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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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6. Kapitel Es ist nicht mein Verbrechen

Owen und seine Familie bewohnten das oberste Stockwerk eines Hauses, welches ein großes Einfamilienhaus gewesen war, das man dann aber in eine Anzahl von Mietswohnungen unterteilt hatte. Es lag in der Lord Street, fast im Zentrum der Stadt.
Einst war diese Gegend eine sehr aristokratische gewesen, doch die meisten der früheren Bewohner waren in die neueren Vorstädte im Westen der Stadt übergesiedelt. Dessen ungeachtet war die Lord Street noch immer eine sehr angesehene Gegend, deren Einwohner im allgemeinen zur Gattung der „besseren Leute" zählten: Warenhausabteilungsleiter, Verkäufer, Barbiergehilfen, Pensionsinhaber, ein Kohlenhändler und sogar zwei im Ruhestand lebende Schwindelbau-Unternehmer wohnten hier.
In dem Haus, in dem Owen lebte, befanden sich außer der seinen noch vier weitere Wohnungen. Nr. 1, das Kellergeschoß, hatte ein Angestellter eines Maklerbüros inne. Nr. 2, im Erdgeschoß, war die Behausung des Mr. Trefaim, eines leichenblass aussehenden Herrn, der einen Zylinder trug, sich seiner französischen Abstammung rühmte und Abteilungsleiter in Sweaters Warenhaus war. Nr. 3 hatte ein Versicherungsagent gemietet, und in Nr. 4 wohnte ein Handelsvertreter für Abzahlungsgeschäfte.
Die Lord Street - wie die meisten derartigen Wohngegenden - gab jenen Vertretern nichtiger Theorien, die da von der Gleichheit der Menschen faseln, eine schlagende Antwort, denn die Bewohner schlossen sich instinktiv zu Gruppen zusammen. Die „besseren Leute" strebten zueinander, sonderten sich von den niedrigeren ab und bildeten auf natürliche Weise die Oberschicht, während die übrigen sich zu bestimmten, nach unten abgestuften Schichten zusammenfanden oder sich gänzlich isolierten, da ihnen zu den Kreisen, denen sie sich anzuschließen wünschten, der Zutritt versagt wurde und sie es ihrerseits ablehnten, mit Geringeren, als sie selbst waren, Umgang zu pflegen.
Die exklusivste Gesellschaft bestand aus der Familie des Kohlenhändlers, den Familien der beiden Bauunternehmer im Ruhestand sowie der des Mr. Trefaim, dessen Überlegenheit sich auch darin äußerte - ganz abgesehen von seiner französischen Abstammung -, dass er außer dem bereits erwähnten Zylinderhut täglich einen Gehrock und eine lavendelfarbene Hose trug. Der Kohlenhändler und die Baumeister trugen ebenfalls Zylinder, lavendelfarbene
Hose und Gehrock, aber nur sonntags und zu besonderen Gelegenheiten. Der Maklergehilfe und der Versicherungsagent gehörten, obwohl sie aus dem oberen Kreis ausgeschlossen waren, einer anderen auserwählten Clique an, aus der sie ihrerseits alle Personen niedrigeren Ranges, wie Ladengehilfen oder Barbiere, ausschlossen.
Der einzige Mensch, der von allen Kreisen mit der gleichen Herzlichkeit empfangen wurde, war der Handelsreisende. Welche Meinungsverschiedenheiten sie aber auch in Bezug auf die gesellschaftliche Stellung hatten, die einer dem anderen gegenüber einnahm - in einem Punkt zumindest herrschte Einmütigkeit unter ihnen: sie waren empört über Owens Anmaßung, in solch eine feine Wohngegend zu ziehen.
Dieser gewöhnliche Kerl, dieser einfache Arbeiter, mit seiner farbbeklecksten Kleidung, seinen rissigen Stiefeln und seiner ganzen schäbigen Erscheinung war eine Schande für die Straße; und was seine Frau betraf, so war sie nicht viel besser; denn obwohl sie stets, wenn sie herauskam, 1 sauber angezogen war, wussten doch die meisten Nachbarn, dass sie die ganze Zeit über, die sie hier war, denselben weißen Strohhut getragen hatte Der einzig Annehmbare der Familie war tatsächlich der Junge, und sie mussten zugeben, er war immer sehr gut angezogen - so gut, dass es einige Verwunderung erregte, bis sie herausfanden, dass alle seine Sachen zu Hause geschneidert wurden. Nun ging ihr Erstaunen in eine etwas widerwillige Bewunderung für die Geschicklichkeit der Mutter über, gemischt mit Verachtung wegen der Armut, welche die Frau zwang, diese Geschicklichkeit anzuwenden.
Die Empörung der Nachbarn steigerte sich noch, als bekannt wurde, dass Owen und seine Frau keine Christen waren; da stimmten wirklich alle miteinander überein, der Hauswirt müsse sich schämen, das oberste Stockwerk an solche Leute zu vermieten.
Aber obwohl Unbarmherzigkeit die Herzen dieser Schüler des demütigen und bescheidenen jüdischen Zimmermanns erfüllte, hatten diese nicht die Macht, viel zu schaden. Dem Hauswirt war ihre Meinung gleichgültig. Alles, worauf es ihm ankam, war das Geld; obwohl er selbst ein
aufrichtiger Christ war, hätte er nicht gezögert, die Wohnung im Obergeschoß sogar an Satan zu vermieten - vorausgesetzt, dass er, der Wirt, sicher war, regelmäßig seine Miete zu erhalten.
Der einzige, dem die Christen Leid zufügen konnten, war das Kind. Zuerst weigerten sich die anderen Kinder auf Weisung ihrer Eltern, sich mit ihm abzugeben, wenn es zum Spielen auf die Straße kam, oder sie hänselten es mit der Armut seiner Eltern. Gelegentlich kehrte der Junge zu Tode betrübt und in Tränen aufgelöst nach Hause zurück, weil er von einem Spiel ausgeschlossen worden war.
In der ersten Zeit kamen manchmal die Mütter einiger der Kinder aus den „besseren Familien" mit einer komischen Anmaßung von Überlegenheit und Würde auf die Straße heraus und zwangen ihre Kinder, nicht weiter mit Frankie oder einigen anderen ärmlich gekleideten Kleinen zu spielen, die sich in ihrer Straße zu tummeln pflegten. Diese Frauen waren gewöhnlich sehr auffallend gekleidet und trugen viel Schmuck. Die meisten von ihnen bildeten sich ein, sie seien feine Damen, und hätten sie nur genügend Verstand gehabt, den Mund zu halten, so wären andere Leute möglicherweise derselben Täuschung erlegen.
