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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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53. Kapitel Ich tu jetzt was viel, viel Besseres als jemals zuvor

Zwar waren Owen, Easton, Crass und einige andere vom Glück so begünstigt gewesen, während der letzten Monate ein wenig Arbeit zu haben; die Mehrzahl ihrer Arbeitskollegen aber war die meiste Zeit über gänzlich arbeitslos gewesen, und inzwischen hatten die praktischen Geschäftsleute und die angeblichen Jünger Christi - die Lügner und Heuchler, die zu glauben vorgaben, dass alle Menschen Brüder seien und Gott ihr Vater sei - auch weiterhin die übliche Posse aufgeführt, die sie das rings um sie herrschende Elend „anpacken" nannten. Sie fuhren fort, Gerümpel- und Kunterbuntverkäufe zu veranstalten und ihre schlechten, abgelegten Anzüge und Stiefel, ihre übrig gebliebenen Nahrungsmittel sowie Suppe an diejenigen ihrer Brüder zu verteilen, die würdelos genug waren, darum zu betteln. Auch das herrliche Notstandskomitee war in voller Tätigkeit: über tausend Brüder hatten sich in seine Bücher eingeschrieben. Nach sorgfältiger Überprüfung hatte das Komitee festgestellt, nicht weniger als sechshundertzweiundsiebzig von ihnen verdienten, dass man ihnen gestatte, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Wahrscheinlich hätte das Komitee diesen sechshundertzweiundsiebzig die dazu nötige Erlaubnis gegeben; es war jedoch etwas behindert, denn die ihm zur Verfügung stehenden Gelder reichten nur aus, um eine solche Anzahl von Brüdern drei Tage lang zu beschäftigen. Durch eine Politik des Aufschiebens, des Verzögerns und des allgemeinen kunstvollen Sichwindens gelang es dem Komitee jedoch, den Eindruck zu erwecken, es packe das Problem an.
Wäre nicht ein von Bruder Rushton erfundener schlauer Trick gewesen, so wäre es einer viel größeren Anzahl von Brüdern gelungen, sich als Arbeitslose in die Bücher des Komitees einzuschreiben. In früheren Jahren war es üblich gewesen, jedem Bruder, der darum bat, einen „Fragebogen" auszuhändigen, und der Bruder reichte diesen zurück, nachdem er ihn eigenhändig ausgefüllt hatte. Auf einer Geheimsitzung des Komitees schlug nun Rushton - unter Gelächter und Beifall, denn es war ein so guter Witz - eine neue und bessere Methode vor, die darauf berechnet war, die Anzahl der Antragsteller möglichst niedrig zu halten. Im Ergebnis dieser Reform wurden keine Fragebogen mehr ausgegeben, sondern die Arbeitsuchenden wurden einzeln in das Büro eingelassen und dort von einem Schreibgehilfen auf eine ähnliche Weise ins Verhör genommen, wie ein französischer „juge d'instruction" einen Verbrecher examiniert, und der Schreiber füllte den Bogen entsprechend den Angaben des Übeltäters aus.
„Ihr Name?"
„Wo wohnen Sie?"
„Seit wann wohnen Sie dort?"
„Wo haben Sie vorher gewohnt?"
„Wie lange haben Sie dort gewohnt?"
„Weshalb sind Sie umgezogen?"
„Haben Sie, als Sie umzogen, irgend welche Mietsschulden gehabt?"
„Welche Adresse hatten Sie vorher?"
„Wie alt sind Sie? An welchem Tag war Ihr letzter Geburtstag?"
„Welches ist Ihr Handwerk, Ihr Beruf, Ihre Stellung oder Ihre Beschäftigung?"
„Sind Sie verheiratet, Junggeselle, Witwer oder was sonst?"
„Wie viel Kinder haben Sie? Wie viel Jungen? Wie viel Mädchen? Arbeiten sie? Was verdienen sie?"
„In was für einem Haus wohnen Sie? Wie viel Zimmer hat es?"
„Wie viel Miete schulden Sie?"
„Wie hieß Ihr letzter Arbeitgeber? Wie hieß der Vorarbeiter? Wie lange haben Sie dort gearbeitet? Welche Arbeit haben Sie dort verrichtet? Weshalb sind Sie von dort fortgegangen?"
„Was haben Sie während der letzten fünf Jahre getan? Welche Art von Arbeit, wie viel Stunden pro Tag? Wie hoch war Ihr Lohn?"
„Nennen Sie die volle Anschrift sämtlicher Arbeitgeber, bei denen Sie während der letzten fünf Jahre beschäftigt waren, und die Gründe, weshalb Sie von dort fortgegangen sind."
„Nennen Sie sämtliche Vorarbeiter, unter denen Sie während der letzten fünf Jahre gearbeitet haben."
„Verdient Ihre Frau etwas? Wie viel?"
