8. Kapitel Die Mütze auf der Treppe
Als sie nach dem Frühstück zusammen im Wohnzimmer arbeiteten, wollte Easton, der Owen einen Dienst zu erweisen wünschte, ihn warnen, und flüsternd wiederholte er ihm den Inhalt der Unterhaltung, die er mit Crass über ihn geführt hatte.
„Natürlich brauchst du nichts zu sagen, dass ich's dir erzählt hab, Frank", meinte er, „aber ich dachte, ich müßte's dir mitteilen: du kannst mir's glauben, dein Freund ist Crass nicht."
„Das weiß ich schon lange, Mann", antwortete Owen. „Aber hab trotzdem Dank, dass du's mir gesagt hast."
„Der verdammte Dreckskerl ist mein Freund auch nicht; er ist niemands Freund, was das angeht", fuhr Easton fort, „aber natürlich ist's besser, es sich nicht mit ihm zu verderben, weil man nie weiß, was er dem ollen Hunter erzählt."
„Ja, daran muss man denken."
„Natürlich wissen wir alle, wo bei ihm, was dich betrifft, der Hase im Pfeffer liegt: 's passt ihm nicht, jemand bei der Firma zu haben, der mehr von der Arbeit versteht als er selbst - er glaubt, er könnte von seinem Posten verdrängt werden."
Owen lachte bitter.
„Deswegen braucht er bei mir keine Angst zu haben. Ich würde seinen Posten nicht geschenkt annehmen!"
„Aber er denkt nicht so, und deshalb kann er dich nicht riechen."
„Ich glaube, was er über Hunter sagte, ist nur allzu wahr", meinte Owen. „Jedes Mal, wenn der herkommt, versucht er, mich zu irgendeiner Handlung oder Äußerung zu verleiten, die ihm einen Vorwand gäbe, mich davonzujagen. Vielleicht wäre es schon so gekommen, hätte ich nicht erraten, worauf er hinauswill, und mich nicht in acht genommen."
Inzwischen hatte Crass in der Küche seinen Sitz beim Feuer wieder eingenommen, mit der Absicht, seine Pfeife
zu Ende zu rauchen. Nun zog er sein Notizbuch hervor und begann, darin mit einem Bleistiftstummel zu schreiben. Als die Pfeife ausgeraucht war, klopfte er, um die Asche zu entfernen, ihren Kopf am Kamingitter aus und steckte sie in die Westentasche. Dann riss er das Blatt, das er beschrieben hatte, heraus, stand auf und ging in die Speisekammer, wo Bert sich noch immer mit der alten Schlämmkreide abmühte.
„Biste noch nicht bald fertig? Den ganzen Tag sollste hier nicht hocken, hörste!"
„Ich hab nicht mehr viel zu tun", sagte der Junge, „bloß noch das Stückchen da unter dem untersten Fach, und dann bin ich fertig."
„Ja, und 'ne schöne Sauerei haste angerichtet, wie ich sehe!" brummte Crass. „Guck dir bloß mal das ganze Wasser auf dem Boden an!"
Bert blickte schuldbewusst auf den Boden und wurde sehr rot.
„Ich werd's aufwischen", stammelte er, „sobald ich dies Stückchen Wand fertig hab, wisch ich die ganze Schweinerei mit dem Scheuerlappen auf."
Jetzt nahm Crass einen Topf Farbe und einige Pinsel, und nachdem er das Feuer mit mehr Brennstoff versorgt hatte, begann er, in aller Ruhe einige der Holzteile in der Küche zu streichen. Kurz darauf kam Bert herein.
„Ich bin da draußen fertig", sagte er.
„Na, 's wird auch langsam Zeit. Du wirst 'n bisschen fixer werden müssen, sonst wer'n wir zwei zusammengeraten."
Bert antwortete nicht.
„Jetzt hab ich 'ne andre Arbeit für dich. Du bist doch fürs Stricheziehn, nicht?" fuhr Crass in höhnischem Ton fort.
„Ja, ein wenig", antwortete der Junge und sah verlegen aus.
„Nu", sagte Crass und gab ihm das Blatt, das er aus seinem Notizbuch gerissen hatte, „da kannst du zur Werkstatt gehen und die Sachen hier holen und kannst sie auf 'n Wagen laden und hierher ziehn, und mach, dass du so schnell wie möglich wieder hier bist. Sieh dir den Zettel
an, eh du gehst, und guck nach, ob du alles verstehst. Ich möchte nicht erleben, dass du es falsch machst."