Jetzt kam eine solche Einmischung aber nur noch selten vor, denn die Eltern der übrigen Kinder mussten feststellen, lass es ziemlich schwer war, ihre Sprösslinge am Spiel mit denen geringeren Standes zu hindern, denn wenn die Kinder sich selbst überlassen waren, ließen sie alle derartigen Unterscheidungen außer acht. Häufig war in dieser Straße das erschreckende Schauspiel zu sehen, wie der zehnjährige Sohn des feinen und eleganten Mr. Trefaim einen aus einer Zuckerkiste und einen paar alten, reifenlosen Kinderwagenrädern gebauten Wagen zog, in dem, mit einer Peitsche bewaffnet, der plebejische Frankie Owen und die schlampige Tochter des Barbiergehilfen ruhten - während der neunjährige Erbe des Kohlenhändlers hinterdreinlief. [[Seine Frau und sein kleiner Sohn erwarteten Owen im Wohnzimmer.]] Es war etwa dreizehn Quadratmeter groß, und die niedrige, unregelmäßige Decke, an einigen Stellen gieblig wie das Dach, war von Owen mit Ornamenten bemalt worden.
Im Zimmer standen drei oder vier Stühle und ein rechteckiger, jetzt mit einem weißen Tuch gedeckter Tisch, der zum Essen gerichtet war. In der Nische zur Rechten des Kamins - einer gewöhnlichen offenen Feuerstelle - waren einige Bücherbretter angebracht, die eine Sammlung verschiedenartiger Bände enthielten, der größte Teil davon antiquarisch gekauft. Es gab auch eine Anzahl neuer Bücher darunter, zumeist billige Ausgaben in Pappeinbänden.
Über einer Stuhllehne zur Rechten des Feuers hing ein alter Anzug Owens und etwas Unterwäsche, die seine Frau zum Lüften dorthin gehängt hatte, denn sie wusste, dass er durchnässt nach Hause kommen werde...
Die Frau lehnte halb sitzend, halb liegend auf einer Couch an der anderen Seite des Feuers. Sie war sehr mager, und ihr blasses Gesicht trug die Spuren vielen körperlichen und seelischen Leidens. Sie nähte - eine Aufgabe, die ihre zurückgelehnte Haltung etwas schwierig machte. Sie war erst achtundzwanzig Jahre alt, schien aber älter.
Der Junge, der auf dem Kaminvorleger saß und sich mit einigen Spielsachen vergnügte, war seiner Mutter sehr ähnlich. Auch er schien sehr zart, und in seinem kindlichen Gesicht lag viel von der feinen Anmut, die sie einst besessen hatte. Sein mädchenhaftes Aussehen wurde dadurch verstärkt, dass ihm das gelbe Haar in langen Locken auf die Schultern hing. Der Stolz, mit dem seine Mutter dieses lange Haar betrachtete, wurde von Frankie selbst in keiner Weise geteilt; er flehte sie ständig an, es abzuschneiden.
Nun stand der Junge auf, ging mit ernster Miene zum Fenster, sah auf die Straße hinab und suchte mit den Blicken den Bürgersteig ab, so weit er nur sehen konnte; das hatte er während der letzten Stunde immer von neuem getan.
„Ich möcht wissen, wo er hingeraten ist", sagte er, als er zum Feuer zurückkehrte.
„Das weiß ich wirklich nicht", antwortete die Mutter. „Vielleicht hat er Überstunden machen müssen."
„Weißt du", bemerkte Frankie, „ich hab mir in der letzten Zeit überlegt: es ist ein großer Fehler, dass Vati überhaupt arbeiten geht. Ich glaube, grad das ist der Grund, weshalb wir so arm sind."
„Fast jeder, der arbeitet, ist mehr oder weniger arm, Schatz, aber wenn Vati nicht arbeiten ginge, wären wir noch ärmer, als wir es schon jetzt sind. Dann hätten wir ja nichts zu essen!"
„Aber Vati sagt, die Leute, die nicht arbeiten, kriegen sehr viel von allen Dingen."
„Freilich, und es stimmt auch, dass die meisten Menschen, die niemals irgendeine Arbeit leisten, sehr viel von allen Dingen erhalten, aber woher erhalten sie es? Und wie erhalten sie es?"
„Das weiß ich wirklich nicht", erwiderte Frankie und schüttelte verwirrt den Kopf.
„Nehmen wir an, Vati geht nicht arbeiten oder er hat keine Arbeitsstelle, zu der er gehen kann, oder er ist krank und kann nicht arbeiten, dann haben wir doch kein Geld, um irgend etwas zu kaufen. Wie sollte es dann bei uns weitergehen?"
„Das weiß ich wirklich nicht", wiederholte Frankie und sah sich im Zimmer um. „Die Stühle, die wir noch haben, sind nicht gut genug zum Verkaufen, und die Betten können wir nicht verkaufen und dein Sofa auch nicht; aber du könntest meinen Samtanzug versetzen."
„Selbst wenn alle Sachen gut genug wären, um sie zu verkaufen, reichte das Geld, das wir dafür erhielten, nicht sehr weit, und was sollten wir dann tun?"
„Nun, ich nehme an, dann würden wir uns eben ohne behelfen müssen, so wie wir's gemacht haben, als Vati in London war. Wie machen's aber dann die Leute, die nie arbeiten, dass sie eine Menge Geld bekommen?" setzte Frankie hinzu.
„Oh, da gibt es viele verschiedene Wege. Zum Beispiel, du erinnerst dich doch, als Vati in London war und wir kein Essen im Haus hatten, musste ich den Lehnsessel verkaufen."
Frankie nickte. „Jawohl", sagte er, „ich weiß noch, dass du einen Zettel geschrieben hast, und ich hab ihn zum Laden gebracht, und nachher ist der alte Didlum zu uns raufgekommen und hat den Lehnstuhl gekauft, und dann ist sein Wagen gekommen, und ein Mann hat den Sessel fortgetragen."
„Und erinnerst du dich noch, wie viel er uns dafür gegeben hat?"
„Fünf Schilling", erwiderte Frankie prompt. Ihm waren, die Einzelheiten des Geschäfts wohlbekannt, denn er hatte oft gehört, wie sein Vater und seine Mutter darüber sprachen.
