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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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2. Kapitel Nimrod: Ein großer Jäger vor dem Herrn

Mr. Hunter, wie man ihn ins Gesicht nannte und unter welchem Namen ihn seine Brüder von der Gemeinde der Kapelle „Das strahlende Licht" kannten, wo er Vorsteher der Sonntagsschule war, oder „Elend" und „Nimrod", wie er hinter seinem Rücken von den Arbeitern genannt wurde, über die er seine Tyrannenfuchtel schwang, war der Meister oder Polier der Firma, deren Visitenkarte wir hiermit dem Leser überreichen:

RUSHTON & CO.
MUGSBOROUGH
Bau- und Malerarbeiten aller Art * Beerdigungen
Kostenanschläge für sämtliche Hausreparaturen
Nur erstklassige Arbeit zu mäßigen Preisen

Es gab auch eine Anzahl von Vizemeistern oder Vorarbeitern; aber Hunter war der Meister.
Er war ein hochgewachsener, dürrer Mensch, dem die Kleider lose von den knochigen, abfallenden Schultern hingen. Seine langen, dünnen Beine, um die in unschönen Falten sackartige, von den Knien ausgebeulte Hosen schlotterten, waren leicht x-förmig und endeten in großen Plattfüßen. Seine Arme waren selbst für einen so hochgewachsenen Menschen sehr lang, und die riesigen, knochigen Hände waren knotig und knorrig. Nahm er seine Melone ab, wie er es häufig tat, um sich mit einem roten Taschentuch den vom schnellen Radfahren verursachten Schweiß abzuwischen, so sah man, dass seine Stirn lang, flach und eng war. Seine Nase war ein großer, fleischiger Habichtsschnabel; von jedem der beiden Nasenflügel lief eine tiefe Furche abwärts und verschwand im Hängeschnurrbart, der den Mund verdeckte, weshalb dessen riesiges Ausmaß nur sichtbar wurde, wenn Hunter ihn öffnete, um den Arbeitern seine Kommandos zuzuheilen, sich mehr anzustrengen. Das Kinn war breit und außergewöhnlich lang. Über den wässrigblauen, kleinen und eng beieinander stehenden Augen wuchsen schüttere, helle, fast unsichtbare Augenbrauen, die von einer tiefen, senkrechten Falte über der Nasenwurzel getrennt wurden. Sein mit dichtem, sprödem braunem Haar bedeckter Schädel zeichnete sich durch einen sehr breiten Hinterkopf aus; die Ohren waren klein und eng anliegend. Hätte jemand ein en-face-Porträt von Hunters leichenähnlichem Gesicht zeichnen wollen, so hätte er festgestellt, dass dessen Umrisse denen eines Sargdeckels glichen.
Dieser Mensch war seit fünfzehn Jahren bei Rushton -niemand hatte jemals die „Co." gesehen -, fast seit dem Tage der Geschäftseröffnung. Damals hatte Rushton erkannt, dass es notwendig war, einen Vertreter zu haben, den er benutzen konnte, alle Plackereien und Laufereien zu übernehmen, damit er selbst frei war, sich mit den angenehmeren und einträglicheren Dingen zu befassen. Damals war Hunter Geselle und stand gerade im Begriff, sich selbständig zu machen, als Rushton ihm eine Dauerstellung als Vorarbeiter anbot, mit einem Wochenlohn von zwei Pfund plus zweieinhalb Prozent vom Gesamtprofit der Firma. Dem Schein nach war das ein großzügiges Angebot. Hunter nahm es an, gab den Gedanken auf, sich selbständig zu machen, und setzte sich mit Herz und Seele für das Geschäft ein. War ein Kostenanschlag vorzubereiten, so war es Hunter, der die Flächen ausmaß und emsig die Kosten berechnete. Wurde das Angebot der Firma angenommen, so war er es, der die Arbeit überwachte und austüftelte, wo man dabei schludern konnte: wo man Lehm benutzen konnte, wenn Mörtel vorgesehen war; Mörtel, wenn man hätte Zement nehmen müssen; Zinkblech, wo' eigentlich Blei gelegt werden sollte; gekochtes Öl anstelle von Firnis und drei Anstriche, wo fünf bezahlt wurden. Das Pfuschen war bei diesem Mann tatsächlich zu einer Art Manie geworden. Es bereitete ihm Kummer, irgend etwas ordentlich machen zu lassen. Selbst wenn es sparsamer war, etwas gut auszuführen, bestand er aus Gewohnheit darauf, dass geschludert wurde. Dann war er fast glücklich, weil er das Gefühl hatte, jemand übers Ohr zu hauen. Überwachte ein Architekt die Arbeit, so bestach ihn Elend, oder er bluffte ihn. War beides nicht möglich, so versuchte er es zumindest; und wenn er nicht gerade die Arbeiter beobachtete, sie antrieb oder mit ihnen polterte, waren seine scharfen Geieraugen ständig auf Aus-
schau nach neuen Aufträgen. Er steckte seine lange, rote Nase in jedes Maklerbüro der Stadt, um herauszuschnüffeln, welche Häuser in der letzten Zeit den Besitzer gewechselt hatten oder vermietet worden waren, damit er bei den neuen Besitzern vorsprechen und sich den Auftrag für jede etwa nötige Veränderung oder Reparatur sichern konnte. Er war es, der schändliche Verträge mit zahlreichen Aufwartefrauen und Krankenpflegerinnen einging, damit sie ihn gegen ein kleines Entgelt wissen ließen, wann ein armer Leidender im Sterben lag, und den trauernden, nur zerstreut zuhörenden Hinterbliebenen die Firma Rushton 8c Co. empfahlen. Auf diese Weise bewerkstelligte es Elend häufig - nachdem er zuerst Erkundigungen über die finanzielle Lage der betroffenen Familie eingezogen hatte -, seine unschöne Gestalt in das Trauerhaus zu drängen, um selbst in den Räumen des Todes die Interessen der Firma Rushton 8c Co. zu fördern und seine jämmerlichen zweieinhalb Prozent zu verdienen.
Um dieses Ziel zu erreichen, schuftete Elend, trieb die Arbeiter an, tüftelte und betrog er. Deshalb wurden die Löhne der Arbeiter bis an die Grenze des Möglichen gedrückt, waren ihre Kinder schlecht gekleidet, schlecht beschuht, schlecht genährt und wurden schon im Kindesalter zur Arbeit getrieben, weil ihre Väter nicht in der Lage waren, ihre Familien zu erhalten. Fünfzehn Jahre lang!
