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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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25. Kapitel Das Rechteck

Im Laufe der nächsten Woche näherte sich die Arbeit in der „Höhle" rasch ihrem Abschluss, obwohl die Leute, da die Stunden des Tageslichts knapp waren, nur von acht bis sechzehn Uhr arbeiteten und bereits gefrühstückt hatten, wenn sie ihr Tagewerk begannen. Das machte vierzig Stunden Arbeitszeit in der Woche, so dass diejenigen, die einen Stundenlohn von sieben Pence hatten, ein Pfund drei Schilling und vier Pence verdienten. Wer sechseinhalb Pence erhielt, bekam ein Pfund, einen Schilling und acht Pence ausgezahlt. Wessen Lohn fünf Pence die Stunde betrug, ging mit der fürstlichen Summe von sechzehn Schilling acht Pence für eine Woche Schwerarbeit nach Hause, und wessen Satz bei viereinhalb Pence lag, bezog fünfzehn Schilling.
Und doch gibt es Leute, welche die Unverschämtheit haben zu behaupten, Trunksucht sei die Ursache der Armut!
Dabei geben viele von denen, die das behaupten, selber größere Summen als diese für Alkohol aus - an jedem einzelnen Tag ihres nutzlosen Lebens.
Am Dienstagabend waren die Innenarbeiten beendet bis auf die in Küche und Spülkammer. Die Küche war noch nicht gestrichen worden, weil der neue Herd nicht gekommen war, und die Spülkammer wurde noch als Malerwerkstatt benutzt. Die Außenarbeiten waren ebenfalls beinahe zu Ende geführt: der erste Anstrich war überall gemacht, und man war jetzt beim zweiten. Nach dem Kostenanschlag sollten alle Holzteile an der Außenwand dreimal und die Dachrinnen, Abflussrohre und anderen Eisenteile zweimal gestrichen werden; aber Crass und Hunter hatten bestimmt, zwei Anstriche müssten für die meisten der Fensterrahmen und der übrigen Holzteile genügen und nur einer für alle Eisenteile. Die Fenster wurden zweifarbig gestrichen: die Schieberahmen dunkelgrün und die Einfassungen weiß. Alles übrige - Giebel, Türen, Geländer, Regenrinnen und so weiter - war dunkelgrün, und die gesamte dunkelgrüne Farbe wurde mit gekochtem Leinöl und Firnis angerührt; Terpentin durfte für diese Arbeiten nicht verwendet werden.
„Herrlicher Dreck, den wir da nehmen müssen, was?" bemerkte Harlow am Mittwochmorgen zu Philpot. „Ist eher Sirup als sonst was."
„Na, und nächsten Sommer wird das Zeugs schön Blasen werfen, wenn 'n bisschen Sonne drauf scheint!" antwortete Philpot grinsend.
„Vermutlich haben sie Angst, dass es nicht deckt, wenn sie 'nen Schuss Terpentin zugeben, und dann müssten sie einen Anstrich mehr bewilligen."
„Da kannste Gift drauf nehmen, dass das der Grund ist!" erwiderte Philpot. „Nichtsdestotrotz hab ich die Absicht, mir 'nen Tropfen für meinen Pott zu organisieren, sowie Crass abhaut."
„Wohin denn abhaut?"
„Na, wußteste denn nicht? 's findet doch heute wieder 'ne Beerdigung statt. Haste nicht das Sargschild gesehen, das Owen am Sonnabendmorgen im Salon geschrieben hat?"
„Nö, ich war nicht da. Hast du vergessen, Mann, dass sie mich nach Windley rübergeschickt haben, um 'ne Decke zu weißen und 'n paar Anstricharbeiten zu erledigen?"
„Ach ja, richtig, daran hab ich nicht gedacht!" rief Philpot.
„Bestimmt machen sich Crass und Slyme 'n kleines Vermögen mit all den Beerdigungen", sagte Harlow. „Das ist die vierte in den letzten vierzehn Tagen. Was kriegen sie denn dafür?"
„Einen Schilling, den Sarg ins Haus bringen und die
Leiche reinlegen, und vier Schilling für das Begräbnis. Macht zusammen fünf."
„Ganz nett, was?" meinte Harlow. „Zweimal die Woche, neben deinem Lohn. Fünf Schilling für zwei, drei Stunden Arbeit!"
„Schon, das Geld ist nicht schlecht, Mann, aber von mir aus können sie's haben. Ich hab keine Lust nicht, mit Leichen rumzufummeln!" erwiderte Philpot schaudernd.