„Und als wir ihn ein Weilchen später im Schaufenster sahen, stand welcher Preis daran?"
„Fünfzehn Schilling."
„Nun, das ist eine Art, wie man Geld bekommen kann, ohne zu arbeiten."
Frankie spielte einige Minuten lang schweigend mit seinem Spielzeug. Endlich sagte er:
„Wie noch?"
„Einige Leute, die schon Geld haben, erwerben noch mehr auf folgende Weise: Sie suchen sich Leute, die kein Geld haben, und sagen zu ihnen: ,Kommt und arbeitet für uns.' Dann zahlen die Leute, die das Geld haben, den Arbeitern nur gerade genügend Lohn, um sie am Leben zu erhalten, während sie arbeiten. Dann, wenn die Sachen, welche die arbeitenden Menschen hergestellt haben, fertig sind, werden die Arbeiter fortgeschickt, und da sie noch immer kein Geld haben, sind sie bald am Verhungern. Inzwischen nehmen die Leute, die das Geld hatten, alle Sachen, welche die Arbeiter gemacht haben, und verkaufen sie für ein gut Teil mehr Geld, als sie den Arbeitern für das Herstellen gegeben haben. Das ist noch eine Art, eine Menge Geld zu erhalten, ohne nützliche Arbeit zu leisten."
„Aber gibt es denn keinen Weg, reich zu werden, ohne solche Sachen zu machen?"
„Es ist für keinen möglich, reich zu werden, ohne ander Menschen zu betrügen."
„Und unser Lehrer? Er arbeitet nicht."
„Meinst du nicht, dass es eine nützliche, notwendige und auch sehr schwere Arbeit ist, die Jungen jeden Tag zu unterrichten? Ich möchte es nicht tun."
„Ja, ich denke schon, was er macht, ist wohl einigermaßen nützlich", sagte Frankie nachdenklich, „und es stimmt, muss auch ziemlich schwer sein. Ich hab schon bemerkt, manchmal sieht er recht sorgenvoll aus, und manchmal
gerät er schön aus dem Häuschen, wenn die Jungen nicht richtig aufpassen."
Das Kind ging wieder zum Fenster hinüber, schob den Rand des Rollos zur Seite und blickte auf die menschenleere, regennasse Straße hinab.
Und der Pfarrer?" bemerkte der Junge, als er zurückkehrte.
Zwar ging Frankie nicht zur Kirche oder zur Sonntagsschule, aber die Schule, die er besuchte, gehörte zur Gemeindekirche, und der Pfarrer hatte die Gewohnheit, gelegentlich einen Blick hineinzuwerfen.
„Ach, der ist wirklich einer von denen, die leben, ohne eine notwendige Arbeit zu leisten; und von allen Leuten, die nichts tun, ist der Pfarrer einer der allerschlimmsten."
Frankie sah etwas überrascht zu seiner Mutter auf -nicht, weil er soviel von Geistlichen im allgemeinen hielt, denn als aufmerksamer Zuhörer bei vielen Gesprächen seiner Eltern hatte er sich natürlich, soweit sein kindlicher Verstand das erlaubte, ihre Ansichten zu eigen gemacht, sondern weil die Schüler in der Schule gelehrt wurden, den erwähnten Herrn mit höchster Ehrerbietung und Achtung zu betrachten.
„Warum, Mutti?" fragte er.
„Aus folgendem Grunde, mein Herz. Du weißt doch, dass all die schönen Dinge, welche die Leute haben, die nichts tun, von den Menschen gemacht werden, die arbeiten, nicht?"
„Ja."
„Und du weißt doch, dass diejenigen, die arbeiten, die schlechteste Nahrung essen, die schlechteste Kleidung tragen und in den schlechtesten Wohnungen leben müssen."
„Ja", sagte Frankie.
„Und manchmal haben sie überhaupt nichts zu essen und außer Lumpen keine Kleidung anzuziehen, und sogar nicht mal eine Wohnung, in der sie leben können."
„Ja", wiederholte das Kind.
„Nun, der Pfarrer geht umher und erzählt den Faulenzern, es sei ganz richtig, dass sie nichts tun, und Gott habe es gewollt, dass sie fast alles besitzen, was von den arbeitenden Menschen hergestellt worden ist. Er erzählt ihnen tatsächlich, Gott habe die Armen zum Nutzen der Reichen geschaffen. Dann geht er zu den Arbeitern und sagt ihnen, Gott wünsche, dass sie sehr hart arbeiten und alle guten! Dinge, die sie herstellen, denen geben, die nichts tun, und sie müssten Gott und den Faulenzern sehr dankbar sein, dass ihnen überhaupt gestattet wird, auch nur die schlechteste Nahrung zum Essen und die Lumpen und zerrissenen Schuhe zum Anziehen zu haben. Er sagt ihnen auch, sie dürften nicht murren oder unzufrieden sein, weil sie in dieser Welt arm sind, sondern sie müssten warten, bis sie tot sind, und dann werde Gott sie damit belohnen, dass er sie an einen Ort gehen ließe, der Himmel genannt wird."
Frankie lachte.
„Und was wird aus den Faulenzern?" fragte er.
„Der Pfarrer sagt, wenn sie alles glauben, was er ihnen erzählt, und ihm etwas von dem Geld abgeben, das sie aus den Arbeitern herausholen, wird Gott auch sie in den Himmel lassen."
„Das ist doch nicht gerecht, nicht wahr, Mutti?" sagte Frankie mit einiger Empörung.
„Das wäre nicht gerecht, wenn es wahr wäre; aber siehst du, es ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein."
„Warum kann es nicht wahr sein, Mutti?"
„Oh, aus vielen Gründen: Zuerst einmal, der Pfarrer glaubt es selbst nicht, er tut nur so. Zum Beispiel tut er, als glaube er an die Bibel; aber wenn wir sie lesen, finden wir darin, dass Jesus gesagt hat, Gott ist unser Vater, und alle Menschen auf der Welt sind seine Kinder - alle sind Brüder und Schwestern. Aber der Pfarrer meint, obgleich Jesu: gesagt hat ,Brüder und Schwestern', hätte er eigentlich sagen müssen ,Herren und Knechte'. Und Jesus hat gesagt seine Schüler sollen nicht an den morgigen Tag denken und eine Menge Geld für sich selbst zusammensparen, sondern sie sollen selbstlos sein und denen helfen, die in Not sind. Jesus hat gesagt, seine Jünger sollen überhaupt nicht an ihre eigenen zukünftigen Bedürfnisse denken, weil Gott für sie sorgen werde, wenn sie tun, was Er befiehlt. Aber der Pfarrer sagt, das sei alles Unsinn.