Hunter begriff jetzt, dass Rushton dabei das weitaus bessere Geschäft gemacht hatte. Einmal hatte er, wie man sehen wird, einen Menschen gekauft, der sich hätte zum gefährlichen Konkurrenten entwickeln können, und zum anderen gehörte jetzt, nach fünfzehn Jahren, das Geschäft, das so mühsam, vorwiegend durch Hunters Energie, durch seinen Fleiß und seine skrupellose Schlauheit aufgebaut worden war, Rushton 8c Co. Hunter war nur ein Angestellter, der wie jeder andere Arbeiter entlassen werden konnte; der einzige Unterschied war, dass er Anspruch auf eine Kündigungsfrist von einer Woche hatte anstatt von einer Stunde, und er war finanziell nur wenig besser gestellt als zu der Zeit, da er für die Firma zu arbeiten begonnen hatte.
Fünfzehn Jahre!
Hunter wusste jetzt, dass man ihn ausgenutzt hatte, aber er wusste auch, dass es zur Umkehr zu spät war. Er hatte nicht genügend gespart, um mit Erfolg ein eigenes Geschäft aufmachen zu können - selbst wenn er sich geistig und körperlich in der Lage gefühlt hätte, noch einmal von vorn anzufangen; und wenn Rushton Sc Co. ihn jetzt entließe, wäre er zu alt, um als Geselle anderswo unterzukommen. In seinem Eifer für Rushton & Co. und in dem Bestreben, seine Provision zu verdienen, hatte er auch häufig Dinge getan, die ihm die Feindschaft der Konkurrenzfirmen in einem solchen Maße zuzogen, dass es höchst unwahrscheinlich war, eine von ihnen werde ihn einstellen, und selbst wenn sie es täten, stockte Elend das Herz bei dem Gedanken, den Arbeitern, die er tyrannisiert und unterdrückt hatte, auf gleicher Stufe gegenüberstehen zu müssen. Aus all diesen Gründen hatte Hunter eine ebensolche panische Angst vor Rushton wie die Arbeiter vor ihm.
Über den Leuten stand Elend, ständig drohend, sie zu entlassen und ihre Frauen und Kinder dem Hunger preiszugeben. Hinter Elend aber stand Rushton, polterte und stachelte ihn an zu immer größeren Anstrengungen und Leistungen zum Nutzen der guten Sache - die darin bestand, dem Chef der Firma die Möglichkeit zu geben, Geld anzuhäufen.
In dem Augenblick, da der Leser Mr. Hunters Bekanntschaft macht, an dem Nachmittag, an dem sich die im ersten Kapitel aufgezeichneten Ereignisse abspielten, führte Mr. Hunter eine Art strategische Bewegung in Richtung des Hauses aus, wo Crass und seine Gefährten arbeiteten. Er hielt sich auf der einen Straßenseite, weil ihn auf diese Weise die Leute im Hause bis zum Augenblick seiner Ankunft nicht bemerken konnten. Als er noch etwa hundert Meter vom Tor entfernt war, stieg er vom Rad, denn die Straße führte hier steil bergan, und während er sich hinaufarbeitete, das Rad vor sich herschob und sein Atem in der kalten Luft in weißen Wolken zu sehen war, beobachtete er einige dort herumstehende Männer. Ein paar von ihnen kannte er; sie hatten schon verschiedentlich für ihn gearbeitet, jetzt aber waren sie arbeitslos. Im ganzen waren es fünf Mann; drei standen in einer Gruppe beieinander, und die übrigen beiden hielten sich jeder für sich, denn anscheinend kannten sie weder einander noch die anderen drei. Die Gruppe stand Hunter am nächsten, und als er herankam, trat einer daraus auf ihn zu.
„'n Morgen, Mr. Hunter."
Hunter antwortete mit einem unbestimmten Grunzen, ohne stehenzubleiben; der Mann folgte ihm.
„Irgend'ne Aussicht auf Arbeit, Mr. Hunter?"
„Alles besetzt", antwortete der, noch immer ohne stehenzubleiben. Der Mann folgte ihm weiter, wie ein Bettler, der um ein Almosen bittet.
„Wird's Zweck haben, in ein, zwei Tagen noch mal nachzufragen, Mr. Hunter?"
„Glaube nicht", antwortete dieser. „Können's ja tun, wenn Sie wollen, aber wir sind voll besetzt."
„Schönen Dank, Mr. Hunter", sagte der Mann und kehrte zu seinen Freunden zurück.
Inzwischen war Hunter bis auf einige Meter zu einem der abseits stehenden beiden Leute herangekommen, der ebenfalls herbeikam, um ihn anzusprechen. Dieser Mann wusste, es bestand wenig Hoffnung auf Arbeit; aber es kostete ja immerhin nichts, zu fragen. Außerdem war er der Verzweiflung nahe. Es war jetzt über einen Monat her, seit die Arbeit bei seiner letzten Stelle fertig geworden war. Den ganzen Sommer über war wenig zu tun gewesen. Manchmal hatte er vierzehn Tage lang für eine Firma gearbeitet, dann vielleicht eine Woche lang gefeiert, dann wieder drei Wochen oder einen Monat lang bei einer anderen Firma Arbeit gehabt, dann von neuem auf der Straße gelegen und so weiter. Und jetzt war es November.
Während des letzten Winters waren sie zu Hause in Schulden geraten; das war nichts Ungewöhnliches, aber infolge des schlechten Sommers hatten sie nicht, wie in anderen Jahren, die während des Winters aufgelaufenen Schulden abzahlen können. Es war auch zweifelhaft, ob sie diesen Winter wieder Kredit erhielten. Als seine Frau heute morgen ihr kleines Mädchen zum Einholen schickte,
lehnte es der Kaufmann bereits ab, dem Kind ohne Bezahlung Butter zu geben. Daher sprach der Mann jetzt Hunter an, obwohl er es für zwecklos hielt.
Diesmal blieb Hunter stehen: die Luft war ihm durch das Steigen knapp geworden.
'n Morgen, Mr. Hunter."
Hunter erwiderte den Gruß nicht, er hatte keine Luft dazu; aber der Mann war nicht beleidigt, er war es gewohnt, so behandelt zu werden.
„Besteht irgend'ne Aussicht auf Arbeit, Mr. Hunter?"
