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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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54. Kapitel Barrington findet eine Stellung

Das Gefühl des Ekels, den Barrington im Laufe der Wahl empfunden hatte, wurde durch deren Endergebnis noch verstärkt. Die blinde, dumme, begeisterte Bewunderung, welche die Menschenfreunde für die Leute zeigten, von denen sie ausgebeutet und beraubt wurden, ihre außerordentliche Teilnahmslosigkeit ihren eigenen Interessen gegenüber, die geduldige, rückgratlose Weise, auf die sie ihre Leiden hinnahmen und sich geduldig damit zufriedengaben, inmitten des Reichtums, den sie schaffen halfen, in Armut zu leben, ihre hartherzige Gleichgültigkeit dem Schicksal ihrer Kinder gegenüber und der wütende Hass, den sie jedem entgegenbrachten, der es wagte, die Möglichkeit anzudeuten, es könne Besseres für sie geben, zwangen ihm den Gedanken auf, die Hoffnungen, die er hegte, ließen sich unmöglich in die Tat umsetzen. Immer wieder kamen ihm die Worte des abtrünnigen Sozialisten in den Sinn:
„Sie können ja meinetwegen ein Christus sein, aber was mich betrifft - ich bin fertig damit. In Zukunft beabsichtige ich, für mich selbst zu sorgen. Und was diese Leute hier angeht - sie stimmen, für was sie wollen, sie erhalten, wofür sie gestimmt haben, und wahrhaftig - sie verdienen nichts Besseres! Sie werden mit den Peitschen geschlagen, die sie sich selbst ausgewählt haben, und wenn es nach mir ginge, züchtigte man sie mit Skorpionen! Für sie bedeutet das gegenwärtige System freudlose Schufterei, halbes Verhungern, zerlumpte Kleidung und vorzeitigen Tod. Für all das stimmen sie, und das stützen sie. Nun, so sollen sie eben haben, wofür sie stimmen - sollen sie doch schuften -, sollen sie doch hungern!"
Diese Worte klangen ihm immer wieder in den Ohren, während er zu Beginn eines schönen Abends, einige Tage
vor Weihnachten, durch die belebten Straßen schlenderte. Alle Läden waren hell erleuchtet, um ihre Weihnachtsware anzubieten, und auf den Bürgersteigen, ja sogar auf den Fahrwegen drängten sich die Schaulustigen.
Barrington interessierte sich besonders für die Gruppen schäbig gekleideter Männer, Frauen und Kinder, die sich vor den Geflügel- und Fleischerläden auf dem Fahrweg ansammelten und das Fleisch sowie die dichten Reihen mit farbigen Bändern und Rosetten geschmückter Puten und Gänse bestaunten. Er wusste, hierher zu kommen und diese Dinge zu betrachten, war die einzige Weise, auf die viele dieser armen Leute teil an all dem hatten, und er wunderte sich sehr über ihre großartige Geduld und ihre verächtliche Resignation. Was ihm jedoch am meisten auffiel, war das Aussehen vieler Frauen, offenbar Arbeiterfrauen: ihre verschossenen, schlecht sitzenden Kleider und der müde, traurige Ausdruck ihrer blassen, verhärmten Gesichter. Einige waren allein, andere in Begleitung kleiner Kinder, die neben ihnen einhertrabten und sich vertrauensvoll an die Hand der Mutter klammerten. Der Anblick dieser armen Kleinen, ihre völlige Hilflosigkeit und Abhängigkeit, ihre geflickte, unschöne Kleidung, ihre zerrissenen Stiefel und der verlangende Ausdruck auf ihren traurigen Gesichtchen, während sie in die Schaufenster der Spielwarenläden blickten, bereiteten seinem Herzen einen geradezu physischen Schmerz und füllten seine Augen mit Tränen. Er wusste, dass diese Kinder - die jederlei Freude und alles, was das Leben teuer macht, entbehrten - vom Anblick dieser Dinge gequält wurden, die dort so grausam vor ihren Augen ausgestellt waren, die sie aber weder berühren noch besitzen durften, und wie einst Joseph, jammerten ihn seine jüngeren Brüder.
Er kam sich wie ein Verbrecher vor, weil er inmitten all dieser Not und all dieses Unglücks warm gekleidet und gut ernährt war, und er errötete vor Scham, weil er einen Augenblick lang in seiner Ergebenheit für die edelste Sache geschwankt hatte, für die ein Mensch die Ehre haben konnte zu kämpfen: aufzurichten die Trostlosen, die Unterdrückten. Er gelangte nun zu einem großen Spielwarengeschäft,
vor dem einige Kinder standen und den Inhalt des Schaufensters bewunderten. Er erkannte ein paar von ihnen und blieb stehen, um sie zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen. Sie bemerkten nicht, dass er hinter ihnen stand, während sie vor dem Fenster hin und her liefen, und als er ihnen zusah, erinnerte es ihn daran, wie gefangene Tiere hinter den Gittern ihres Käfigs auf und ab schreiten. Die Kinder wanderten wiederholt von einem Ende des Schaufensters zum anderen, die kleinen Hände gegen die undurchdringbare Glasscheibe gepresst; sie suchten sich die Spielsachen aus, die sie sich wünschten, und zeigten sie einander.