„Erhalten Sie Geld von irgendeinem Hilfsverein oder einer Gesellschaft, einer Wohltätigkeitseinrichtung oder aus einer sonstigen Quelle?"
„Haben Sie jemals Armenunterstützung bezogen?"
„Haben Sie früher bereits einmal für ein Notstandskomitee gearbeitet?"
„Haben Sie jemals irgendeine andere Art von Arbeit als die von Ihnen erwähnte verrichtet? Glauben Sie für irgendeine andere geeignet zu sein?"
„Können Sie Empfehlungen vorweisen?" und so weiter, und so fort.
Hatte der Verbrecher alle diese Fragen beantwortet und waren alle seine Antworten ordnungsgemäß niedergeschrieben worden, so wurde ihm mitgeteilt, ein Mitglied des Komitees, ein bevollmächtigter Angestellter oder irgendeine andere Person werde in absehbarer Zeit seine Wohnung besuchen und Erkundigungen über ihn einziehen, wonach der bevollmächtigte Angestellte oder die andere Person dem Komitee Bericht erstatten werde, das den Fall dann in seiner nächsten Sitzung behandelte. Da aber das Verhör jedes Verbrechers etwa eine halbe Stunde dauerte, von der Wartezeit gar nicht zu reden, wird man verstehen, dass die Idee als Mittel, die Anzahl der eingeschriebenen Arbeitslosen niedrig zu halten, sich ausgezeichnet bewährte.
Als Rushton diese neue Regel beantragte, wurde sein Vorschlag einstimmig angenommen, mit einer Gegenstimme, der von Dr. Schwächling, der ja freilich - wie Bruder Schinder bemerkte - gegen jeden vernünftigen Vorschlag war. Es gebe jedoch einen Trost, setzte Schinder hinzu, - lange werde er ihnen nicht mehr „auf den Wecker fallen", denn der erste November sei im Anzug, und wie er, Schinder, die Arbeiter kenne, werden sie Schwächling bestimmt „'nen Tritt in den Hintern" versetzen, sobald sie Gelegenheit dazu hätten.
Einige Tage danach rechtfertigte das Ergebnis der Kommunalwahlen die Voraussage Bruder Schinders, denn die stimmberechtigten Arbeiter von Dr. Schwächlings Wahlbezirk versetzten ihm tatsächlich „einen Tritt in den Hintern" : Rushton, Didlum, Schinder und mehrere andere Mitglieder der Bande jedoch wurden im Triumph mit erhöhter Stimmenmehrheit wieder gewählt.
Mr. Sudler von der Firma Sudler & Schluder war bereits zum Armenvorsteher gewählt worden.
Während dieser ganzen Zeit war Hunter, der im Laufe der trübselig vorüberschleichenden Wochen immer sorgenvoller und elender aussah, täglich damit beschäftigt, das bisschen Arbeit zu überwachen, das es zu tun gab, und herumzulaufen auf der Suche nach weiteren Aufträgen. Fast jeden Abend blieb er bis spät im Büro, brütete über Berechnungen und arbeitete Kostenanschläge aus. Die Polizei hatte sich so daran gewöhnt, im Büro Licht zu sehen, dass sie sich für gewöhnlich nicht darum kümmerte; eines Donnerstagnachts aber - genau eine Woche nach der Szene zwischen Owen und Rushton wegen des Jungen - bemerkte der wachhabende Beamte, dass dort noch viel später als üblich Licht brannte. Zuerst maß er dem kein besonderes Gewicht bei; als die Nacht jedoch in den Morgen überging und das Licht noch immer brannte, erwachte seine Neugier.
Er klopfte an die Tür, aber niemand öffnete, und kein Laut störte die drinnen herrschende Totenstille. Die Tür war verschlossen; er konnte jedoch nicht feststellen, ob von innen oder von außen, denn sie hatte ein Schnappschloss.
Das Bürofenster befand sich sehr weit unten; man konnte aber nicht hineinsehen, weil das Glas auf der Rückseite angestrichen war.
Der Wachtmeister dachte, am wahrscheinlichsten sei die Erklärung, derjenige, der vorher am Abend dort gewesen sei, habe beim Fortgehen vergessen, das Licht auszulöschen; es war nicht wahrscheinlich, dass Diebe oder irgendwelche Unbefugte durch Anzünden des Gaslichts ihre Anwesenheit verkündeten.
Er schrieb über den Vorfall eine Bemerkung in sein Notizbuch und wollte gerade seinen Gang fortsetzen, als sich sein Inspektor zu ihm gesellte. Der meinte, wahrscheinlich habe der Wachtmeister recht mit seiner Vermutung, und sie wollten eben weitergehen, als der Inspektor einen kleinen Lichtstrahl bemerkte, der unten durch das angestrichene Fenster schien, wo ein kleines Stück Farbe entweder vom Glas abgekratzt oder abgeblättert war. Er kniete nieder und stellte fest, dass man das Innere des Büros sehen konnte, und als er durch den Spalt blickte, stieß er einen leisen Ruf aus. Nachdem er seinem Untergebenen Platz gemacht hatte, damit der gleichfalls hineinblickte, konnte der Wachtmeister mit einiger Schwierigkeit den Körper eines Mannes sehen, der auf dem Boden ausgestreckt lag.