Der antwortete nicht sogleich. Er rang nach Luft, und er dachte über einen Plan nach, der ihm immer wieder in den Sinn kam, und den auszuführen er sich in der letzten Zeit ungeduldig wünschte. Jetzt schien ihm die langersehnte Gelegenheit gekommen zu sein. Im Augenblick war Rushton & Co. fast die einzige Firma in Mugsborough, die Beschäftigung hatte. Dutzende guter Arbeiter lagen auf der Straße. Jawohl, dies war der richtige Zeitpunkt. Wenn der Mann einwilligte, wollte er ihn anfangen lassen. Hunter wusste, dass der Mensch ein guter Arbeiter war; er hatte schon früher für Rushton & Co. gearbeitet. Um für ihn Platz zu schaffen, konnte man den alten Linden und irgendeinen anderen vollbezahlten Arbeiter abschieben; es konnte nicht schwer fallen, einen Vorwand zu finden.
„Nun", sagte Hunter schließlich zweifelnd und zögernd, „ich fürchte, nein, Newman. Wir sind so ziemlich voll besetzt."
Er hörte auf zu sprechen und wartete darauf, dass der andere noch etwas hinzufügte. Er sah den Mann nicht an. sondern beugte sich nieder und beschäftigte sich mit seinem Rad. als wolle er etwas in Ordnung bringen.
„Der Sommer ist so schlecht gewesen", fuhr Newman fort, „'s ist mir ziemlich dreckig ergangen. Ich würde über eine Arbeit sehr froh sein, selbst wenn's nur für eine Woche oder so wäre."
Eine Pause entstand. Nach einer Weile hob Hunter den Blick zum Gesicht des anderen, ließ ihn aber gleich wieder sinken.
„Nun", sagte er, „ein oder zwei Tage lässt sich's - vielleicht - machen. Sie können hier auf diese Arbeitsstelle
kommen", und er nickte zu dem Haus hinüber, wo seine
Leute arbeiteten.
„Morgen früh um sieben. Den Lohn kennen Sie doch natürlich?" setzte er hinzu, als Newman sich anschickte, ihm zu danken. „Sechseinhalb."
Hunter sprach, als sei die Lohnsenkung bereits eine vollendete Tatsache. Der Mann würde eher zustimmen, wenn er dachte, andere arbeiteten bereits zu dem herabgesetzten Satz.
Newman war überrascht und zögerte. Er hatte noch niemals unter Tarif gearbeitet; er hatte sogar manches Mal lieber gehungert als das getan, jetzt aber schien es, dass andere es taten. Und dann war er so schrecklich in Geldnot. Wenn er diese Arbeit ablehnte, erhielt er wohl nicht so bald eine andere. Er dachte an sein Heim und seine Familie. Schon seit fünf Wochen schuldeten sie die Miete, und am letzten Montag hatte der Verwalter ziemlich klar angedeutet, der Hauswirt werde nicht mehr viel länger warten. Nicht nur das, aber wie sollten sie leben, wenn er keine Arbeit erhielt? Heute morgen hatte er kaum ein Frühstück gehabt, nur eine Tasse Tee und ein Stück trocken Brot. Diese Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf; dennoch zögerte er. Hunter machte Anstalten, sich zu entfernen.
„Nun", sagte er, „wenn Sie also anfangen wollen, können Sie um sieben Uhr früh herkommen." Und dann, als Newman noch immer zögerte, setzte er ungeduldig hinzu: „Kommen Sie nun oder nicht?"
„Jawohl, Mr. Hunter", sagte Newman.
„Na gut", meinte Hunter leutselig. „Ich werd Crass Bescheid geben, dass er Handwerkszeug für Sie bereithält."
Er nickte dem Arbeiter freundlich zu, der fortging und sich wie ein Verbrecher vorkam.
Als Hunter, sehr zufrieden mit sich selbst, seinen Weg fortsetzen wollte, kam ihm der fünfte Mann entgegen, der während der ganzen Zeit auf ihn gewartet hatte. Als er sich näherte, erkannte ihn Hunter als einen Arbeiter, der zu Anfang des Sommers bei Rushton & Co. Beschäftigung genommen, aber aus eigenem Willen die Arbeit plötzlich niedergelegt hatte, weil er durch irgendeine grobe Bemerkung Hunters aufgebracht war. Hunter freute sich, diesen Menschen zu sehen. Er erriet, dass der Mann in einer ziemlich bedrängten Lage sein musste, um nach dem, was geschehen war, wiederzukommen und um Arbeit zu bitten.
„Besteht irgend'ne Aussicht auf Arbeit, Mr. Hunter?"
Dieser schien nachzudenken.
„Einen kann ich, glaub ich, noch unterbringen", sagte er schließlich. „Aber Sie sind doch so 'n unsicherer Kantonist. 's scheint Ihnen ziemlich gleichgültig zu sein, ob Sie Arbeit haben oder nicht. Sie sind zu unabhängig, verstehn Sie; man braucht nur mal zwei Worte zu Ihnen zu sagen, und schon sind Sie auf und davon."
Der Mann gab keine Antwort.
„So was können wir nicht dulden, verstehn Sie", fügte Hunter hinzu. „Wenn wir Leute Ihrer Art unterstützen würden, wüssten wir nie, woran wir sind."
Mit diesen Worten schritt Hunter weiter und setzte seinen Weg fort.
Als er etwa noch drei Meter vom Tor entfernt war, lehnte er das Rad geräuschlos gegen den Gartenzaun. Die hohen Buchsbaumbüsche, die auf der Innenseite wuchsen, verbargen ihn noch vor den Blicken eines jeden, der etwa aus den Fenstern des Hauses sah. Dann schlich er behutsam weiter, bis er zum Torpfeiler kam, bückte sich und spähte vorsichtig umher, ob er nicht irgend jemand beim Herumlungern, Schwatzen oder Rauchen erwischen konnte. Niemand war zu sehen außer dem alten Jack Linden, der die Vestibültüren mit Bimsstein und Wasser abrieb. Hunter öffnete geräuschlos das Tor und schlich leise den Rasensaum des Gartenwegs entlang. Seine Absicht war, die Haustür ungesehen zu erreichen, damit Linden sein Kommen den Leuten drinnen nicht melden konnte. Das gelang ihm, und er schlüpfte lautlos ins Haus. Er sprach Linden nicht an, da er sonst den übrigen seine Anwesenheit angekündigt hätte. Verstohlen schlich er durchs Haus; er wurde jedoch in seinem Suchen enttäuscht, denn jeder, den er sah, war emsig bei der Arbeit. Oben fiel ihm auf, dass eine der Zimmertüren geschlossen war.