„Wer ist denn der Verstorbene?" fragte Harlow nach einer Pause.
'n Pastor, der zur Kapelle ,Das strahlende Licht' gehört hat. War im Ausland, in Monte Carlo, verbrachte da seinen Urlaub. Soll krank gewesen sein, eh er wegfuhr, aber der Luftwechsel hat ihm gut getan. Ist wieder ganz in Ordnung und schon auf der Rückreise gewesen. Aber wie er auf dem Bahnhof in Monte Carlo auf den Zug wartet, da rennt ihn doch 'n Gepäckträger mit 'nem Karren voll Gepäck an, und da ist er explodiert."
„Explodiert?"
„Jawoll", wiederholte Philpot, „explodiert! Geplatzt! Auseinandergeknallt! In lauter Stücke. Die haben sie alle wieder zusammengefegt und in 'nen Sarg gelegt, und der soll heut Nachmittag eingebuddelt werden."
Harlow schwieg sehr beeindruckt, und Philpot fuhr fort:
„Neulich Abend hab ich einen gehoben mit 'nem Fleischergesellen, der diesem Pastor immer das Fleisch gebracht hat. Wir sprachen darüber, was für 'n merkwürdiger Tod das war; aber er sagte, ihn wunderte das keineswegs nicht, er wunderte sich nur darüber, weshalb der Mensch nicht schon längst geplatzt ist, bei all dem Futter, was der immer verdrückt hat. Er sagte, 's war doll, welche Mengen er dorthin gebracht hat und was er andere Firmen dorthin liefern sah. Tonnenweise brachten sie dem Mann das Zeug ins Haus!"
„Wie hieß denn der Pastor?" fragte Harlow.
„Rülpser. Du musst 'n in der Stadt schon gesehen haben. 'n ganz feister Bursche", antwortete Philpot. „Schade, dass du am Sonnabend nicht hier warst, um das Sargschild zu sehen. Frank rief mich, als er fertig war, um mir den Text zu zeigen. Er hieß: Jonydab Rülpser. Geboren am 1. Januar 1849. Gen Himmel gestiegen am 8. Dezember 19..".
„Ach, jetzt weiß ich, welcher Kerl das war!" fiel Harlow ein. „Ich erinnere mich, meine Gören brachten mal 'ne Sammelliste mit. Die hatten sie in der Sonntagsschule bekommen, um Geld zu sammeln, damit er in Urlaub geschickt werden konnte, weil er krank war. Ich hab jedem einen Penny auf die Liste gegeben, weil ich nicht wollte, dass sie vor den andern Kindern als Geizkragen dastehen."
„Ja, der ist's. Zwei oder drei Knirpse haben mich damals auch angebettelt. Jetzt ist wieder 'ne Sammelliste in Umlauf. Gestern hab ich eins von Newmans Kindern getroffen, das hat sie mir gezeigt. Diesmal soll das Geld für 'ne Feier und 'nen Weihnachtsbaum für alle Kinder sein, die zur Sonntagsschule gehen. 's hat mich nicht gewurmt, für so was 'ne Kleinigkeit zu spendieren."
„Scheint kälter zu werden, was?"
„Kalt genug, einem das Mark in den Knochen gefrieren zu lassen!" bemerkte Easton, der eine in der Nähe stehende Leiter herunterstieg. Er setzte seinen Farbtopf auf die Erde und versuchte, sich die Hände zu wärmen, indem er sie rieb und aneinander schlug.
Er zitterte, und seine Zähne klapperten vor Kälte.
„Jetzt könnte ich 'n Bier ganz gut vertragen", sagte er und stampfte mit den Füßen auf den Boden.
„Das dacht ich eben auch grad", antwortete Philpot nachdenklich, „und ich werd mir auch zu Mittag 'nen Halben holen. Ich flitze schnell rüber in die ,Cricketers'. Selbst wenn ich erst 'n paar Minuten nach eins zurückkommen sollte, macht's nichts, weil Crass und Nimrod zur Beerdigung sehr werden."
„Bringste mir 'ne Halbliterflasche mit?" fragte Easton.
„Na, gewiss", erwiderte Philpot.
Harlow sagte nichts. Er hätte auch gern ein Bier gehabt, aber wie gewöhnlich hatte er nicht das notwendige „Kleingeld". Nachdem sie ihr Blut wieder einigermaßen zum Zirkulieren gebracht hatten, gingen sie von neuem an die Arbeit, und das gerade zur rechten Zeit, denn einige Minuten später bemerkten sie, wie Elend um die Ecke des Hauses zu ihnen hinüberspähte. Sie fragten sich, wie lange er wohl schon dort stand und ob er ihr Gespräch gehört hatte.