Bert nahm den Zettel und las mit einiger Schwierigkeit folgendes:
1 pahr Leitern 8 Fuß
2 Lieter Gibsmörtel
1 Eimer Schlemmkreihde
12 Fund blei Weiß
2 Lieter Leinhöhl
do. do. Teerpentinhöhl
„Ich find mich schon drauf zurecht."
„Und bring lieber den großen Karren", sagte Crass, „ich will, dass du die Schalusien drauf mitnimmst, wenn du 'n heut Abend zurückbringst. Sie müssen in der Werkstatt gestrichen werden."
„Gut."
Als der Junge fort war, machte Crass einen Rundgang durch das Haus, um zu sehen, wie die anderen vorankamen. Dann kehrte er in die Küche zurück und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Crass war etwa achtunddreißig Jahre alt, viel größer als der Durchschnitt und ziemlich korpulent. Er hatte recht dichtes, krauses schwarzes Haar und trug einen kurzen Bart von der gleichen Farbe. Sein Kopf war ziemlich groß, die Stirn aber niedrig und flach. Wenn er unter seinen Kumpanen war, pflegte er seine Leibesfülle als Ergebnis eines gutmütigen Charakters und eines zufriedenen Gemüts zu bezeichnen. Hinter seinem Rücken schrieben andere Leute sie dem Bier zu, und manche gingen sogar so weit, ihm den Spitznamen „Tank" zu verleihen.
Heute morgen gab es keine lärmende Arbeit, denn sowohl die Tischler als auch die Maurer waren vorübergehend zu einer anderen Arbeitsstelle abberufen worden. Trotzdem herrschte keine absolute Stille: gelegentlich konnte Crass die Stimmen der übrigen Arbeiter hören, die sich unterhielten und hin und wieder von einem Zimmer ins andere etwas hinüberriefen. Ab und zu tönte Harlows Stimme durch das Haus, wenn er Bruchstücke von Varietechansons oder einen Vers aus dem Kirchenliederbuch von Moody und Sankey sang, und gelegentlich fielen einige der
anderen in den Refrain ein, oder sie unterbrachen den Sanger mit einem Pfeifkonzert. Ein- oder zweimal war Crass drauf und dran, sie zu ermahnen, weniger Lärm zu machen - einen schönen Krach gäbe es, wenn Nimrod käme und sie hörte. Gerade als er sich entschlossen hatte, ihnen zu sagen, sie sollten mit dem Radau Schluss machen, hörte dieser von selbst auf, und Crass vernahm ein lautes Flüstern:
„Achtung! Es kommt jemand!"
Im Haus wurde es mäuschenstill.
Crass machte seine Pfeife aus und riss das Fenster und die Hintertür auf, um den Geruch des Tabakrauchs zu vertreiben. Dann rückte er geräuschvoll die Leiter weiter und beschleunigte sein Arbeitstempo. Wahrscheinlich war es das alte Elend.
Eine Zeitlang arbeitete er weiter, und Schweigen herrschte, aber niemand kam in die Küche: wer es auch immer war, musste nach oben gegangen sein. Crass horchte gespannt. Wer konnte es sein? Er wäre gern hinausgegangen, um nachzusehen, aber gleichzeitig wünschte er, wenn es Nimrod war, dass der ihn bei der Arbeit antraf. Deshalb wartete er noch ein Weilchen, und bald darauf hörte er oben den Klang von Stimmen; aber er konnte sie nicht erkennen. Gerade wollte er in den Flur hinausgehen, um zu horchen, als, wer immer es war, die Treppe herabzusteigen begann. Crass begab sich sofort wieder an die Arbeit. Die Schritte kamen den Flur entlang, der zur Küche führte - langsame, schwere, gewichtige Schritte, und doch klangen sie nicht wie die eines Menschen, der schweres Schuhwerk trug. Offensichtlich war es nicht Elend.
Als die Schritte in die Küche gelangt waren, sah sich Crass um und erblickte eine sehr große, korpulente Gestalt mit einem großen, fleischigen, glattrasierten Gesicht, groben Zügen, einem breiten Doppelkinn und einem Teint von der Farbe und dem Aussehen rohen Specks. Die Nase war groß und fleischig, und die kurzsichtig aussehenden blassblauen Augen hatten leicht entzündete, fast wimpernlose Lider. Die mächtigen dicken Füße steckten in weichen, kalbsledernen Stiefeln und grauen Gamaschen. Der mit Sealskin üppig besetzte Überzieher reichte dem Mann gerade bis unter die Knie, und obwohl die Hosen sehr weit
waren, wurden sie durch die dicken Beine ausgefüllt und ließen die Form der Waden deutlich erkennen. Ebenso wie die Füße das Oberteil der Stiefel sprengen zu wollen schienen, drohten die Beine die Hosen zum Platzen zu bringen. per Mensch war so groß, dass seine Gestalt den Türrahmen gänzlich ausfüllte, und beim Eintreten bückte er sich leicht, um den glänzenden Seidenhut auf seinem Kopf nicht zu beschädigen. Die eine behandschuhte Hand steckte in der Tasche des Überziehers, in der anderen trug er eine kleine Reisetasche.