Für den stämmigen Polizisten war es eine leichte Aufgabe, die Bürotür aufzudrücken; ein einziger Stoß seiner Schulter brach das Schloss los, und als die Tür aufflog, fiel es platschend in eine große Blutlache, die sich an der Schwelle angesammelt hatte und von der Stelle geflossen war, wo Hunter auf dem Rücken lag, die Arme ausgestreckt und den Kopf fast vom Rumpf getrennt. Auf dem Boden, in der Nähe seiner rechten Hand, lag ein offenes Rasiermesser. Neben dem Tisch, an dem er gewöhnlich gearbeitet hatte, lag auf dem Boden ein umgefallener Stuhl, und der Tisch selbst war mit Papieren bedeckt und mit Blut besudelt.
Im Laufe der nächsten Tage nahm Crass die Rolle wieder an, die er während des Sommers, als Hunter krank war, gespielt hatte: er überwachte die Arbeit und tat auf allen Gebieten sein Bestes, den Platz des Toten auszufüllen, obgleich er - wie er gewissen Busenfreunden im Schankraum der „Cricketers" vertraulich mitteilte - nicht die Absicht hatte, Rushton das gleiche tun zu lassen, das Hunter getan hatte. Eine seiner ersten Arbeiten - am Morgen, nachdem man die Leiche entdeckt hatte - war, mit Mr. Rushton ein Haus besichtigen zu gehen, in dem einige Arbeiten auszuführen waren, für die ein Kostenanschlag gemacht werden musste. Dieser Kostenanschlag war es, den Hunter am Abend zuvor im Büro zu berechnen versucht hatte, denn man stellte fest, dass die Papiere auf dem Tisch mit Zahlen und Notizen bedeckt waren, die sich auf diese Arbeit bezogen. Die Papiere rechtfertigten das später, bei der Leichenschau, gefällte Urteil der Geschworenen, Hunter habe in einem Anfall zeitweisen Wahnsinns Selbstmord begangen; denn die Blätter waren mit sinnlosem Gekritzel bedeckt, die Worte waren falsch geschrieben und hatten keinerlei erkennbaren Zusammenhang. Eine Addition hatte er offenbar mehrmals richtig zu machen versucht, jedes Mal aber war sie auf andere Weise falsch herausgekommen. Die Tatsache, dass er das Rasiermesser in seinem Besitz hatte, schien darauf zu deuten, dass er die Tat mit Vorbedacht ausgeführt hatte; bei der Leichenschau wurde jedoch durch die Zeugenaussage des letzten Menschen, der ihn lebend gesehen hatte, hierfür eine Erklärung gegeben -eines Friseurs, der aussagte, Hunter habe das Rasiermesser ein paar Tage zuvor bei ihm schleifen lassen, und am Abend der Tragödie sei er es abholen gekommen. Er, der Friseur, habe dieses Messer bereits mehrmals für Mr. Hunter geschliffen.
Crass übernahm es, alle Vorbereitungen für die Beerdigung zu treffen. Zu Ehren dieser Gelegenheit kaufte er sich in einem Altwarenladen eine neue gebrauchte Hose und tauschte seinen eigenen niedrigen Zylinderhut - der bereits recht schäbig wurde - gegen Hunters hohen Zylinder um, den er im Büro fand und sich ohne zu zögern und ohne Gewissensbisse aneignete. Der war ihm reichlich groß, aber er legte einige Streifen zusammengefaltetes Papier unter das Lederband. Stolz schritt Crass an Hunters Stelle dem Trauerzug voran, versuchte, feierlich auszusehen, trug aber ein leises Lächeln auf seinem fetten, teigigen Gesicht, das völlig farblos war bis auf einen Fleck am Kinn, nahe der Unterlippe, wo er eine entzündete Stelle hatte, so groß wie ein Dreipencestück. Diesen Fleck hatte er bereits seit langem dort. Zuerst - soweit Crass sich erinnern konnte - war es nur ein kleiner Pickel gewesen; der war jedoch immer größer geworden und sah ein wenig wie Grind aus. Dass dieser Fleck nicht verschwand, führte Crass. auf den Frost zurück, der „letzten Winter reingekommen" sei. Auch das war recht seltsam, denn gewöhnlich nahm sich Crass sehr in acht, wenn es kalt war: stets trug er den warmen Schal, der früher der alten, an Krebs verstorbenen Dame gehört hatte. Crass machte sich jedoch wegen dieser kleinen wunden Stelle nicht viel Gedanken; er betupfte sie nur hin und wieder mit ein wenig Zinkoxydwasser und zweifelte nicht daran, dass sie schließlich heilen werde.

 

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