In diesem Raum hatte der alte Joe Philpot den ganzen Tag über gearbeitet, hatte die alte Schlämmkreide von der Decke abgewaschen und die Tapete mit einem breiten Messer mit eckigem Vorderteil, Spachtel genannt, von den Wänden geschabt. Obgleich das Zimmer nur klein war, hatte sich Joe doch die ganze Zeit über tüchtig ins Zeug legen müssen; denn die Decke schien zwei- oder dreimal geweißt worden zu sein, ohne dass man sie jemals abgewaschen hatte, und an der Wand klebten mehrere Lagen Tapeten übereinander. Sie zu entfernen, war um so schwieriger, weil ein gefirnisstes Paneel da war. Um es abkratzen zu können, hatte er es mehrmals mit scharfem Sodawasser durchtränken müssen, und obwohl Joe so vorsichtig wie möglich vorging, hatte er nicht vermeiden können, dass er etwas davon an die Finger bekam. Infolgedessen waren seine Nägel völlig zerfressen und entfärbt, und die Haut ringsum war gesprungen und blutig. Endlich aber hatte er doch alles von der Wand herunterbekommen, und er war darum nicht böse, denn sein rechter Arm und seine Schulter schmerzten von der langen Anstrengung, und in seiner rechten Handfläche hatte er vom Griff des Spachtels eine Blase, so groß wie ein Schilling.
Als die ganze alte Tapete herunter war, wusch Philpot die Wände mit Wasser ab, und nachdem er das Papier auf einen Haufen in der Mitte des Zimmers zusammengefegt hatte, mischte er mit einer kleinen Kelle etwas Zement auf einem Brett und ging daran, die Sprünge und Löcher in Decke und Wänden zu verschmieren. Nach einer Weile fand er, da er sehr müde war, er habe jetzt eine Ruhepause von fünf Minuten und ein Pfeifchen verdient. Er schloss die Tür und stellte eine Trittleiter dagegen. Das Zimmer hatte zwei einander fast gegenüberliegende Fenster; die öffnete er weit, damit der Rauch seiner Pfeife und der Tabaksgeruch hinauszögen. Nachdem er diese Vorsichtsmaßregeln gegen eine Überraschung getroffen hatte, stieg er zur obersten Stufe der Trittleiter hinauf, die er gegen die Tür gelehnt hatte, und setzte sich beruhigt nieder. In Reichweite stand, auf einem Schrank verborgen, eine Flasche mit einem halben Liter Bier. Der widmete er sich nun. Nachdem er einen langen Zug daraus getan hatte, stellte er sie zärtlich wieder auf den Schrank
zurück und machte sich daran, ruhig sein Pfeifchen zu genießen, wobei er zu sich bemerkte:
„Auf diese Weise kommt unsereins wenigsten 'n bisschen auf seine Kosten!"
Er behielt jedoch die Kelle in der Hand, um im Falle einer Störung sofort aktionsbereit zu sein.
Philpot war etwa fünfundfünfzig Jahre alt. Er trug keine weiße Jacke, sondern nur eine abgetragene, geflickte Schürze; seine Hose war alt, sehr mit Farbe beschmiert und an den Rändern ausgefranst, die über seine vielgeflickten, rissigen Stiefel mit den schiefen Absätzen fielen. Der nicht von der Schürze geschützte Teil seiner Weste war mit Flecken von getrockneter Farbe bedeckt. Er trug ein buntes Hemd und ein „Chemisette" - sehr schmutzig und voller Farbspritzer -, dessen eine Seite aus der Westenöffnung hervorstand. Auf seinem Kopf saß eine alte, von Farbe schwere und glänzende Mütze. Er war sehr mager und leicht gebeugt. Obwohl er wirklich erst fünfundfünfzig war, sah er bedeutend älter aus, denn er war vorzeitig gealtert.
Er war noch nicht fünf Minuten lang „auf seine Kosten gekommen", als Hunter leise den Türgriff drehte. Philpot löschte sofort die Pfeife, stieg von dem erhöhten Sitz hinunter und öffnete die Tür. Als Hunter drinnen war, schloss Philpot sie wieder, stieg auf die Leiter und fuhr fort, direkt über der Tür die Wand zu verschmieren. Nimrod sah ihn misstrauisch an und fragte sich, weshalb die Tür wohl verschlossen gewesen war. Er blickte sich rings im Zimmer um, sah aber nichts, was er rügen konnte. Er schnüffelte in der Luft umher und versuchte, Tabaksgeruch zu entdecken, und hätte er nicht an einem Schnupfen gelitten, wäre ihm der Geruch auch gewiss nicht entgangen. So konnte er jedoch nichts riechen; aber trotzdem war er noch immer nicht ganz beruhigt, obwohl er daran dachte, dass Crass Philpot stets ein gutes Zeugnis ausgestellt hatte.
„Ich hab's nicht gern, wenn die Leute bei einer solchen Arbeit die Tür zumachen", sagte er schließlich, „'s bringt mich immer auf den Gedanken, dass der Mann raucht. Sie können das, was Sie da tun, ebenso gut bei offener Tür machen."
Philpot murmelte etwas darüber, dass ihm alles eins sei - offen oder geschlossen -, kletterte von seiner Leiter wieder hinab und öffnete die Tür. Hunter ging hinaus, ohne noch eine weitere Bemerkung zu machen, und begann wieder, im Hause umherzuschleichen.
Owen arbeitete allein in einem Zimmer desselben Stockwerks. Er stand am Fenster und brannte mit einer Paraffinlampe die Teile des alten Anstrichs herunter, die Blasen geworfen hatten oder Sprünge aufwiesen.
Bei dieser Arbeit wird die Flamme der Lötlampe gegen die alte Farbe gerichtet, diese wird weich, und man kratzt sie mit einem Schaber oder Spachtel ab. Die Tür war angelehnt, und Owen hatte den oberen Schieberahmen des Fensters geöffnet, um etwas frische Luft hereinzulassen, denn im Zimmer roch es unangenehm nach der verbrannten Farbe, und dazu war die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt. Die Decke war gerade erst abgewaschen und die Tapete von den Wänden entfernt worden. Die alte Tapete lag wasserdurchtränkt auf einem Haufen in der Mitte des Zimmers.