Um zwölf Uhr machten sich Crass und Slyme in größter
Eile aus dem Staub, und kurz darauf nahm Philpot seine Schürze ab und zog seinen Rock an, um in die „Cricketers" zu gehen. Als die anderen herausbekommen hatten, wohin er gehen wollte, baten ihn einige, ihnen etwas zu trinken mitzubringen, und jemand schlug vor, jeder, der Bier haben wollte, sollte zwei Pence geben. Gesagt, getan: ein Schilling und vier Pence wurden gesammelt und Philpot übergeben, damit er eine Vierliterkanne Bier mitbringe. Er versprach, so bald wie nur irgend möglich zurück zu sein, und einige der Aktienbesitzer des Unternehmens beschlossen, keinen Tee zu ihrem Essen zu trinken, sondern auf das Bier zu warten, obwohl sie wussten, dass er erst kurz bevor sie die Arbeit wieder aufzunehmen hatten, zurück sein konnte. Er würde frühestens um Viertel vor eins kommen.
Langsam schlichen die Minuten dahin, und nach einer Weile riss dem einzigen Mann auf der Arbeitsstelle, der eine Uhr hatte, die Geduld, und er weigerte sich, noch weiterhin Fragen nach der Zeit zu beantworten. Deshalb wurde Bert bald darauf nach oben unters Dach geschickt, um nach der Kirchturmuhr zu sehen, die man von dort erkennen konnte. Als er wieder herunterkam, berichtete er, es sei zehn Minuten vor eins.
Jetzt begannen sich Anzeichen der Nervosität bei den Aktienbesitzern bemerkbar zu machen, und einige von ihnen gingen auf die Hauptstraße hinunter, um nach Philpot Ausschau zu halten; alle kehrten aber mit dem gleichen Bericht zurück - von ihm war nichts zu sehen.
Während Crass' Abwesenheit war offiziell niemand mit der Aufsicht betraut, doch alle begaben sich pünktlich um ein Uhr wieder an die Arbeit, weil sie fürchteten, Sawkins oder irgendein anderer Kriecher könnte Crass oder Elend einen Verstoß melden.
Um Viertel nach eins war Philpot noch immer nicht zurück, und die Unruhe unter den Aktienbesitzern begann, sich zur Panik zu steigern. Einige sprachen ganz offen die Meinung aus, Philpot sei mit dem Geld bummeln gegangen. Als die Zeit verging, wurde das zur allgemeinen Ansicht. Da man um zwei Uhr jede Hoffnung auf seine Rückkehr aufgegeben hatte, gingen zwei oder drei der Aktienbesitzer etwas kalten Tee trinken.
Ihre Befürchtungen erwiesen sich als völlig begründet denn bis zum nächsten Morgen sahen sie Philpot nicht wieder. Mit ziemlich einfältigem und reuigem Gesicht kam er an und versprach, das ganze Geld am Sonnabend zurückzuerstatten. Er gab auch eine ziemlich lange, verworrene Erklärung ab, wonach er auf dem Weg in die „Cricketers" einige Bekannte getroffen hatte, die gerade arbeitslos waren und die er zu einem Glas Bier einlud. Als sie in die Kneipe kamen, fanden sie dort den Halbbetrunkenen und den benebelten Tropf vor. Ein Trunk kam zum anderen, sie begannen zu streiten, und schließlich vergaß er die vier Liter Bier ganz und gar, bis er heute morgen aufwachte.
Während Philpot diese Erklärung abgab, banden sie ihre Kittel und Schürzen um, und Crass teilte die Farbe aus. Slyme beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, sondern machte sich so schnell wie möglich fertig und ging hinaus, um anzufangen. Der Grund für diese Eile wurde einigen der anderen sehr bald offenbar, denn sie bemerkten, dass er sich ein großes, vor dem heftigen Wind geschütztes Fenster ausgesucht und es zu streichen begonnen hatte.