Jesus hat auch gesagt, wenn irgend jemand versucht, seinen Jüngern etwas Böses anzutun, so dürfen sie niemals Widerstand leisten, sondern müssen denen, die ihnen weh getan haben, vergeben und zu Gott beten, damit auch er ihnen vergebe. Aber der Pfarrer sagt, das sei ebenfalls alles Unsinn. Er sagt, die Welt könne niemals weiter bestehen, wenn wir tun, was Jesus gelehrt hat. Der Pfarrer lehrt, der richtige Weg, mit denen, die uns Böses tun, zu verfahren, sei, sie ins Gefängnis sperren zu lassen oder - wenn sie zu einem anderen Land gehören - Gewehre und Dolche zu nehmen, diese Menschen zu ermorden und ihre Häuser niederzubrennen. Du siehst also, der Pfarrer glaubt in Wirklichkeit keins von den Dingen, die Jesus gesagt hat, und handelt auch nicht danach - er tut nur so."
„Aber warum tut er denn so und läuft rum und erzählt solche Sachen, Mutti, wozu macht er denn das?"
„Weil er selbst gern leben möchte, ohne zu arbeiten, mein Herz."
„Und wissen die Leute denn nicht, dass er nur so tut?"
„Manche ja. Die meisten Faulenzer wissen, dass das, was der Pfarrer sagt, nicht wahr ist, aber sie tun so, als glaubten sie es, und geben ihm Geld dafür, dass er es sagt, weil sie gerne wollen, dass er es weiter den Arbeitern erzählt, damit sie fortfahren zu arbeiten und damit sie ruhig sind und Angst haben, selbst zu denken."
„Und die Arbeiter? Glauben sie's?"
„Die meisten, ja, denn als sie kleine Kinder waren, wie du eins bist, brachte ihnen die Mutter bei, ohne nachzudenken alles zu glauben, was der Pfarrer sagt, und sie lehrte sie, Gott habe sie zum Nutzen der Faulenzer geschaffen. Als sie zur Schule gingen, brachte man ihnen dort das gleiche bei, und jetzt, wo sie erwachsen sind, glauben sie es wirklich; sie gehen arbeiten, geben fast alles, was sie herstellen, den Faulenzern und behalten fast nichts für sich selbst und ihre Kinder übrig. Das ist der Grund, weshalb die Arbeiterkinder sehr schlechte Kleidung und manchmal nichts zu essen haben, und daher kommt es, dass die Faulenzer und ihre Kinder mehr Kleidung und mehr Nahrung haben, als sie brauchen. Manche von ihnen haben so viel anzuziehen, dass sie es nicht tragen, und so viel zu essen, dass sie es gar nicht verzehren können. Sie verschwenden es einfach oder werfen es fort."
„Wenn ich mal erwachsen und ein Mann bin", sagte Frankie mit heißem Gesicht, „bin ich einer von den Arbeitern, und wenn wir 'ne Menge gemacht haben, stehe ich; auf und sage den anderen, was sie machen sollen. Wenn dann einer von den Faulenzern kommt und uns unsre Sachen wegnehmen will, dann kriegt er aber was, das sich gewaschen hat!"
Mit unterdrückter Erregung und sich kaum dessen, was er tat, bewusst, begann der Junge, das Spielzeug aufzusammeln und ein Stück nach dem anderen heftig in die Kiste zu schleudern.
„Ich werd's ihnen schon beibringen, unsre Sachen klauen zu kommen", rief er aus und fiel für den Augenblick in seinen Straßenjargon.
„Erst stehn wir alle ganz still auf einer Seite. Wenn dann die Faulenzer reinkommen und anfangen, unsre Sachen anzufassen, gehn wir auf sie los und sagen: ,He, was machen Sie da? Legen Sie das mal hin, aber dalli!' Und wenn sie's nicht sofort hinlegen, dann haben sie nichts zu lachen, das kann ich dir sagen!"
Nachdem Frankie alle Spielsachen eingesammelt hatte, nahm er die Kiste auf und stellte sie geräuschvoll in ihre gewohnte Zimmerecke.
„Ich denke, die Arbeiter werden sich mächtig freuen, wenn sie mich kommen sehen, um ihnen zu sagen, was sie machen sollen, was, Mutti?"
„Ich weiß nicht, Schatz, siehst du, es haben schon so viele Leute versucht, ihnen das zu sagen, aber sie hören nicht zu, sie wollen es nicht hören. Sie denken, es ist ganz richtig dass sie ihr ganzes Leben lang schwer arbeiten, und auch richtig, dass ihnen die meisten der Dinge, die sie herstellen helfen, von den Leuten fortgenommen werden, die nicht tun. Die Arbeiter glauben, ihre Kinder seien nicht so gut wie die der Faulenzer, und sie lehren ihre Kinder, sobald sie alt genug seien, müssten sie sich damit zufriedengeben, sehr schwer zu arbeiten und nur sehr schlechtes Essen, schlechte Kleidung und schlechte Wohnungen zu haben."
„Dann sollten sich die Arbeiter aber mächtig schämen, denke ich, Mutti, du nicht?"
„Nun, in gewissem Sinne sollten sie das, aber du darfst;
nicht vergessen, dass man sie diese Ansichten ja immer gelehrt hat. Zuerst haben es ihnen ihre Mütter und Väter «sagt; dann haben es ihnen ihre Lehrer gesagt, und dann hat ihnen, wenn sie in die Kirche gingen, der Pfarrer und der Sonntagsschullehrer das gleiche gesagt. Deshalb musst du dich nicht wundern, dass sie jetzt wirklich glauben, Gott habe sie und ihre Kinder geschaffen, um Dinge für die Leute zu machen, die nichts tun."
„Aber man denkt doch, ihr eigener Verstand müsste es ihnen sagen! Wie kann es denn recht sein, dass die Leute, die nichts tun, das Beste und das meiste von den Dingen haben, die gemacht werden, und grad die, die alles machen, haben kaum was. Das weiß ja sogar schon ich, und ich bin doch erst sechseinhalb Jahre alt!"
„Aber du bist ja anders, mein Herz - du bist gelehrt worden, darüber nachzudenken, und Vati und ich haben es dir oft erklärt."