Jetzt begann Owen, während er arbeitete, zu fühlen, dass sich noch jemand im Zimmer befand; er sah sich um. Die Tür stand ungefähr fünfzehn Zentimeter weit offen, und im Spalt erschien ein langes, bleiches Gesicht mit einem riesigen Kinn und darüber ein Melonenhut; es war mit einer großen roten Nase, einem Hängeschnurrbart und zwei kleinen, stechenden, sehr eng beieinander stehenden Augen geziert. Einige Sekunden lang blickte die Erscheinung Owen durchdringend an, dann verschwand sie lautlos, und er war wieder allein. Er war so überrascht und erschrocken gewesen, dass er beinahe die Lampe hatte fallen lassen, und jetzt, wo das grässliche Gesicht verschwunden war, fühlte Owen, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Er zitterte vor unterdrücktem Zorn und wünschte, er könnte auf den Flur hinausgehen und Hunter die Lampe ins Gesicht schleudern.
Der stand derweilen auf dem Treppenabsatz vor Owens Tür und dachte nach. Irgendeinen musste er loswerden, damit er morgen Platz hatte für die billige Arbeitskraft.
Er hatte gehofft, jemand bei irgend etwas zu überraschen, das ihm als Vorwand zu einer fristlosen Entlassung dienen konnte, aber es bestand gar keine Aussicht darauf. Was war also zu machen? Er wäre gern Linden losgeworden, der jetzt wirklich schon zu alt war, um noch viel von Nutzen zu sein; da aber der alte Mann viele Jahre lang ständig bei Rushton gearbeitet hatte, meinte Hunter, er könne ihn kaum aus heiterem Himmel ohne irgendeinen vernünftigen Vorwand entlassen. Der Kerl war aber wirklich nicht das Geld wert, das er erhielt. Sieben Pence die Stunde war ein lächerlich hoher Lohn für so einen alten Mann. Es war absurd - er musste gehen. Vorwand hin, Vorwand her.
Hunter schlich wieder nach unten.
Jack Linden war ungefähr siebenundsechzig Jahre alt, aber wie Philpot und wie es gewöhnlich bei Arbeitern ist, schien er älter, da er sein ganzes Leben lang hatte hart arbeiten müssen, häufig ohne richtige Nahrung und Kleidung. Er hatte sein Leben inmitten einer Zivilisation verbracht, deren Wohltaten er nie genießen durfte. Aber natürlich wusste er nichts von all dem. Er hatte niemals erwartet oder auch nur gewünscht, solche Dinge zu genießen: stets war er der Meinung gewesen, sie seien niemals für seinesgleichen gedacht worden. Er nannte sich einen Konservativen und war sehr patriotisch gesinnt.
Damals, als der Burenkrieg begann, war Linden ein enthusiastischer Chauvinist; sein Enthusiasmus wurde aber etwas gedämpft, als sein jüngster Sohn, ein Reservist, an die Front musste, wo er am Fieber, schutzlos der Witterungsunbill ausgesetzt, starb. Als dieser Sohn, der Soldat, fortging, ließ er seine Frau und zwei Kinder, die damals vier und fünf Jahre alt waren, in der Obhut seines Vaters zurück. Nachdem er gestorben war, blieben sie bei den alten Leuten wohnen. Die junge Frau verdiente sich wohl gelegentlich mit Näharbeiten etwas Geld, hing aber tatsächlich von ihrem Schwiegervater ab. Trotz seiner Armut freute er sich, sie im Hause zu haben, denn seine Frau war in den letzten Jahren sehr kränklich geworden und brauchte seit dem Schock, den die Nachricht vom Tode ihres Sohnes ihr versetzt hatte, ständig jemand um sich.
Linden arbeitete noch immer an den Vestibültüren, als der Meister herunterkam. Elend stand einige Minuten neben ihm und beobachtete ihn stumm. Endlich sagte er laut:
„Wie lange wollen Sie 'n noch mit den Türen rummurksen? Warum fangen Sie 'n nicht an, sie zu streichen? Sie haben schon daran rumgefummelt, als ich heut morgen hier war. Glauben Sie vielleicht, 's macht sich bezahlt, Sie hier stundenlang mit 'nem Stück Bimsstein rumspielen zu lassen? Machen Sie doch die Arbeit fertig! Oder, wenn Sie nicht wollen, werd ich sehr schnell jemand finden, der's macht! Ich hab Ihre Arbeitsweise schon 'ne ganze Weile beobachtet; denken Sie bloß nicht, dass Sie mich zum Narren halten können, 's gibt genügend bessere Arbeiter als Sie, die jetzt rumlaufen. Wenn Sie nicht mehr schaffen können, wie Sie in letzter Zeit geschafft haben, können Sie gehen; wir kommen ohne Sie aus, auch wenn wir viel zu tun haben."
Der alte Jack zitterte. Er versuchte zu antworten, konnte aber nicht sprechen. Wäre er ein Sklave und hätte er seinen Herrn nicht zufrieden gestellt, so hätte der ihn wohl irgendwo anbinden und peitschen können. Das konnte Hunter nicht tun; er konnte ihm nur die Nahrung wegnehmen. Der alte Jack hatte Angst - es war nicht nur seine Nahrung, die ihm weggenommen werden konnte. SchließÂlich sagte er mit großer Anstrengung, denn die Worte schienen ihm in der Kehle steckenzubleiben.
„Ich muss doch die Türen glattreiben, Mr. Hunter, bevor ich sie streichen kann."
„Ich spreche nicht von dem, was Sie machen, sondern von der Zeit, die Sie dazu brauchen!" schrie Hunter, „und ich wünsche keine Widerrede und keine Diskussion darüber! Entweder Sie bewegen sich 'n bisschen schneller, oder Sie lassen's ganz sein."
Linden antwortete nicht. Er setzte seine Arbeit fort, und die Hand zitterte ihm derartig, dass er kaum fähig war, den Bimsstein zu halten.
Hunter hatte so laut geschrieen, dass seine Stimme durch das ganze Haus drang. Alle hatten es gehört und empfanden Furcht. ,Wer würde der nächste sein?' dachten sie.