Das Kellergeschoß des Hauses lag etwas tiefer als der Erdboden, und vor dem Kellerfenster befand sich eine drei Fuß tiefe Einbuchtung, eine Art Graben. Die Wälle dieses Grabens waren mit Rosensträuchern und Immergrün bepflanzt, und sein Boden bestand aus glitschigem, übel riechendem, regendurchtränktem Schlamm und starrte von den Exkrementen der Tiere, die dort des Nachts umherstreiften. Um den Rahmen der Kellerfenster den zweiten Anstrich zu geben, mussten Philpot und Harlow in diesen Schmutz, der durch ihre abgetragenen und zerrissenen Schuhsohlen drang, hinabsteigen und darin stehen. Während sie arbeiteten, blieben die Dornen der Rosenbüsche an ihrer Kleidung hängen, zerrissen sie und zerkratzten die Haut ihrer halberfrorenen Hände.
Owen und Easton arbeiteten auf Leitern an den Fenstern unmittelbar über Philpot und Harlow. Sawkins, auf einer anderen Leiter, strich einen Giebel an, und die übrigen Leute waren an verschiedenen Stellen der Außenfront des Hauses beschäftigt. Bert, der Lehrling, strich die eisernen Gartenzaunstäbe. Es war bitter kalt; die Sonne verbarg sich hinter einer trübgrauen Wolkenschicht, die den Winterhimmel bedeckte.
Während sie dort arbeiteten, standen sie fast die ganze Zeit über beinahe völlig reglos; der einzige Körperteil, den sie bewegten, war der rechte Arm. Die Arbeit, mit der sie jetzt beschäftigt waren, musste sehr sorgfältig und überlegt ausgeführt werden - sonst würden die Scheiben „verschmiert", oder die weiße Farbe der Einfassung könnte in die grüne der Schieberahmen laufen, weil beide Farben noch nass waren. Jeder von den Leuten hatte zwei Farbtöpfe und zwei Sätze Pinsel. Der Wind blies nicht in plötzlichen Stößen, sondern wehte stark und anhaltend, durchdrang ihre Kleidung und ließ sie vor Kälte zittern und erstarren. Er pfiff von rechts und war deshalb um so beißender; denn der erhobene rechte Arm ließ den Körper von dieser Seite völlig ungeschützt. Die linke Hand konnten sie in die Hosentasche stecken und den linken Arm gegen die Seite pressen. Das machte viel aus.
Noch aus einem anderen Grunde ist es schlimmer, wenn einen der Wind von rechts trifft. Die Knöpfe der Männerjacketts sitzen stets auf der rechten Seite, und dadurch kann der Wind in die Jacke hineinblasen. Philpot fühlte das um so mehr, als an seinem Jackett und seiner Weste einige Knöpfe fehlten.
Während sie vor Kälte zitternd und zähneklappernd mit der Arbeit fortfuhren, nahmen ihr Gesicht und ihre Hände allmählich die hellila Farbe an, die man gewöhnlich auf den Lippen von Leichen sieht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Lider röteten und entzündeten sich. Bald waren Philpots und Harlows Stiefel völlig durchnässt vom Wasser, das sie aus dem feuchten Boden aufgesogen hatten, und ihre Füße waren wund und schmerzten stark vor Kälte.
Am meisten litten natürlich ihre Hände, die so starr wurden, dass sie die Pinsel, die sie hielten, nicht mehr fühlen konnten, und als Philpot den Pinsel in die Farbe eintauchte, fiel der ihm tatsächlich aus der Hand und in den Topf, und da er feststellte, dass er die Finger nicht mehr bewegen konnte, steckte er die Hand in die Hosentasche, um sie zu wärmen, und begann umherzulaufen, wobei er
mit den Füßen fest auf den Boden stampfte. Owen, Easton und Harlow folgten bald seinem Beispiel, und alle schlüpften um die Ecke zur geschützten Seite des Hauses, wo Slyme arbeitete. Dort gingen sie auf und ab, rieben sich die Hände, stampften mit den Füßen auf und schlenkerten mit den Armen, um sich zu wärmen.
„Wenn ich wüsste, dass Nimrod nicht käme, würd ich mir den Mantel zur Arbeit anziehen", bemerkte Philpot, „aber man weiß ja nie, wann dieser Kerl kommt, und wenn er mich im Mantel sieht, jagt er mich zum Teufel."
„Dabei würde's uns bei der Arbeit überhaupt nicht hindern, wenn wir die Überzieher anzögen", sagte Easton, „wir würden sogar schneller arbeiten, wenn uns nicht so lausig kalt wär."
„Selbst wenn Elend nicht käme, würde Crass vermutlich allerhand zu sagen haben, wenn wir sie anziehen", fuhr Philpot fort.
