1. Kapitel Ein fürstliches Bankett Eine philosophische Auseinandersetzung. Der geheimnisvolle Fremde. „Nie sollen Briten Sklaven sein".
Das Haus wurde „Die Höhle" genannt. Es war ein großes, altmodisches, dreistöckiges Gebäude und stand auf einem etwa anderthalb Morgen großen Grundstück ungefähr eine Meile außerhalb der Stadt Mugsborough. Es befand sich fast zweihundert Meter abseits von der Hauptstraße, und man gelangte über eine Nebenstraße dorthin, einem auf beiden Seiten von einer Hecke aus Weißdornbäumen und Brombeerbüschen eingefassten Weg. Das Haus war viele Jahre lang unbewohnt gewesen, und jetzt wurde es von der Firma Rushton & Co., Bau- und Malerarbeiten, für den neuen Besitzer umgebaut und renoviert.
Etwa fünfundzwanzig Mann waren dort beschäftigt -Zimmerleute, Klempner, Stuckateure, Maurer, Maler und ein paar ungelernte Arbeiter. Sie erneuerten die FußÂböden, wo die alten verfault waren, und im Obergeschoß machten säe aus zwei Zimmern eins, indem sie die Zwischenwand abtrugen und einen Eisenträger einzogen. Einige Fenstereinfassungen und Schiebefenster waren derartig verwittert, dass sie ersetzt werden mussten. Etliche Decken und Wände waren so rissig und abgebröckelt, dass man sie neu verputzen musste. Öffnungen wurden durch die Wände gebrochen und Türen eingesetzt, wo vorher keine gewesen waren. Alte, zersprungene Schornsteine wurden abgenommen, neue aufgesetzt und an ihrem Platz befestigt. Die ganze alte Schlämmkreide musste von den
Decken gewaschen und alle alten Tapeten von den Wänden gekratzt werden, ehe das Haus neu gestrichen und tapeziert werden konnte. Die Luft war erfüllt vom Klang des Hämmerns und Sägens, vom Klirren der Maurerkellen, vom Gerassel der Eimer, vom Klatschen der Wasserbürsten und vom Kratzen der Spachtel, die zum Entfernen der alten Tapeten benutzt wurden. Außer mit diesen Geräuschen war die Luft auch dicht mit Staub und Krankheitskeimen durchsetzt, mit pulvrigem Mörtel, mit Kalk, Gips und all dem Schmutz, der sich jahrelang in dem alten Haus angesammelt hatte. Kurz, von den Leuten, die dort beschäftigt waren, hätte man sagen können, sie lebten in einem Paradies der Schutzzollpolitik - sie hatten „reichlich Arbeit".
Um zwölf Uhr ließ Bob Crass - der Vorarbeiter der Maler - einen langen Pfiff auf einer Trillerpfeife ertönen, und alle Arbeiter versammelten sich in der Küche, wo Bert, der Lehrling, schon den Tee gekocht und in dem großen, verzinkten Eisenblecheimer mitten auf dem Boden bereitgestellt hatte. Neben dem Eimer stand eine Anzahl alter Marmeladengläser, Becher, abgestoßene Teetassen und ein oder zwei leere Kondensmilchbüchsen. Jeder Arbeiter auf dem Bau zahlte Bert drei Pence die Woche für Tee und Zucker - Milch hatten sie nicht -, und obwohl sie zum Frühstück und zum Mittagessen Tee tranken, waren sie allgemein der Ansicht, der Junge verdiene ein Vermögen bei dem Geschäft.
Ein Brett auf zwei Trittleitern, die in etwa eindreiviertel Meter Entfernung parallel zueinander vor dem Feuer auf die Seite gelegt waren, sowie einige umgestülpte Eimer und Schubladen aus dem Küchenschrank bildeten die Sitzgelegenheiten. Der Fußboden des Raumes war mit allem möglichen Abfall, Staub, Schmutz, alten Mörtel- und Gipsbrocken bedeckt. Ein Sack Zement lehnte gegen eine Wand, und in einer Ecke stand ein Eimer mit abgestandener Schlämmkreide.
In der Reihenfolge, wie die Männer hereinkamen, füllte jeder von ihnen seine Tasse, sein Marmeladenglas oder seine Kondensmilchbüchse mit Tee aus dem dampfenden Eimer, ehe er sich hinsetzte. Die meisten hatten ihr Essen
in einem kleinen Weidenkörbchen mitgebracht, das sie auf dem Schoß hielten oder neben sich auf den Boden stellten.
Zuerst versuchte niemand, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, und nichts war zu hören als die Geräusche des Essens und Trinkens und das Brutzeln des Bücklings, den Easton, einer der Maler, am Ende eines spitzen Stockes über dem Feuer briet.
„Ich halt nicht viel von diesem Dreckstee", bemerkte plötzlich Sawkins, einer der ungelernten Arbeiter.
„Na, eigentlich müsst er in Ordnung sein", gab Bert zurück, „kocht ja schon seit halber zwölf."