Da Hunter feststellte, dass Linden keine weitere Antwort gab, begann er, wieder im Haus umherzugehen. Während er die Leute beobachtete, machten sie ihre Arbeit auf eine nervöse, ungeschickte und hastige Weise. Sie begingen alle möglichen Fehler und richteten allerlei Schaden an. Payne, der Vorarbeiter der Tischler, legte neue Dielen in einen Teil des Wohnzimmerfußbodens; er befand sich in einem solchen Zustand der Angst, dass er sich beim Einschlagen eines Nagels mit dem Hammer kräftig auf den linken Daumen schlug. Bundy arbeitete ebenfalls im Wohnzimmer und verlegte einige weißglasierte Kacheln im Kamin. Während er eine davon durchschnitt, um sie passend zu machen, schnitt er sich tief in den Finger. Er hatte Angst, die Arbeit zu unterbrechen, um den Finger zu verbinden, während Hunter dort war, und infolgedessen wurden die weißen Kacheln, während er arbeitete, völlig mit Blut besudelt. Easton, der mit Harlow auf einem Gerüst arbeitete und in der Diele die alte Wasserfarbe von der Decke wusch, war kaum fähig, auf dem Brett zu stehen, und bald fiel ihm der Pinsel polternd aus der zitternden Hand auf den Boden.
Alle hatten Angst. Sie wussten, dass es fast unmöglich war, bei einer anderen Firma Arbeit zu finden. Sie wussten, dass dieser Mann die Macht hatte, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen - dass er die Macht hatte, ihren Kindern das Brot zu nehmen.
Owen, der, droben über das Geländer gebeugt, Hunter zuhörte, hätte ihn am liebsten mit der einen Hand an der Kehle gepackt und ihm mit der anderen das Gesicht zerschmettert.
Und dann?
Ja, dann würde man ihn ins Gefängnis sperren, oder im besten Fall verlöre er seine Arbeit: seine Nahrung und die seiner Familie würden ihm genommen. Deshalb knirschte er nur mit den Zähnen, fluchte und bearbeitete die Wand mit der geballten Faust. Da! und Da! und Da!
Wäre es nicht um ihretwillen!
Owens Phantasie ging mit ihm durch.
Zuerst wollte er ihn mit der Linken beim Kragen packen, ihm die Knöchel in die Kehle drücken, ihn gegen die Wand zwingen, und dann mit der rechten Faust - peng!
und peng! und peng!, bis Hunters Gesicht völlig zerschlagen und blutbedeckt wäre.
Was aber geschähe dann mit denen zu Hause? War es nicht tapferer und männlicher, schweigend zu dulden?
Mit bleichem Gesicht, schweratmend und erschöpft lehnte sich Owen gegen die Wand.
Unten ging Elend noch immer im Hause hin und her, auf und ab. Jetzt blieb er stehen, um Sawkins bei der Arbeit zuzusehen. Der malte gerade das Holzwerk der Hintertreppe an. Obwohl die alte Farbe dort sehr schmutzig und fettig war, hatte Elend befohlen, sie dürfe [[vor dem Streichen nicht entfernt werden]].
[[„Staubt's nur einfach ab und pinselt drüber!"]] hatte er gesagt. Deshalb hatte Crass, als er die Farbe anrührte, eine besonders große Menge Firnis hineingetan. Bis zu einem gewissen Grade zerstörte das die „Substanz" der Farbe: sie deckte nicht gut; ein zweiter Anstrich musste gemacht werden. Als Hunter das bemerkte, wurde er wütend. Es war klar - mit etwas Sorgfalt konnte man es mit einem Anstrich schaffen; er glaubte, Sawkins machte es absichtlich so. Wirklich, diese Leute schienen kein Gewissen zu haben.
Zwei Anstriche! Und er hatte im Voranschlag nur drei
berechnet!
„Crass!"
„Ja, Mr. Hunter!"
„Kommen Sie her!"
„Ja, Mr. Hunter!"
Crass eilte herbei.
„Was soll das heißen? Hab ich Ihnen nicht gesagt, das hier mit einem Anstrich zu machen? Sehen Sie sich das mal an!"
„Die Sache ist die, Mr. Hunter", sagte Crass, „hätten wir's abgewaschen..."
„Zum Teufel mit Ihrem Abwaschen!" schrie Hunter. „'s kommt daher, dass die Farbe nicht dick genug eingerührt ist. Nehmen Sie die Büchse und tun Sie 'n bisschen mehr Farbe rein, dann werden wir schon sehen, ob's geht oder nicht. Ich kann jedenfalls dafür sorgen, dass es deckt, wenn Sie's nicht können."
Crass nahm die Farbe, und, von Hunter überwacht, rührte er sie dicker ein. Dann ergriff Elend den Pinsel und wollte beweisen, dass die Arbeit mit einem Anstrich getan werden konnte. Crass und Sawkins sahen schweigend zu.
Gerade aber, als Elend beginnen wollte, bildete er sich ein, irgendwo jemand flüstern zu hören. Er legte den Pinsel nieder und schlich verstohlen nach oben, um nachzusehen, wer es war. Sowie er den Rücken gekehrt hatte, ergriff Crass eine Flasche Öl, die in der Nähe stand, und nachdem er etwa einen Viertelliter davon in die Farbe gegossen hatte, rührte er schnell um. Unmittelbar danach kehrte Elend zurück: er hatte niemand erwischt; es musste Einbildung gewesen sein. Er nahm den Pinsel und begann zu streichen. Das Ergebnis war schlimmer als bei Sawkins!
Er schmierte und kleckste einige Zeit herum, konnte es aber nicht zustande bringen. Schließlich gab er es auf.
„'s wird wohl doch zweimal gestrichen werden müssen", sagte er betrübt. „Aber 's ist mächtig schade drum."
Er weinte fast.
Die Firma war ruiniert, wenn das so weiterging.
„Machen Sie lieber weiter", sagte er, als er den Pinsel niederlegte.
Er begann, wieder im Haus umherzuwandern. Er wollte jetzt gehen, ohne aber die Leute wissen zu lassen, dass er fort war; deshalb schlich er sich aus der Hintertür, kroch um das Haus und zum Tor hinaus, stieg auf sein Rad und fuhr davon.
Niemand sah ihn gehen.
Eine Zeitlang waren die einzigen Laute, von denen die Stille unterbrochen wurde, die Geräusche, welche die Leute hei der Arbeit machten: das melodische Klingen von Bundys Kelle, das Geräusch der Hämmer und Sägen der Tischler und das gelegentliche Rücken einer Leiter.
Niemand wagte zu sprechen.
Schließlich konnte es Philpot nicht länger aushalten. Er hatte großen Durst.
Die Tür seines Zimmers hatte er offengelassen, seit Hunter gekommen war.