„Ja, ich weiß", erwiderte Frankie zuversichtlich. „Aber auch, wenn ihr es mich nicht gelehrt hättet, wäre ich bestimmt von selbst drauf gekommen; ich bin nicht so 'n Dummkopf, wie du meinst."
„Vielleicht würdest du darauf kommen, aber gewiss nicht, wenn du so erzogen wärst wie die meisten Arbeiter. Man hat sie gelehrt, es sei sehr verworfen, nachzudenken und nach eigenem Gutdünken zu urteilen. Und ihren Kindern bringt man jetzt das gleiche bei. Weißt du noch, was du mir neulich, als du aus der Schule nach Hause kamst, von der Bibelstunde erzählt hast?"
„Über den heiligen Thomas?"
„Ja. Wie nannte die Lehrerin den heiligen Thomas?"
„Sie sagte, er wär ein schlechtes Beispiel, und sie sagte, ich wär noch schlimmer als er, weil ich so viele törichte Fragen stellte. Sie gerät immer aus dem Häuschen, wenn ich zuviel sage."
„Warum hat sie denn den heiligen Thomas ein schlechtes Beispiel genannt?"
„Weil er nicht glauben wollte, was man ihm sagte."
„Eben - nun, und was hat Vati geantwortet, als du es ihm erzähltest?"
„Vati hat mir erklärt, der heilige Thomas sei in Wirklichkeit der einzig vernünftige Mann von den ganzen Aposteln gewesen. Das heißt", verbesserte sich Frankie, „wenn es überhaupt jemals so einen Mann gegeben hat."
„Hat Vati denn gesagt, es habe niemals solch einen Mann gegeben?"
„Nein, er hat gesagt, er glaubt nicht, dass es den heiligen Thomas je gegeben hat, aber ich soll einfach nur zuhören, was die Lehrerin über solche Dinge erzählt, und dann selbst darüber nachdenken und warten, bis ich groß bin, dann kann ich mir mein eigenes Urteil bilden."
„Nun, das ist's, was du gelehrt worden bist, aber die Mütter und Väter aller anderen Kinder sagen ihnen, sie sollen, ohne darüber nachzudenken, glauben, was auch immer die Lehrerin sagt. Deshalb ist es kein Wunder, wenn diese Kinder, sind sie einmal groß, nicht selbständig denken können, nicht?"
„Meinst du, dann wird es gar keinen Zweck haben, wenn ich ihnen sage, was sie mit den Faulenzern machen sollen?" fragte Frankie niedergeschlagen.
„Horch!" sagte die Mutter und hob den Finger.
„Vati!" rief Frankie, stürzte zur Tür und riss sie auf. Er lief den Flur entlang und öffnete die Wohnungstür, noch ehe Owen den letzten Treppenabsatz erreicht hatte.
„Weshalb kommst du denn nur in diesem Tempo herauf", rief Owens Frau vorwurfsvoll aus, als er vom Treppensteigen erschöpft ins Zimmer trat und schwer atmend in den nächsten Stuhl sank.
„Ich - vergesse - das - immer", erwiderte Owen, als er sich etwas erholt hatte. Wie er dort im Stuhl lehnte, mit hagerem und erschreckend bleichem Gesicht, während ihm das Wasser von der durchnässten Kleidung tropfte, bot er einen furchtbaren Anblick.
Mit kindlichem Schrecken bemerkte Frankie, wie seine Mutter den Vater mit höchster Beunruhigung ansah.
„Immer tust du's", sagte er klagend. „Wie oft muss Mutti es dir noch sagen, bis du dich darum kümmerst?"
„Schon recht, alter Bursche", sagte Owen, zog das Kind an sich und küsste seinen Lockenkopf. „Horch mal, und versuch, ob du raten kannst, was ich für dich unter meiner Jacke habe."
In der Stille war das Schnurren des Kätzchens deutlich zu hören.
„Ein Kätzchen!" rief der Junge und holte es aus seinem Versteck. „Ganz schwarz, und ich glaube, es ist halb ein Persianerkätzchen. Genau, was ich mir gewünscht hab!"
Während sich Frankie damit vergnügte, mit dem Kätzchen zu spielen, das noch eine Tasse Milch und Brot erhalten hatte, ging Owen ins Schlafzimmer, um trockene Kleidung anzuziehen, und nachdem er die von ihm abgelegten Sachen zusammen mit seinen Stiefeln zum Trocknen vor das Feuer getan hatte, erklärte er, während sie Tee tranken, den Grund seiner späten Heimkehr.
„Ich fürchte, er wird es nicht leicht haben, eine andere Arbeit zu finden", bemerkte er in Bezug auf Linden. „Selbst im Sommer wird ihn niemand nehmen wollen. Er ist zu alt."
„Das ist doch eine furchtbare Aussicht für die beiden Kinder", antwortete die Frau.
„Ja", erwiderte Owen bitter. „Die Kinder sind's, die am meisten darunter leiden werden. Was Linden und seine Frau betrifft - zwar kann man nicht umhin, Mitleid mit ihnen zu empfinden, aber gleichzeitig lässt sich doch nicht leugnen, dass sie es verdienen, zu leiden. Ihr ganzes Leben lang haben sie wie das Vieh geschuftet und in Armut gelebt. Obwohl sie mehr als ihr Teil Arbeit leisteten, haben sie niemals auch nur annähernd den ihnen zustehenden Anteil an den Dingen genossen, die sie mit produziert haben. Und doch haben sie ihr ganzes Leben lang das System, das sie ausgeraubt hat, unterstützt und verteidigt, jeden Vorschlag, es zu verändern, bekämpft und ihn obendrein lächerlich gemacht. Es ist falsch, Mitleid mit solchen Leuten zu haben; sie verdienen es, zu leiden."
Als Owen nach dem Tee zusah, wie seine Frau das Geschirr abräumte und die Sachen umordnete, die vor dem Feuer trockneten, bemerkte er zum ersten Mal, dass sie ungewöhnlich krank aussah.
„Du siehst heute Abend nicht gut aus, Nora", sagte er zu ihr und legte den Arm um sie.
»Ich fühl mich nicht wohl", erwiderte sie und lehnte den Kopf müde an seine Schulter. „Es ist mir während des
ganzen Tages sehr schlecht gegangen, und ich musste mich fast den ganzen Nachmittag über hinlegen. Ich weiß nicht wie ich es geschafft hätte, den Tee zu machen, wenn Frankie nicht wäre."
„Ich hab dir den Tisch gedeckt, nicht, Mutti?" sagte Frankie stolz, „und das Zimmer hab ich auch aufgeräumt."