„Das ist meiner!" rief Charley Linden und deutete begeistert auf einen großen, stabil gebauten Wagen. „Wenn ich den hätte, würd ich Freddie drin fahren lassen und 'ne Menge Holz zum Feuern mit nach Haus bringen, und Feuerwehr könnten wir auch spielen."
„Ich möcht lieber die Eisenbahn da haben", sagte Frankie Owen. 'n richtiger Tunnel ist dabei, und im Tender ist richtige Kohle, und 'n Bahnhof ist auch da und Signale und 'ne Drehbühne und 'ne rote Laterne, die man anzündet, wenn Gefahr auf der Strecke ist."
„Mir gehört die Puppe hier - nicht die größte, die hier in Rosa, mit dem Kleid, das man ausziehen kann", sagte Elsie, „und das Teeservice da; und für Mutter die Nadelbüchse hier."
Der kleine Freddie hatte Elsie losgelassen, an der er sich gewöhnlich festhielt, klatschte in die Händchen und lachte vor Begeisterung und vor Begierde. „Hottehü!" rief er eifrig. „Hottehü! Ssönes Hottehü! Freddie Hottehü harn!"
„'s hat aber keinen Zweck, sie noch länger anzugucken", fuhr Elsie mit einem Seufzer fort, während sie Freddies Hand nahm, um ihn fortzuführen. „'s hat keinen Zweck, sie noch länger anzugucken; unsereins bekommt so was Schönes ja doch nicht."
Diese Bemerkung bewirkte, dass Frankie und Charley in die raue Wirklichkeit zurückgerufen wurden; sie wandten sich zögernd von dem Schaufenster ab und wollten Elsie folgen; Freddie aber hatte seine Lektion noch nicht gelernt - er lebte noch nicht lange genug, um zu begreifen, dass die guten Dinge der Erde nicht für seinesgleichen bestimmt waren; als Elsie versuchte, ihn fortzuziehen, schob er daher die Unterlippe vor, begann zu weinen und wiederholte immerzu, er möchte ein Hottehü haben. Die anderen Kinder drängten sich um ihn und versuchten, ihn fortzulocken und zu trösten, indem sie ihm erzählten, niemand dürfe schon jetzt etwas aus den Schaufenstern haben - erst zu Weihnachten -, und gewiss werde der Weihnachtsmann ihm dann ein Hottehü bringen; diese Argumente machten jedoch auf Freddie keinen Eindruck, sondern unter Tränen fuhr er fort, hartnäckig darauf zu bestehen, dass er sogleich bedacht werde.
Während sie so beschäftigt waren, erblickten sie Barrington und begrüßten ihn mit offensichtlicher Freude, die aus der Erinnerung an gewisse, hin und wieder von ihm erhaltene Geschenke von Pennies und Kuchen stammte.
„Guten Tag, Mr. Barrington", sagten die beiden Jungen wie aus einem Munde.
„Guten Tag", erwiderte Barrington, während er dem Kleinen die Wange tätschelte. „Was ist denn hier los? Weshalb weint denn Freddie?"
„Er will das Pferd da haben, Onkel, das mit der richtigen Mähne drauf", sagte Charley und lächelte nachsichtig wie ein Erwachsener, der sich der Lächerlichkeit dieses Verlangens bewusst war.
„Freddie Hottehü ham!" wiederholte das Kind, fasste Barrington an der Hand und kehrte zum Schaufenster zurück. „Ssönes Hottehü!"
„Sagen Sie ihm, der Weihnachtsmann tät's ihm zu Weihnachten bringen", flüsterte Elsie. „Vielleicht glaubt er's Ihnen, und dann ist er zufrieden, und nach 'nem Weilchen hat er's bestimmt schon vergessen."
„Sind Sie immer noch arbeitslos, Mr.Barrington?" fragte Frankie.
„Nein", erwiderte Barrington langsam. „Ich habe endlich etwas zu tun."
„Das ist aber mal fein, was?" bemerkte Charley.
„Ja", sagte Barrington. „Und was meint ihr wohl, bei wem ich arbeite?"
„Bei wem denn?"
„Beim Weihnachtsmann."
„Beim Weihnachtsmann!" kam das Echo von den Kindern, und sie rissen die Augen auf, so weit sie konnten.