„Na, könntet ihr ihm ja woll auch nicht verdenken, wenn er was sagte, oder?" bemerkte Slyme aggressiv. „Crass würde schön was auf den Deckel kriegen, wenn Hunter kam und uns in Mänteln arbeiten sähe. Das würde vielleicht lächerlich aussehen!"
Slyme litt weniger unter der Kälte als alle übrigen, nicht nur, weil er sich das am meisten geschützte Fenster gesichert hatte, sondern auch, weil er besser angezogen war als fast alle übrigen.
„Was murkst denn der Crass eigentlich drinnen?" fragte Easton, während er auf und ab stapfte, die Schultern nach vorn gezogen und die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
„Weiß der Kuckuck", antwortete Philpot. „Er fummelt rum und bessert aus oder rührt Farben ein. Bei so 'ner Arbeit wie der hier macht er nie seinen Teil; der sieht schon zu, wie er zurechtkommt."
„Na und? Wir würden's ebenso halten, wenn wir an seiner Stelle wären, und jeder andre auch", sagte Slyme und fügte sarkastisch hinzu: „Oder vielleicht würdet ihr alle angenehmen Arbeiten andren geben und selbst die Schufterei übernehmen."
Slyme wusste, dass sie auch auf ihn anspielten, obwohl
sie von Crass sprachen, und während er Philpot antwortete, sah er listig zu Owen hinüber, der sich bisher nicht an der Unterhaltung beteiligt hatte.
„Handelt sich ja gar nicht darum, was wir machen würden", fiel Harlow ein. „Handelt sich ja darum, was anständig ist. 's ist nicht anständig von Crass, alle leichten Arbeiten für sich selbst rauszusuchen und alle schweren den andern zu überlassen; und nur, weil wir's ebenso machen würden, wenn wir Gelegenheit hätten, ist's noch lange nicht richtig."
„Man kann es niemand verübeln, wenn er unter den bestehenden Umständen das Bestmögliche für sich selbst herausholt", sagte Owen auf Slymes fragenden Blick. „Das ist ja das Prinzip des gegenwärtigen Systems: jeder für sich, und den letzten beißen die Hunde. Was mich betrifft, ich behaupte nicht, meine Handlungen von den Regeln bestimmen zu lassen, die in der Bergpredigt niedergelegt sind. Aber es mutet ziemlich seltsam an, wenn du, der du doch vorgibst, ein Anhänger Christi zu sein, der Selbstsucht das Wort redest. Oder vielmehr, es würde einen seltsam anmuten, wenn die Bezeichnung ,Christ' nicht aufgehört hätte, einer, der Christus folgt, zu bedeuten, und nicht nur noch Lügner und Heuchler hieße."
Slyme gab keine Antwort. Vielleicht befähigte ihn die Tatsache, dass er wirklich ein echter Gläubiger war, diese Beleidigung mit Demut und Sanftmut zu ertragen.
„Wie spät mag's woll sein?" warf Philpot ein.
Slyme sah nach der Uhr. Es war beinahe zehn.
„Verdammter Mist! Erst?" knurrte Easton, als sie sich wieder an die Arbeit begaben. „Noch zwei Stunden bis zum Essen!"
Nur noch zwei Stunden - aber diesen elenden, halbverhungerten, schlecht gekleideten Geschöpfen, die dort im bitterkalten Wind standen, der ihre Kleidung durchdrang und ihnen mit eisigen Fingern an Herz und Lungen zu zerren schien, kam die Zeit wie eine Ewigkeit vor. Urteilte man nach dem Eifer, mit dem sie ihre Mittagsstunde herbeisehnten, so hätte man meinen sollen, ein großartiges Bankett erwarte sie anstatt nur Brot, Käse und Zwiebeln oder Bücklinge - und dazu aufgekochten Tee.
Noch zwei Stunden der Qual bis zum Essen und danach drei weitere Stunden. Und dann wäre es, Gott sei Dank, zu dunkel, um noch etwas zu sehen und weiterarbeiten zu können.
Es wäre viel besser für sie gewesen, wären sie, anstatt „Freie" zu sein, Sklaven und Mr. Rushtons Eigentum gewesen und nicht seine Angestellten. So, wie die Dinge jetzt standen, hätte es ihn nicht bekümmert, wäre einer von ihnen oder wären sie alle durch Erkältung krank gegeworden oder gar gestorben. Ihm hätte es nichts ausgemacht. Es gab ja genügend andere, die arbeitslos und am Verhungern waren, die mit Freuden den Platz der Erkrankten eingenommen hätten. Wären sie jedoch Rushtons Eigentum gewesen, so wäre eine Arbeit wie diese hier aufgeschoben worden, bis sie ohne Gefahr für Gesundheit und Leben der Sklaven ausgeführt werden konnte, oder, falls sie bei diesem Wetter fortgesetzt wurde, hätte der Besitzer der Leute zumindest dafür gesorgt, dass sie genügend bekleidet und ernährt waren; er hätte sich um sie ebenso gesorgt wie etwa um sein Pferd.