Er lauschte gespannt. Er war sicher - Hunter musste fort sein; er blickte über den Treppenabsatz und konnte Owen sehen, der im Vorderzimmer arbeitete. Philpot drehte eine kleine Papierkugel und warf sie nach Owen, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Der sah sich um, und Philpot begann, Zeichen zu machen; mit der einen Hand deutete er nach unten, und den Daumen der anderen stieß er in Richtung der Stadt über seine Schulter, wobei er grotesk mit den Augen zwinkerte. Owen legte es als eine Anfrage aus, ob Hunter gegangen sei. Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln, um anzudeuten, er wisse es nicht.
Philpot überquerte vorsichtig den Treppenflur, spähte verstohlen über das Geländer und lauschte mit angehaltenem Atem. ,Ist er weg oder nicht?' fragte er sich.
Auf Zehenspitzen schlich er zu Owens Zimmer, blickte sich, die Kelle in der Hand, nach rechts und links um und sah aus wie ein Schauspieler, der einen Mörder darstellt. „Glaubste, er ist weg?" fragte er in heiserem Flüsterton, als er an Owens Tür gelangt war.
„Ich weiß nicht", erwiderte Owen leise.
Philpot dachte nach. Er musste einen Schluck trinken, aber Hunter durfte ihn auf keinen Fall mit der Flasche sehen -irgendwie musste er ausfindig machen, ob Nimrod fort war oder nicht.
Endlich kam ihm eine Idee. Er wollte nach unten gehen, um noch etwas Zement heraufzuholen. Nachdem er Owen diesen Plan anvertraut hatte, schlich er leise in das Zimmer zurück, in dem er gearbeitet hatte, und ging dann geräuschvoll noch einmal über den Flur.
„Haste 'n bisschen was zum Verschmieren übrig, Frank?" fragte er mit lauter Stimme.
„Nein", antwortete Owen, „ich gebrauche nichts."
„Dann werd ich wohl runter müssen und welches holen. Soll ich dir irgendwas mit raufbringen?"
„Danke, nein", erwiderte Owen.
Philpot marschierte kühn zur Spülkammer hinunter, die Crass als Malerwerkstatt benutzte. Der war dort und mischte Farbe.
„Ich möchte 'n bisschen Zement haben", sagte Philpot und nahm sich welchen.
„Ist der Sch... kerl fort?" flüsterte Crass.
„Weiß nicht", antwortete Philpot. „Wo ist 'n sein Rad?"
„Lässt er immer draußen vor dem Tor, damit wir's nicht sehen", erwiderte Crass.
„Ich will dir was sagen", flüsterte Philpot nach einer Pause. „Gib dem Jungen 'ne leere Flasche und schick 'n zum Tor nachsehen, ob das Rad da ist. Wenn 'n Elend sieht, kann er so tun, als ob er zum Laden geht und Öl holt."
So geschah es. Bert ging zum Tor und kehrte sogleich zurück: das Rad war fort. Während sich die gute Nachricht durch das Haus verbreitete, ertönte ein Chor der Danksagung.
„Gott sei Dank", sagte einer.
„Ich hoffe, der Hund fällt hin und bricht sich sein verdammtes Genick", meinte ein anderer.
„Diese Bibelfritzen sind alle gleich; 'nen anständigen hat noch keiner nicht kennen gelernt!" rief ein dritter aus.
Kaum waren sie gewiss, dass Hunter fort war, so ließen fast alle für einige Minuten die Arbeit liegen, um ihn zu verwünschen. Dann machten sie sich wieder ans Werk, und nun, da sie von der Unruhe befreit waren, in die sie Elends Anwesenheit versetzt hatte, kamen sie besser voran. Einige zündeten ihre Pfeife an und rauchten bei der Arbeit.
Einer von diesen war der alte Jack Linden. Er war durch den Anranzer, den er erhalten hatte, aus dem Gleichgewicht geraten, und als er bemerkte, dass einige der anderen rauchten, dachte er, er wolle sich auch ein Pfeifchen genehmigen - das werde seine Nerven beruhigen. Gewöhnlich rauchte er bei der Arbeit nicht; es war gegen die Vorschrift.
Als Philpot wieder an die Arbeit ging, blieb er einen Augenblick lang bei Linden stehen, um ihm etwas zuzuflüstern, worauf dieser ihn nach oben begleitete.
Als sie in Philpots Zimmer gelangt waren, stellte der die Leiter neben den Schrank, nahm die Bierflasche herunter und reichte sie Linden mit der Bemerkung: „Nimm mal 'nen Schluck, Kumpel, dann fühlste dich gleich wieder richtig."
Während Linden hastig trank, hielt Joe draußen auf dem Treppenabsatz Wache, falls Hunter plötzlich und unerwartet von neuem auftauchte.
Als Linden wieder hinuntergegangen war, nahm Philpot, nachdem er den Rest des Biers ausgetrunken und die Flasche oben im Kamin versteckt hatte, die Arbeit wieder auf und verschmierte die Löcher und Risse in Decke und Wänden. Er musste heute Abend etwas aufzuweisen haben, sonst würde es am nächsten Morgen, wenn Elend käme, einen mächtigen Krach geben.
Owen arbeitete niedergeschlagen und mürrisch weiter. Er kam sich vor wie ein geprügelter Hund.
Er war mehr entrüstet um des alten Linden als um seiner selbst willen, und ein Gefühl der Ohnmacht und der schändlichen Erniedrigung bedrückte ihn.
Sein ganzes Leben lang war es das gleiche gewesen: pausenlose Arbeit unter ähnlichen mehr oder weniger demütigenden Bedingungen, mit keinem anderen Erfolg, als dass er gerade in der Lage war, dem Verhungern zu entgehen.
Und die Zukunft war, soweit er sehen konnte, ebenso hoffnungslos wie die Vergangenheit; dunkler noch, denn bestimmt kam, wenn er lange genug lebte, einmal die Zeit, wo er nicht mehr arbeitsfähig sein werde.
Er dachte an sein Kind. Musste es ebenfalls ein Sklave werden und sein ganzes Leben lang schuften?
Es wäre besser für den Jungen, wenn er jetzt stürbe.
Als Owen an die Zukunft seines Sohnes dachte, erhob sich in ihm ein Gefühl des Hasses und der Wut gegen die Mehrzahl seiner Arbeitskollegen.
Sie waren der Feind. Sie, die sich nicht nur ruhig, wie Schlachtvieh, in die bestehenden Verhältnisse ergaben, sondern diese auch noch verteidigten und jeden Vorschlag, sie zu verändern, ablehnten und lächerlich machten.