„Jawohl", fuhr Barrington ernsthaft fort. „Wisst ihr, er ist jetzt schon ein sehr alter Mann, so alt, dass er seine ganze Arbeit allein nicht schaffen kann. Letztes Jahr ist er so müde geworden, dass er gar nicht überallhin zu allen Kindern gekommen ist, denen er Geschenke hat geben wollen, und deshalb haben eine ganze Menge von ihnen nichts bekommen. Daher hat er mich dieses Jahr angestellt, um ihm zu helfen. Er hat mir Geld und eine Liste mit den Namen der Kinder gegeben, und hinter den Namen sind die Spielsachen geschrieben, die sie bekommen sollen. Meine Arbeit ist's, die Sachen zu kaufen und sie den Jungen und Mädchen zu geben, die auf der Liste stehen."
Mit angehaltenem Atem lauschten die Kinder seiner Erzählung. So unglaublich diese Geschichte schien, Barrington war dabei so ernst, dass sie beinahe gezwungen waren, daran zu glauben.
„Wirklich und wahrhaftig, oder machen Sie bloß Spaß?" fragte Frankie schließlich und sprach beinahe flüsternd. Elsie und Charley bewahrten ehrfürchtiges Schweigen, während Freddie mit den Handflächen auf die Schaufensterscheibe patschte.
„Wirklich und wahrhaftig", erwiderte Barrington, ohne zu erröten, während er sein Notizbuch hervorholte und dessen Blätter umwandte. „Ich hab die Liste hier; vielleicht stehen eure Namen auch drauf."
Die drei Kinder wurden blass, und das Herz klopfte ihnen zum Zerspringen, während sie mit weit aufgerissenen Augen v/arteten, was nun folgen werde.
„Wollen mal sehen", fuhr Barrington fort und sah die Blätter des Buches durch. „Na gewiss, hier stehen sie ja! Elsie Linden: Eine Puppe mit Kleidern, die man ausziehen kann, ein Teeservice, eine Nadelbüchse. Freddie Easton: Ein Pferd mit richtiger Mähne. Charley Linden: Ein vierrädriger Wagen, mit Lebensmitteln beladen. Frankie Owen: Eine Eisenbahn mit Tunnel, Bahnhof, Wagen mit richtiger Kohle für Lokomotive, Signalen, roter Lampe und Drehbühne."
Barrington schloss das Buch. „Ihr könnt eure Sachen eigentlich ebenso gut gleich bekommen", fuhr er in sachlichem Ton fort. „Wir kaufen sie hier; das spart mir eine Menge Arbeit. Dann brauche ich mir nicht die Mühe zu machen, sie zu euch nach Hause zu bringen. Ein Glück, dass ich euch getroffen habe, was?"
Den Kindern stockte vor Aufregung der Atem; sie brachten jedoch hervor, es sei - ein mächtiges Glück.
Während sie ihm in den Laden folgten, war Freddie der einzige der vier, der sich in einem annähernd normalen Zustand befand. Alle übrigen waren halb betäubt. Frankie fürchtete, er sei in Wirklichkeit überhaupt nicht wach. Es konnte ja gar nicht wahr sein, es musste ein Traum sein.
Außer der Mähne hatte das Pferd auch vier Räder. Sie ließen es nicht einwickeln, sondern banden eine Schnur daran und übergaben es seinem neuen Eigentümer. Die älteren Kinder nahmen kaum ins Bewusstsein auf, was in dem Laden geschah; sie bemerkten, dass Barrington mit dem Verkäufer redete, hörten aber nicht, was gesprochen wurde - die Laute schienen weit entfernt und unwirklich zu sein.
Der Verkäufer packte die Puppe, das Teeservice und die Nadelbüchse zusammen in ein Päckchen und übergab es Elsie. Die Eisenbahn in einem festen Karton, wurde gleichfalls in braunes Papier gewickelt, und Frankie zersprang beinahe das Herz, als der Mann ihm das Paket in den Arm legte.
Als sie aus dem Spielwarenladen kamen, sagten sie Frankie gute Nacht; der ging davon, trug vorsichtig sein Paket und hatte das Gefühl, er schreite auf Luft. Die übrigen gingen in einen in der Nähe gelegenen Lebensmittelladen, kauften dort Vorräte und packten sie in den Wagen.
Als Barrington die Liste noch einmal durchsah, um ganz sicher zu sein, nichts vergessen zu haben, stellte er fest, dass der Weihnachtsmann für Elsie und Charley noch je ein Paar Stiefel aufgeschrieben hatte, und während sie die kauften, war zu sehen, dass ihre Strümpfe ganz zerrissen und voller Löcher waren; deshalb gingen sie in einen Kurzwarenladen und kauften auch noch Strümpfe. Barrington meinte, die ständen zwar nicht auf der Liste, er sei aber sicher, dass der Weihnachtsmann nichts dagegen habe; wahrscheinlich habe er sie ihnen geben wollen und nur vergessen, sie aufzuschreiben.

 

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