Die Menschen sorgen sich immer sehr um ihre Pferde. Falls sie ein Pferd überanstrengten und damit verursachten, dass es krank würde, so hätten sie Unkosten für Medizin und den Tierarzt, vom Futter und von der Unterbringung des Tieres ganz zu schweigen. Falls sie ihre Pferde zu Tode schindeten, so müssten sie neue kaufen. Aber keine dieser Rücksichten gilt für Lohnarbeiter. Schinden sie einen Arbeiter zu Tode, so können sie an der nächsten Straßenecke unentgeltlich einen anderen bekommen. Sie brauchen ihn nicht zu kaufen; alles, was sie zu tun haben, ist, ihm genügend Geld zu geben, damit er sich irgendwie mit Lebensmitteln und Kleidung versorgen kann, solange er für sie arbeitet. Verschulden sie, dass er krank wird, so brauchen sie ihn nicht zu ernähren noch für seine medizinische Betreuung zu sorgen, solange er daniederliegt. Er wird sich dieser Dinge enthalten oder aber selbst für sie zahlen. Trotzdem müssen wir zugeben, dass der Lohnarbeiter sowohl dem Pferd als auch dem Sklaven überlegen ist insofern, als er den unschätzbaren Segen der Freiheit genießt. Gefallen ihm die Bedingungen des Mannes, der ihn mietet nicht, so braucht er sie nicht anzunehmen. Er kann sich weigern zu arbeiten, und er kann gehen und kann verhungern. Er wird von keinen Stricken gehalten. Er ist ein freier Mann. Er ist der Erbe aller Zeitalter. Er genießt vollkommene Freiheit. Er hat das Recht, frei zu wählen, was er tun will - sich zu unterwerfen oder zu verhungern, Dreck zu essen oder nichts zu essen.
Kälter und kälter blies der Wind. Der Himmel, der anfangs durch Risse in den Wolkenmassen kleine Flecke von Blau sehen ließ, war jetzt einförmig grau geworden. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass es schneien werde.
Die Leute nahmen das mit gemischten Gefühlen wahr. Begann es zu schneien, so konnten sie diese Arbeit hier nicht fortsetzen, und deshalb ertappten sie sich unwillkürlich bei dem Wunsch, es möge schneien, regnen, hageln oder sonst etwas geschehen, was der Arbeit Einhalt geböte. Andererseits aber müssten einige von ihnen „feiern", wenn das Wetter sie daran hinderte, mit den Außenarbeiten fortzufahren, denn die Innenarbeiten waren praktisch beendet. Keiner von ihnen wünschte, Arbeitszeit zu verlieren, wenn er das irgend vermeiden konnte, denn bis Weihnachten waren es nur noch zehn Tage.
Der Morgen schlich langsam dahin, und es fiel kein Schnee. Schweigend fuhren die Leute mit der Arbeit fort, denn sie waren nicht in der Stimmung zu reden, und nicht nur das: sie befürchteten auch, dass Hunter, Rushton oder Crass sie vielleicht hinter einem Busch, einem Baum hervor oder durch eines der Fenster beobachtete. Die Furcht hiervor beherrschte sie derartig, dass die meisten kaum wagten, sich umzublicken, und stetig mit der Arbeit fortfuhren. Keiner von ihnen wollte seine Aussicht verderben, von der Firma behalten zu werden und bei der Arbeit an dem zweiten Hause mithelfen zu können, das Rushton & Co., wie berichtet wurde, für Mr. Sweater „überholen" sollte.
Endlich war es doch zwölf Uhr, und kaum hatte Crass' Trillerpfeife aufgehört zu schrillen, als bereits alle in der Küche vor dem hellodernden Feuer versammelt waren. Sweater hatte zwei Tonnen Kohle gesandt und angeordnet, dass jeden Tag in fast allen Räumen Feuer unterhalten
werden sollte, um das Haus bis Weihnachten bewohnbar zu machen.
„Möcht wissen, ob's wohl wahr ist, dass die Firma noch 'nen Auftrag vom ollen Sweater hat?" fragte Harlow, während er sich am Ende eines spitzen Stockes einen Bückling röstete.