Als Crass dieses Individuum erblickte, tippte er respektvoll an seine Mütze.
„Guten Morgen, mein Herr!"
„Guten Morgen. Oben hat man mir gesagt, ich würde den Vorarbeiter hier finden. Sind Sie der Vorarbeiter?"
„Jawohl, mein Herr."
„Wie ich sehe, kommen Sie mit der Arbeit hier voran?"
„O ja, mein Herr, wir fangen jetzt an, tüchtig was aufzuweisen", erwiderte Crass und sprach so geziert, als habe er eine heiße Kartoffel im Mund.
„Mr. Rushton ist wohl noch nicht hier?"
„Nein, mein Herr, morgens kommt er selten auf die Arbeitsstelle, mein Herr, gewöhnlich kommt er nachmittags, aber was Mr. Hunter ist, der muss sicher bald kommen."
„Ich wollte Mr. Rushton sprechen - ich habe mich hier um zehn Uhr mit ihm verabredet; aber", er sah auf seine Uhr, „ich bin wohl ziemlich früh gekommen. Er wird bald hier sein, denke ich", fügte Mr. Sweater hinzu. „Ich seh mich ein wenig im Haus um, bis er kommt."
„Jawohl, mein Herr", antwortete Crass und ging diensteifrig hinter Sweater her, als der hinausging.
In der Hoffnung, der Herr werde ihm einen Schilling Trinkgeld geben, folgte ihm Crass in die Eingangshalle und begann zu erklären, welche Fortschritte die Arbeit bisher gemacht hatte; da Mr. Sweater aber nur einsilbig und durch Grunzen antwortete, schloss Crass alsbald, seine Unterhaltung sei nicht erwünscht, und kehrte in die Küche zurück.
Oben war Philpot inzwischen zu Newman ins Zimmer gegangen und besprach mit ihm die Möglichkeit, aus Mr. Sweater das Geld für eine kleine, leichte Erfrischung herauszuholen.
„Ich denke", bemerkte er, „wir sollten die Gelegenheit beim Schopf nehmen und 'n wegen 'ner milden Gabe anzapfen."
„Aus dem wer'n wir nichts rausholen, Mann", erwiderte Newman. „Der ist 'n wütender Abstinenzler."
„Macht doch nichts nicht. Wie soll er 'n wissen, dass wir Bier damit kaufen. Könnten ja auch Tee oder Ingwerbier oder Zitronensaft und Glyzerin trinken - was weiß er!"
Mr. Sweater begann jetzt, gewichtig die Treppe wieder heraufzusteigen, und kam kurz danach in das Zimmer, in dem sich Philpot befand. Dieser begrüßte ihn mit respektvoller Herzlichkeit: 'n Morgen, mein Herr."
„Guten Morgen. Sie haben also begonnen, hier oben zu streichen?"
„Jawoll, wir haben den Anfang damit gemacht", erwiderte Philpot leutselig.
„Ist die Tür etwa nass?" fragte Sweater und sah besorgt auf den Ärmel seines Überziehers.
„Jawoll, mein Herr", antwortete Philpot und setzte hinzu, indem er den großen Mann bedeutungsvoll ansah: „Die Farbe ist nass, aber die Maler sind trocken!"
„Verflixt noch mal!" rief Sweater aus und ignorierte oder überhörte den letzten Teil der Antwort Philpots, „ich habe etwas von dem ekelhaften Zeug auf meinen Mantelärmel bekommen."
„Oh, das ist 'ne Kleinigkeit", rief Philpot, insgeheim entzückt. „Das wer'n wir gleich wieder runterhaben. Warten Sie mal 'n Momang!"
In seiner Werkzeugtasche hatte er einen sauberen Lappen, und im Zimmer war ein Kanister mit Terpentin. Nachdem er den Fetzen etwas mit Terpentin befeuchtet hatte, entfernte er sorgfältig die Farbe von Sweaters Ärmel.
