihrer Nachbarschaft, rühren sich die Werktätigen ebenfalls und verlangen Lohnerhöhungen. Unter diesen Umständen kommt es zwangsläufig zur Schaffung einer  Gewerkschaftsorganisation."
Araki blickte in die Ferne, in ein Tal hinab, das durch die Bäume der Allee zu sehen war. Auch hier bemerkte man überall Spuren der Zerstörung. Über den Erdhütten, in denen die Menschen hausten, stieg Rauch auf.
Araki fühlte, wie sich sein Gesichtskreis erweiterte. Die ganze Zeit hatte er nur an seine Fabrik gedacht, und nun stellte es sich heraus, dass dort, zwischen den Wäldern von Schornsteinen, die den Suwasee umgaben, bereits eine Flamme zu lodern begann. Hier, im Zentrum des Parteilebens, eröffnete sich ihm auf einmal ein unerwartet weiter Horizont. Er konnte sich kaum vorstellen, dass er Obajaschi, der da neben ihm saß und eben hell auflachte, erst vor kurzem im Abteil des Nachtzuges kennengelernt hatte. Das war ein paar Stunden her; doch Araki kam es vor, als wäre seitdem mindestens ein Jahr vergangen.

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