„Wahr? Nö!" sagte der Mann auf dem Eimer verächtlich. „Ist nichts als Kohl. Du kennst doch das leere Haus, von dem sie sagten, Sweater hätt's gekauft - das, was Rushton und Nimrod beäugten?"
„Ja", erwiderte Harlow. Die anderen hörten mit sichtlichem Interesse zu.
„Nu, sie haben's gar nicht abgeschätzt. Der Besitzer von dem Haus ist im Ausland, und im Garten standen 'n paar Pflanzen, die Rushton gern für sich haben wollte, und er hat Elend bloß erklärt, welche es waren. Und nachher ist der olle Pontius Pilatus mit Ned Dawson und 'nem Wagen angerückt gekommen. 'n paar Fahrten haben sie gemacht und so ziemlich alles, was lohnte, aus dem Garten rausgeholt. Was nicht zu Rushton gegangen ist, ist zu Hunter gekommen."
Über dem Interesse an dieser Geschichte geriet die Enttäuschung ihrer Hoffnung beinahe in Vergessenheit.
„Wer hat dir 'n das erzählt?" fragte Harlow.
„Ned Dawson selber. 's stimmt schon, was ich dir sage. Frag 'n doch."
Ned Dawson, der gewöhnlich „Bundys Kumpel" genannt wurde, war ein paar Tage lang nicht im Hause, sondern unten in der Werkstatt gewesen, wo er allerlei Kleinarbeiten verrichtet hatte, und erst an diesem Morgen war er in die „Höhle" zurückgekehrt. Als Dick Wantley sich auf ihn berief, bestätigte er dessen Erklärung.
„Sie wer'n sich schon noch in die Nesseln setzen, wenn sie nicht aufpassen", bemerkte Easton.
„Ach wo, die nicht. Rushton ist viel zu gerissen dazu. Der Verwalter ist anscheinend 'n Busenfreund von ihm, und sie stecken beide unter einer Decke."
„Immerhin, 'ne dolle Unverschämtheit, verdammt noch mal!" rief Harlow aus.
„Ach, das ist doch noch gar nichts gegen manche von den
Dingern, die ich sie schon habe drehen sehen", sagte der Mann auf dem Eimer. „Na, weißte denn nicht mehr, letzten Sommer der geschnitzte Eichenholz-Flurtisch, den Rushton sich aus dem Haus an der Großen Paradeallee geklaut hat?"
„Ja, das war auch nicht grade von Pappe, was?" rief Philpot, und mehrere der anderen lachten.
„Du weißt doch, das große Haus, das wir letzten Sommer renoviert haben - Nr. 596", fuhr Wantley für die „Nichteingeweihten" fort. „Nu, 's hatte schon ziemlich lange leer gestanden, und wir hatten den Tisch in 'nem Wandschrank unter der Treppe gefunden. 'n verflucht anständiger Tisch war's. Einer von diesen Konsoltischen, die man an der Wand festmacht, ohne Beine. Hatte 'ne halbrunde Marmorplatte, und drunter war 'ne geschnitzte Eichenholzfigur, 'ne Nixe, die mit den Armen überm Kopf die Tischplatte hielt - 'n feines Ding!" Der Mann auf dem Eimer begeisterte sich bei dem Gedanken daran. „Muss mindestens seine fünf Pfund wert gewesen sein. Nu, grade wie wir den Tisch rausziehen, kommt mein Rushton an, und kaum hat er 'n beäugt, da sagt er zu Crass, er soll 'n mit 'nem Sack zudecken und niemand sehen lassen. Und dann haut er zum Laden ab, schickt den Jungen mit dem Wagen runter und lässt das Ding zu sich ins Haus bringen, und da ist's jetzt vorne in der Diele angemacht. Ich bin vor 'n paar Monaten hingeschickt worden, um die Vestibültüren neu zu streichen und zu lackieren, und da hab ich's selbst gesehen. Genau drüber hängt 'n Bild an der Wand, ,Das Jüngste Gericht' heißt's - Donner, Blitze, Erdbeben und Leichen, die aus ihren Gräbern aufstehen: 'ne ziemlich gruselige Sache! Und unter dem Bild hängt 'ne Karte mit 'nem Zitat aus der Bibel ,Christ ist der Herr dieses Hauses, der unsichtbare Gast bei jeder Mahlzeit, der stumme Zuhörer bei jedem Gespräch'. Ich hab dort drei, vier Tage gearbeitet und 's schließlich auswendig gekonnt."