„Nun ist alles weg", bemerkte er, während er die Stelle mit einem trockenen Teil des Lappens rieb. „Der Terpentingeruch wird in etwa 'ner Stunde fort sein."
„Danke", sagte Sweater. Philpot sah ihn gespannt an, aber Sweater verstand offensichtlich nicht und begann, sich im Zimmer umzublicken.
„Wie ich sehe, ist hier ein neues Stück Scheuerleiste eingesetzt worden", bemerkte er.
„Jawohl", sagte Newman, der in diesem Augenblick ins Zimmer kam, um das Terpentin zu holen. „Das alte Stück war vom Schwamm ganz zerfressen."
„Ich hab so 'n trocknes Gefühl, als wenn ich selber den Schwamm hätte - du nicht?" meinte Philpot zu Newman, der leise lächelte und einen Seitenblick auf Sweater warf; aber dieser schien den Sinn der Bemerkung nicht zu verstehen, sondern ging im Zimmer umher und begann, zum nächsten Stock hinaufzusteigen, wo Harlow und Sawkins arbeiteten.
„Na, das ist ja vielleicht 'n Filz!" sagte Philpot empört. „Wo ich mir solche Mühe gegeben hab, seinen Mantel sauberzukriegen! Nicht mal 'n lausigen Sechser! Das ist doch die Höhe, was?"
„Hab ich dir nicht gesagt, was rauskommen würde?" antwortete Newman.
„Vielleicht bin ich nicht deutlich genug gewesen?" meinte Philpot nachdenklich. „Versuchen müssen wir irgendwie, auf unsre Kosten zu kommen, weißte."
Er ging hinaus auf den Treppenflur und rief leise nach oben: „Hör mal, Harlow."
„Hallo", sagte dieser und blickte über das Geländer.
„Wie kommste 'n da oben voran?"
„Och, geht schon, weißt du."
„'ne ziemlich trockne Arbeit, was?" fuhr Philpot fort, wobei er die Stimme ein wenig hob und Harlow zublinzelte.
„Ja, ziemlich", erwiderte Harlow grinsend.
„Ich meine, jetzt wär der richtige Zeitpunkt, mit der Sammlung anzufangen, nicht?"
„Freilich, keine schlechte Idee."
„Schön, ich leg meine Mütze auf die Treppe", sagte Philpot und kam seinen Worten mit der Tat nach. „Kannste nie wissen, was du für Glück hast. Die Lage wird verflucht ernst hier im Stock, weißte; einmal ist mein Kumpel schon ohnmächtig geworden!"
Damit ging er in sein Zimmer zurück, um die Entwicklung der Dinge abzuwarten; da aber Sweater kein Zeichen
von sich gab, kehrte Philpot wieder auf den Treppenabsatz zurück und rief Harlow von neuem an:
„Ich meine immer, man kann besser arbeiten, wenn man was getrunken hat: es schafft besser."
„Da hast du bestimmt recht", antwortete Harlow, „hab ich auch schon oft festgestellt."
Sweater kam aus dem vorderen Schlafzimmer und ging in einen der hinteren Räume, ohne einen der Leute zu beachten.
„Ich fürchte, der reagiert sauer, Mann", flüsterte Harlow, und Philpot schüttelte traurig den Kopf und kehrte an die Arbeit zurück. Kurze Zeit danach kam er indessen wieder heraus und sprach Harlow noch einmal an.
„Ich hab mal 'nen Fall erlebt", sagte er in melancholischem Ton, „wo 'n Kumpel bei so 'ner Arbeit hier - vor Durst - gestorben ist, und bei der Leichenschau hat der Doktor gesagt, 'n viertel Liter würde den gerettet haben!"
„Muss 'n fürchterlicher Tod gewesen sein", bemerkte Harlow.
„Fürchterlich ist gar kein Ausdruck nicht dafür, Mann", antwortete Philpot klagend, „'s war gradezu furchtbar!"
Nach diesem letzten herzzerreißenden Appell an Sweaters Menschlichkeit kehrten sie mit dem Gefühl zur Arbeit zurück: was auch immer das Ergebnis ihrer Bemühungen sein mochte, sie hatten ihr Bestes getan. Sie hatten ihm die Angelegenheit offen und ehrlich unterbreitet, mehr konnte nicht gesagt werden; nun lag die Sache bei ihm.
Aber alles war umsonst. Entweder verstand Sweater nicht, oder er wollte nicht verstehen, und als er die Treppe herunterkam, nahm er keinerlei Notiz von der Mütze, die Philpot so auffällig mitten auf den Treppenabsatz gelegt hatte. |
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