„Ja, mein Herz, du hast mir sehr geholfen", antwortete sie, und Frankie kam zu ihr und küsste ihr die Hand.
„Nun, leg dich lieber sofort hin", sagte Owen. „Ich kann Frankie dann zu Bett bringen und alles Nötige erledigen."
„Aber es ist noch so viel zu tun. Ich möchte dafür sorgen, dass deine Sachen richtig trocknen, und dir etwas zu essen machen für morgen früh, eh du fortgehst, und dann muss dein Frühstück eingepackt werden... "
„Das kann ich alles besorgen."
„Ich wollte mich nicht so gehen lassen", sagte die Frau. „Ich weiß ja, du musst selbst todmüde sein - aber ich fühle mich jetzt vollkommen erschöpft."
„Oh, bei mir ist alles in Ordnung", erwiderte Owen,« obwohl er sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. „Ich geh die Rollos herunterziehen und die andere Lampe anzünden; sag also Frankie gute Nacht und komme sofort."
„Ich sag jetzt noch nicht richtig gute Nacht, Mutti", bemerkte der Junge. „Vati kann mich zu dir ins Zimmer tragen, ehe er mich zu Bett bringt."
Als Owen ein wenig später Frankie auszog, fragte der Junge, während er zärtlich das Kätzchen betrachtete, das auf dem Kaminvorleger saß und jede Bewegung des Kindes in der Annahme beobachtete, sie gehöre zu einem Spiel:
„Welchen Namen, meinst du, sollen wir ihm geben, Vati?"
„Du kannst ihm irgendeinen Namen geben, der dir gefällt", sagte Owen zerstreut.
„Ich kenne einen Hund, der unten an der Straße wohnt", meinte der Junge. „Er heißt Major. Wie war denn das? Oder wir können es Sergeant nennen."
Das Kätzchen, das bemerkte, dass es der Gegenstand ihrer Unterhaltung war, schnurrte laut und blinzelte, als wolle es andeuten, es mache ihm nichts aus, welcher Rank ihm verliehen werde, vorausgesetzt, dass in der Fourageabteilung alles klappte.
,Aber ich weiß doch nicht", fuhr Frankie nachdenklich fort. „Als Hundenamen sind sie ja gut, aber ich glaube, für ein Kätzchen sind sie zu großspurig - meinst du nicht, Vati?"
„Ja, vielleicht", sagte Owen.
„Die meisten Katzen heißen Tom oder Kitty, aber ich will ihm keinen gewöhnlichen Namen geben."
„Nun, kannst du's nicht nach jemand nennen, den du kennst?"
„Ich weiß - ich nenne es nach einem kleinen Mädchen, das zu uns in die Schule geht; ein schöner Name: Maud! Das passt fein, nicht wahr, Vati?"
„Ja", meinte Owen.
„Hör mal, Vati", sagte Frankie, dem plötzlich die furchtbare Tatsache zum Bewusstsein kam, dass er zu Bett gebracht wurde, „du vergisst ja meine Geschichte ganz, und du hast mir doch versprochen, heute Abend Eisenbahn mit mir zu spielen!"
„Ich hab's nicht vergessen, aber ich hoffte, du hättest es vergessen, denn ich bin sehr müde, und 's ist sehr spät; deine Zeit, schlafen zu gehen, ist längst vorüber, weißt du. Du kannst heute Nacht das Kätzchen mit ins Bett nehmen, und morgen erzähl ich dir zwei Geschichten, und spielen werden wir auch. Morgen habe ich viel Zeit, weil Sonnabend ist."
„Na gut", sagte der Junge zufrieden gestellt, „und ich werd den Bahnhof bauen und werd die Schienen mit Kreide auf den Fußboden zeichnen und die Signale aufstellen, eh du nach Hause kommst, damit wir keine Zeit verlieren. Und auf eine Seite des Zimmers stell ich einen Stuhl und auf die andere Seite noch einen, und dann bind ich Schnur daran, als Telegrafendrähte. Das ist 'ne gute Idee, nicht, Vati?" Owen bestätigte das.
„Aber natürlich komm ich dir, genau wie sonst am Sonnabend, entgegen, weil ich dem Kätzchen von meinem Penny für 'nen halben Penny Milch kaufen werde."
Als das Kind im Bett war, saß Owen im zugigen Wohnzimmer allein am Tisch und grübelte. Obgleich das Feuer
hell brannte, war das Zimmer sehr kalt, da es so nahe unter dem Dach lag. Der Wind heulte laut um die Giebel und rüttelte das Haus so heftig, dass er es jeden Augenblick zu Boden zu reißen drohte. Die Lampe auf dem Tisch hatte einen grünen, halb mit Petroleum gefüllten Glasbehälter. Unbewusst fasziniert, beobachtete ihn Owen. Jedes Mal, wenn ein Windstoß das Haus erschütterte, geriet das Petroleum der Lampe in Bewegung und schlug, wie ein Miniatursee, kleine Wellen gegen das Glas. Während er geistesabwesend auf die Lampe starrte, dachte Owen an die Zukunft.
Noch vor wenigen Jahren schien ihm die Zukunft ein Land voller wunderbarer, geheimnisvoller Möglichkeiten zu sein; heute Abend aber hatte er bei dem Gedanken an sie keine solchen Illusionen, denn er wusste, die Geschichte der Zukunft werde der der Vergangenheit recht ähnlich sein.
Die Geschichte der Vergangenheit werde sich noch einige Jahre lang wiederholen. Er werde weiterarbeiten, und alle drei müssten sie auch weiterhin ohne die meisten lebensnotwendigen Dinge auskommen. Wenn es keine Arbeit gab, würden sie Hunger leiden.
Für sich selbst machte es ihm nicht viel aus, denn er wusste, im besten - oder schlimmsten - Falle handelte es sich nur um sehr wenige Jahre. Selbst wenn er richtige Nahrung und Kleidung hätte und sich einigermaßen pflegen könnte, hätte er nicht mehr lange zu leben; was aber wurde aus ihnen, wenn diese Zeit gekommen war?
Es gäbe wohl einige Hoffnung für den Jungen, wenn er robuster wäre und einen weniger sanften, einen selbstsüchtigeren Charakter hätte. Unter dem gegenwärtigen System war es unmöglich, dass jemand im Leben vorankam, ohne anderen Menschen zu schaden und sie so zu behandeln und auszunutzen, wie man nicht gern selbst behandelt und ausgenutzt werden will.