„Na, das ist doch woll die Höhe, was?" meinte Philpot.
„Ja, aber das beste dran war, dass das olle Elend, als er von dem Tisch hörte, so 'ne Wut kriegte, weil er 'n nicht selbst bekommen hatte, dass er raufging, 'ne Jalousie klaute und sie sich durch den Jungen ins Haus bringen ließ, und n paar Tage später musste einer der Tischler kommen und sie in Hunters Schlafzimmer anmachen."
„Und das ist nie rausgekommen?" fragte Easton.
„Nu, 's hat 'n bisschen Gerede drüber gegeben. Der Verwalter hat wissen wollen, wo die Jalousie geblieben war, aber Pontius Pilatus hat Stein und Bein geschworen, 's hätt nie eine in dem Zimmer gegeben, und das Ende vom Lied war, dass die Firma 'n Auftrag bekommen hat, 'ne neue zu liefern."
„Was ich nicht verstehe, ist, wem hat 'n der Tisch eigentlich gehört?" meinte Harlow.
„Der hat zum Haus gehört", antwortete Wantley. „Aber ich nehme an, die letzten Mieter haben 'n eigenes Möbelstück gehabt, das sie in die Diele stellen wollten, da, wo der Tisch festgemacht gewesen ist, und so haben sie 'n runtergenommen und in dem Schrank aufbewahrt, und wie sie ausgezogen sind, haben sie sich woll nicht die Mühe gemacht, den wieder da anzubringen. Auf jeden Fall ist die Stelle an der Wand noch zu sehen gewesen, wo er mal gehangen hat; aber wie wir die Treppe gemacht haben, ist die Stelle übertapeziert worden, und ich nehme an, der Hauswirt oder der Verwalter hat überhaupt nicht mehr an den Tisch gedacht. Auf jeden Fall ist Rushton damit durchgekommen."
Nun erzählten auch einige der anderen ein paar ähnliche Geschichten über die Machenschaften verschiedener Unternehmer, für die sie gearbeitet hatten; nach einiger Zeit aber kehrte die Unterhaltung zu dem Thema zurück, das ihnen allen am nächsten lag - die bevorstehende „Metzelei" und wie unwahrscheinlich es sei, dass sie angesichts der vielen Arbeitslosen, die es bereits gab, eine neue Arbeitsmöglichkeit fänden.
„Ich kann's mir selbst nicht erklären", bemerkte Easton. „Die Lage scheint jedes Jahr schlimmer zu werden. Anscheinend gibt's nicht mehr halb soviel Arbeit wie früher, und die, die's gibt, wird sowieso gepfuscht, als ob die Leute, die sie machen lassen, 's sich nicht leisten könnten, dafür zu bezahlen."
„Ja", sagte Harlow, „das stimmt. Guckt euch doch bloß mal die Arbeit in einem von den Häusern an der Großen Paradeallee an. Damals müssen die Leute bestimmt mehr Geld zum Ausgeben gehabt haben; denkt mal, die ganzen massiven Vorhangprofile über den Salon- und Speisezimmerfenstern - gediegen vergoldet! Heutzutage würden die Besitzer verlangen, dass das ganze verdammte Haus -innen und außen - für das Geld gemacht wird, das es gekostet hat, eins von den Profilen zu vergolden."
„'s scheint, dass heutzutage fast jeder mehr oder weniger knapp bei Kasse ist", sagte Philpot. „Ich freß 'n Besen, wenn ich das kapiere, aber 's ist so."
„Du solltest Owen bitten, es dir zu erklären", bemerkte Crass höhnisch lachend. „Er weiß ja ganz genau, was die Ursache der Armut ist, er will's bloß niemand sagen. Er wollte's ja schon lange bald mal erklären, aber 's scheint nichts draus zu werden."
Crass hatte noch keine Gelegenheit gefunden, den Ausschnitt aus dem „Verdunkler" vorzuzeigen, und er machte diese Bemerkung in der Hoffnung, damit die Unterhaltung in eine solche Bahn zu lenken, in der er das nachholen konnte. Owen antwortete jedoch nicht, sondern las weiter in seiner Zeitung.
„Wir haben schon lange keinen Vortrag mehr gehört, was?" sagte Harlow in gekränktem Ton. „Ich denke, 's wird Zeit, dass Owen mal erklärt, was denn nun eigentlich die wahre Ursache der Armut ist. Ich fange an, ganz scharf drauf zu werden."
Die anderen lachten.

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