Sie waren die eigentlichen Unterdrücker - diese Leute, die von sich als „Unsresgleichen" sprachen und, nachdem sie ihr ganzes Leben in Armut und Erniedrigung verbracht hatten, der Meinung waren, was gut genug für sie gewesen, sei auch gut genug für die Kinder, die sie in die Welt gesetzt hatten.
Er hasste und verachtete sie, weil sie ruhig zusahen, wie ihre Kinder zu lebenslänglicher Zwangsarbeit und Armut verurteilt wurden, und weil sie sich bewusst weigerten,
irgendeine Anstrengung zu unternehmen, um ihnen bessere Lebensbedingungen zu schaffen, als sie selbst hatten.
Weil sie dem Schicksal ihrer Kinder gleichgültig gegenüberstanden, war er nicht in der Lage, ein natürliches und menschliches Leben für sein Kind zu sichern. Ihre Apathie oder aktive Gegnerschaft war es, die es unmöglich machte, eine bessere Gesellschaftsordnung einzuführen, unter der diejenigen, die ihren vollen Anteil an der in der Welt vollbrachten Arbeit leisteten, geehrt und belohnt wurden. Anstatt zu helfen, das zu erreichen, erniedrigten sie sich, krochen vor ihren Unterdrückern, zwangen und lehrten sie ihre Kinder, das gleiche zu tun. Sie waren die Leute, die in Wirklichkeit für den Fortbestand des gegenwärtigen Systems verantwortlich waren.
Owen lachte bitter in sich hinein. Was war es doch für ein komisches System!
Diejenigen, die arbeiteten, wurden mit Verachtung angesehen und jedem nur erdenklichen Schimpf unterworfen. Fast alles, was sie produzierten, wurde ihnen genommen und von den Leuten genossen, die nichts taten. Und dann verneigten sich die Arbeiter und krochen vor denen, die ihnen die Früchte ihrer Arbeit geraubt hatten, und waren ihnen kindisch dankbar, weil sie ihnen überhaupt etwas gelassen hatten.
Kein Wunder, dass die Reichen sie verachteten und als Dreck ansahen. Sie waren verächtlich. Sie waren Dreck. Sie gaben es zu und waren stolz auf diese Rolle.
Während diese Gedanken in Owens Hirn tobten, arbeiteten seine Kollegen unten geduldig weiter. Die meisten hatten den Gedanken an Hunter schon längst verscheucht. Sie nahmen die Dinge nicht so ernst wie Owen. Sie schmeichelten sich, sie seien zu vernünftig dazu. Man konnte es ja nicht ändern. Man musste die Sache mit Humor tragen. Schließlich war es ja nur lebenslänglich! Man musste die Dinge eben von ihrer besten Seite ansehen und versuchen, auf seine Kosten zu kommen, wo sich nur eine Möglichkeit bot.
Nun begann Harlow zu singen. Er hatte eine schöne Stimme, und er sang ein schönes Lied; aber seine Kollegen hatten gerade jetzt weder Sinn für das eine noch für das
andere. Sein Gesang gab das Signal zu einem Sturm entrüsteter Proteste und zu einem Pfeifkonzert.
„Halt um Himmels willen die Klappe!"
„Hör auf mit dem verdammten Gebrüll!"
Und so weiter. Harlow schwieg.
„Was macht 'n der Feind?" fragte Easton nach einer Weile, ohne sich an irgend jemand im besonderen zu wenden.
„Weiß nicht", erwiderte Bundy, „'s muss ungefähr halb fünf sein. Frag Slyme; der hat 'ne Uhr."
Es war Viertel nach vier.
„'s wird jetzt schon früh dunkel", sagte Easton.
„Ja", antwortete Bundy, „'s ist den ganzen Tag über sehr trübe gewesen. Ich glaub, 's wird regnen. Hör nur den Wind."
„Hoffentlich nicht", meinte Easton. „Das würde 'n nasses Hemd auf dem Nachhauseweg bedeuten."
Er rief dem alten Jack Linden zu, der noch immer an der Eingangstür arbeitete: „Regnet's, Jack?"
Der alte Jack, die Pfeife noch im Mund, drehte sich, um nach dem Wetter zu sehen. Es regnete, aber Linden sah nicht die großen Tropfen, die schwer auf den Boden klatschten. Er sah nur Hunter, der am Tor stand und ihn beobachtete. Einige Sekunden lang sahen die beiden Männer einander schweigend an. Linden war vor Furcht wie gelähmt. Er riss sich zusammen und nahm hastig die Pfeife aus dem Mund - aber es war bereits zu spät.
Elend stolzierte herbei.
„Ich bezahl Sie nicht fürs Rauchen", sagte er laut. „Füllen Sie Ihren Lohnzettel aus, bringen Sie ihn zum Büro und holen Sie sich Ihr Geld ab. Ich hab genug von Ihnen!"
Jack unternahm keinen Versuch, sich zu verteidigen. Er wusste, es hatte keinen Zweck. Schweigend legte er die Geräte beiseite, mit denen er gearbeitet hatte, ging in den Raum, wo er seine Werkzeugtasche und sein Jackett gelassen hatte, zog sich die Schürze und die weiße Jacke aus, faltete sie zusammen und legte sie mit dem Werkzeug, das er benutzt hatte - einen Spachtel und einen Schaber - in die Werkzeugtasche, zog sich den Rock an und ging, die Tasche über die Schulter gehängt, aus dem Haus.
Ohne noch mit sonst jemand zu sprechen, ging Hunter nun eilig durch das Gebäude und stellte fest, welche Fortschritte jeder der Leute während der Abwesenheit des Meisters gemacht hatte. Dann fuhr er davon, denn er wollte rechtzeitig genug im Büro sein, um Linden sein Geld auszuzahlen.
Es war jetzt sehr kalt und finster im Haus, und da die Gasleitung noch nicht gelegt worden war, verteilte Crass eine Anzahl Kerzen an die Leute, die schweigend arbeiteten, jeder mit seinen eigenen trüben Gedanken beschäftigt. Wer war wohl der nächste?
Draußen türmten sich dunkle, bleifarbene Wolkenmassen drohend am winddurchbrausten Himmel. Laut heulte der Sturm um das altmodische Haus, und die Fenster klapperten ungleichmäßig. Es regnete in Strömen.
Sie sagten, das bedeute für sie, auf dem Heimweg bis auf die Haut durchnässt zu werden, aber trotzdem, Gott sei Dank: es war beinahe fünf Uhr!

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