Um in der Welt voranzukommen, musste man brutal, selbstsüchtig und gefühllos sein; man musste andere beiseite stoßen und Vorteil aus ihrem Unglück ziehen, seine Konkurrenten mit redlichen oder unredlichen Mitteln unterbieten und vernichten, in jedem Fall zuerst an seinen
eigenen Vorteil denken und das Wohl anderer gänzlich außer acht lassen.
Das war der ideale Charakter. Owen wusste, dass Frankies Charakter dieses hehre Ideal nicht erreichte. Und dann Nora. Wie würde es ihr ergehen?
Owen erhob sich und begann, von einer Art panischer Angst bedrückt, im Zimmer umherzuwandern. Dann kehrte er zum Feuer zurück und begann, die dort trocknenden Sachen umzuordnen. Er entdeckte, dass die Stiefel, da sie zu nahe beim Feuer gestanden hatten, zu schnell getrocknet waren und die Sohle des einen infolgedessen begonnen hatte, sich vom Oberteil zu lösen. Er flickte das, so gut er konnte, und wendete dann die feuchteren Stellen des Anzugs dem Feuer zu. Dabei bemerkte er in seiner Rocktasche die Zeitung, die er vergessen hatte. Mit einem Ausruf der Befriedigung zog er sie heraus. Hier war doch etwas, was seine Gedanken ablenken konnte; wenn es auch nicht lehrreich oder tröstlich war, so war es doch zumindest interessant und sogar amüsant, die Berichte über das selbstzufriedene, nutzlose Gerede der tiefgründigen Staatsmänner zu lesen, die mit komischer Feierlichkeit dem Wirken des Großen Systems vorstanden, das sie in einmütiger Weisheit als das beste nur erdenkliche bezeichneten. Heute Abend las Owen jedoch nicht darüber, denn sobald er die Zeitung auseinandergefaltet hatte, wurde seine Aufmerksamkeit gefesselt von den schreienden Überschriften einer der Hauptspalten:

FURCHTBARE HÄUSLICHE TRAGÖDIE
Die Frau und zwei Kinder getötet
Selbstmord des Mörders

Es war eines der üblichen Verbrechen aus Armut. Der Mann war viele Wochen hindurch arbeitslos gewesen, und sie hatten vom Verkauf oder der Verpfändung ihrer Möbel und anderer Habseligkeiten gelebt. Aber selbst diese Einkommensquelle musste schließlich versiegt sein, und als die Nachbarn eines Tages bemerkten, dass die Rollvorhänge geschlossen blieben, dass ein merkwürdiges Schweigen über dem Hause lag und dass niemand hineinging oder herauskam, entstand schnell der Verdacht, irgend etwas sei nicht in Ordnung. Als die Polizei in das Haus drang, fand sie in einem der oberen Zimmer die Leichen der Frau und der beiden Kinder, die mit durchschnittener Kehle Seite an Seite auf dem mit ihrem Blut durchtränkten Bett lagen.
Das Zimmer enthielt keine Bettstelle und auch sonst keine Einrichtung, mit Ausnahme des Strohsacks und der zerlumpten Kleider und Decken, die auf dem Boden das Bett bildeten.
Die Leiche des Mannes fand man in der Küche, mit ausgestreckten Armen auf dem Boden liegend, das Gesicht der Erde zugekehrt und von Blut umgeben, das aus der Kehlwunde geströmt war; offensichtlich rührte sie von dem Rasiermesser her, das seine rechte Hand umklammert hielt.
Kein Krümchen Nahrung wurde im Haus gefunden, und an einem Nagel in der Küchenwand hing ein Stück blutbesudeltes Papier, auf dem mit Bleistift geschrieben stand:
„Dies ist nicht mein Verbrechen, sondern das der Gesellschaft."
Der Bericht erklärte noch, die Tat müsse in einem Anfall zeitweiligen Wahnsinns begangen worden sein, verursacht durch die Leiden, die der Mann durchgemacht hatte.
„Wahnsinn!" murmelte Owen, während er diese glatte, leicht eingehende Theorie las. „Wahnsinn! Mir scheint, er wäre wahnsinnig gewesen, hätte er sie nicht getötet!"
Sicher war es weiser, besser und gütiger, sie alle zum Einschlafen zu bringen, als sie weiter leiden zu lassen.
Gleichzeitig dachte er, es sei sehr merkwürdig, dass der Mann diesen Weg der Ausführung gewählt hatte, da es doch so viele saubere, leichtere und schmerzlosere Wege gab, um das gleiche Ziel zu erreichen. Er fragte sich, weshalb wohl die meisten dieser Taten auf die gleiche rohe, grausame und unschöne Art durchgeführt wurden. Nein, er ginge dabei auf ganz andere Weise ans Werk. Er würde Holzkohle besorgen, dann Papierstreifen über die Ritzen der Türen und Fenster des Zimmers kleben und die Schornsteinklappe schließen. Danach würde er die Holzkohle auf einem Blech oder etwas Ähnlichem in der Mitte des Zimmers anzünden, und dann würden sie sich alle drei
einfach zusammen niederlegen und einschlafen - und das wäre das Ende von allem. Dabei gäbe es keinen Schmerz, kein Blut und keinen Schmutz.
Oder man konnte Gift einnehmen. Die Beschaffung machte natürlich gewisse Schwierigkeiten, aber es wäre nicht unmöglich, einen Vorwand zu finden, um Laudanum zu kaufen - man konnte mehrere kleine Quantitäten in verschiedenen Läden holen, bis man genügend hatte. Dann erinnerte er sich, irgendwo gelesen zu haben, dass Zinnober, eine der Farben, die er häufig bei seiner Arbeit verwenden musste, eines der allertödlichsten Gifte sei, und dann gab es noch ein Zeug, das die Photographen benutzten und das man sich sehr leicht beschaffen konnte. Natürlich müsste man mit Gift sehr vorsichtig sein, um nicht eines zu wählen, das große Schmerzen verursachte. Man müsste genau herausfinden, wie das Zeug wirkte, ehe man es benutzte. Es könnte nicht schwer sein, das zu tun. Dann erinnerte er sich, dass es unter seinen Büchern eines gab, das vermutlich irgendeine Auskunft über dieses Thema enthielt. Er ging zum Bücherregal und fand bald den Band; er hieß „Handbuch der praktischen Medizin", ein ziemlich altes Buch und vielleicht ein wenig überholt, aber es mochte doch die Auskunft enthalten, die er suchte. Er öffnete es und blätterte zum Inhaltsverzeichnis um. Dort waren viele verschiedene Sachgebiete erwähnt, und bald fand er das gesuchte:

Gifte: chemisch, physiologisch und pathologisch betrachtet
Ätzende Gifte
Narkotische Gifte
Langsam wirkende Gifte
Nacheinander wirkende Gifte
Gifte mit akkumulativer Wirkung.

Er blätterte zum angegebenen Kapitel um und war erstaunt, als er darin las, wie viele Gifte es gab, die für jeden, der sie zu benutzen wünschte, leicht erhältlich waren - Gifte, bei denen man sich darauf verlassen konnte, dass sie ihr Werk unfehlbar, schnell und schmerzlos täten. Es war ja nicht einmal nötig, sie zu kaufen: man konnte sie von den Hecken am Straßenrand und auf den Feldern sammeln.
Je mehr er darüber nachdachte, desto merkwürdiger schien es ihm, dass eine so ungeschickte Methode wie die Benutzung eines Rasiermessers derartig gebräuchlich war. Fast jede andere Art war schneller und leichter; Erdrosseln und selbst Erhängen, obwohl man diese Methode hier im Haus kaum anwenden konnte, weil es weder Balken, Sparren noch sonst etwas gab, woran man einen Strick hängen konnte. Freilich, es wäre möglich, ein paar große Nägel oder Haken in die Wand zu schlagen. An einigen der Türen gab es sogar bereits Kleiderhaken. Er begann zu denken, das wäre sogar noch eine bessere Methode als Gift oder Holzkohle; er könnte Frankie gegenüber leicht so tun, als wolle er ihm ein neues Spiel zeigen.
Er könnte den Strick an einem der Türhaken festmachen, und unter dem Vorwand des Spielens geschähe es dann. Der Junge werde sich nicht wehren, und in wenigen Minuten wäre alles vorüber.
Er warf das Buch hin und presste die Hände an die Ohren. Er bildete sich ein, er könne hören, wie Hände und Füße des Jungen gegen die Türfüllung schlugen, während er sich im Todeskampf wand.
Und als Owen die Arme kraftlos wieder hinabfallen ließ, war ihm, als höre er Frankies Stimme rufen: „Vati! Vati!"
Hastig öffnete er die Tür.
„Hast du gerufen, Frankie?"
„Ja, ich rufe schon seit einer ganzen Weile."
„Was möchtest du denn?"
„Du sollst herkommen, ich will dir was sagen."
„Nun, was gibt's, mein Kind? Ich dachte, du schläfst schon längst", sagte Owen, als er ins Zimmer trat.
„Das will ich dir ja grade sagen: das Kätzchen ist eingeschlafen, aber ich kann nicht. Ich hab alles mögliche versucht, zählen und alles, aber es hilft nicht; darum dachte ich, ich werd dich fragen, ob du nicht reinkommen und bei mir bleiben und mich deine Hand ein bisschen halten lassen willst, dann kann ich vielleicht einschlafen."
Der Junge schlang seine Arme um Owens Hals und drückte ihn fest an sich.
„Oh, Vati, ich hab dich so lieb!" sagte er. „Ich hab dich so lieb, ich könnt dich totdrücken!"
„Ich fürchte, das wirst du tun, wenn du mich so fest drückst."
Der Junge lachte leise und lockerte seine Umklammerung.
„Das wär 'ne komische Art, dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebhab, was Vati? Dich totdrücken?"
„Ja, das wäre es wohl", erwiderte Owen heiser, während er ihm die Bettdecke unter die Schultern stopfte. „Aber sprich jetzt nicht mehr, mein Junge; halt nur meine Hand und versuch zu schlafen."
„Na gut", sagte Frankie.
Als das Kind nun ganz still lag, seines Vaters Hand hielt und sie ab und zu küsste, schlief es bald ein. Owen stand vorsichtig auf, und nachdem er das Kätzchen aus dem Bett genommen und die Decken geordnet hatte, küsste er leise die Stirn des Jungen und kehrte ins andere Zimmer zurück.
Auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz für das Kätzchen bemerkte er Frankies Spielzeugkiste, und nachdem er sie in einer Ecke des Zimmers auf den Boden geleert hatte, bereitete er aus einigen Flicken ein Bett in der Kiste, kippte sie auf die Seite und stellte sie, dem Feuer zugewandt, auf den Kaminvorleger. Mit einigen Schwierigkeiten brachte er das Kätzchen dazu, sich darin niederzulegen. Nachdem er die Stühle, auf denen seine Kleidung trocknete, in sichere Entfernung vom Feuer gerückt hatte, ging er ins Schlafzimmer. Nora war noch wach.
„Fühlst du dich besser, Liebling?" fragte er.
„Ja, ich fühle mich viel wohler, seit ich im Bett bin, aber ich mache mir Sorgen wegen deiner Sachen. Ich fürchte, sie werden nie trocken genug werden, dass du sie morgen früh gleich wieder anziehen kannst. Könntest du nicht ausnahmsweise einmal bis nach dem Frühstück zu Hause bleiben?"
„Nein, das darf ich nicht. Wenn ich es täte, würde Hunter mir wahrscheinlich sagen, ich brauche überhaupt nicht mehr zu kommen. Ich glaube, er wäre froh, einen Vorwand zu haben, gerade jetzt noch einen vollbezahlten Mann loszuwerden."
„Aber wenn es früh immer noch so regnet, wirst du völlig durchnässt sein, ehe du überhaupt dort bist."
„Es hat keinen Zweck, sich deshalb den Kopf zu zerbrechen, Liebling; außerdem kann ich den alten Rock, den ich augenblicklich anhabe, über dem anderen tragen."
„Und wenn du deine alten Schuhe in Papier wickelst und sie mitnimmst, kannst du deine nassen Stiefel ausziehen, sobald du dort bist."
„Ja, gut", erwiderte Owen. „Im übrigen", setzte er beruhigend hinzu, „selbst wenn ich ein bisschen nass werde - wir haben dort immer ein Feuer, weißt du."
„Nun, hoffentlich ist das Wetter morgen früh etwas besser als jetzt", sagte Nora. „Ist das nicht eine furchtbare Nacht? Ich habe andauernd Angst, das Haus wird umgeblasen."
Noch lange, nachdem Nora eingeschlafen war, lag Owen wach und horchte auf das Heulen des Windes und das Trommeln des Regens, der schwer auf das Dach herniederprasselte.

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