Bert White war ein schwächlich aussehender, linkischer, blasser Junge, fünfzehn Jahre alt und etwa ein Meter fünfundvierzig groß. Seine Hosen gehörten zu einem Anzug, den er früher einmal sonntags getragen hatte; aber das war schon so lange her, dass sie ihm zu klein geworden waren, ziemlich eng saßen und kaum bis zu den Rändern seiner geflickten, rissigen, genagelten Stiefel reichten. Auf den Knien und dem unteren Teil der Hosenbeine saßen viereckige Flicken, die um mehrere Schattierungen dunkler als der ursprüngliche Stoff der Hose und jetzt völlig zerfetzt waren. Sein Rock war ihm etliche Nummern zu groß und hing um seinen Körper wie ein schmutziger, zerlumpter Sack. Bert bot einen kläglichen Anblick der Vernachlässigung und des Elends, wie er dort auf dem umgestülpten Eimer saß und sein Käsebrot mit Fingern aß, die, ganz wie seine Kleidung, mit Farbe und Schmutz beschmiert waren.
„Na, dann haste eben nicht genug Tee reingetan, oder du hast den von gestern noch mal benutzt", fuhr Sawkins fort.
„Warum, zum Teufel, lässt du denn den Jungen nicht in Ruh?" fragte Harlow, ein anderer Maler. „Wenn dir der Tee nicht passt, brauchst du 'n ja nicht zu trinken. Ich hab die Nase voll, jeden Tag dein Gemecker darüber zu hören."
„Du hast gut reden, ich brauch 'n nicht zu trinken", erwiderte Sawkins. „Aber ich hab doch meinen Teil bezahlt und hab ein Recht, meine Meinung zu äußern. Meiner Ansicht nach nimmt er die Hälfte von dem Geld, was wir ihm
geben, für Schmökerhefte: immer hat er eins in der Hand, und damit das bisschen Tee, was er kauft, lange vorhält, hebt er die ausgelaugten Blätter auf und kocht sie Tag für Tag immer wieder auf."
„Nö, mach ich nicht!" sagte Bert, der den Tränen nahe war. „Ich kauf die Sachen überhaupt nicht. Ich geb alles Geld, was ich kriege, Crass, und der kauft sie. So!"
Bei dieser Enthüllung wechselten die Leute verstohlen vielsagende Blicke, und Crass, der Vorarbeiter, wurde sehr rot.
„Behalt lieber deine lausigen drei Pence und mach dir ab nächste Woche deinen Tee selber", sagte er, zu Sawkins gewandt, „dann wer'n wir vielleicht bei den Mahlzeiten 'n bisschen Ruhe haben."
„Und mich brauchste auch nicht mehr bitten, für dich Bücklinge oder Speckscheiben zu braten", setzte Bert weinerlich hinzu, „ich mach's nicht."
Sawkins war bei keinem beliebt. Als er vor etwa zwölf Monaten bei Rushton 8c Co. zu arbeiten begann, war er ein einfacher, ungelernter Arbeiter; aber seitdem hatte er ein paar Kenntnisse des Gewerbes aufgeschnappt und betrachtete sich, nachdem er sich mit einem Spachtel bewaffnet und eine weiße Jacke angezogen hatte, als ausgelernter Maler. Die anderen hatten vielleicht nichts dagegen, dass er versuchte, seine Lage zu bessern, aber sein Lohn - fünf Pence die Stunde - war um zwei Pence die Stunde niedriger als der übliche Satz, und die Folge war, dass in flauen Zeiten oft ein besserer Arbeiter „feiern" musste, während Sawkins gehalten wurde. Außerdem sah man ihn allgemein als einen Schnüffler an, der dem Vorarbeiter und dem „Alten" allerlei Dinge zutrug. Gewöhnlich wurde jeder neueingestellte Arbeiter von seinen neuen Kollegen gewarnt, „den Sch...kerl Sawkins irgendwas sehen zu lassen".
Das unangenehme Schweigen, das jetzt folgte, wurde endlich von einem der Männer mit einer unanständigen Geschichte unterbrochen, und bei dem Gelächter und dem Applaus, die darauf folgten, geriet der Zwischenfall mit dem Tee in Vergessenheit.
„Wie haste'n gestern abgeschnitten?" fragte Crass Bundy,
den Stuckateur, der eingehend die Sportrubrik des „Täglichen Verdunklers" studierte.
„Kein Glück", antwortete Bundy trübe. „Ich hatte im ersten Rennen einen Schilling Sieg und Platz auf Stockwell stehen, aber er ist vorm Start zurückgezogen worden."
Das gab Anlass zu einer Unterhaltung zwischen Crass, Bundy und ein, zwei anderen über die Aussichten verschiedener Pferde bei den Rennen des morgigen Tages. Es war Freitag, und niemand hatte viel Geld; daher wurde auf Bundys Vorschlag ein Syndikat gebildet, dem jedes Mitglied drei Pence beisteuerte, um auf einen vom bekannten Hauptmann Trüger im „Verdunkler" gegebenen „todsicheren" Tipp zu setzen. Einer von denen, die dem Syndikat nicht beitraten, war Frank Owen, der wie gewöhnlich in eine Zeitung vertieft war. Er wurde allgemein als ein wenig verdreht betrachtet, denn man war der Ansicht, etwas müsse nicht in Ordnung sein bei einem Menschen, der sich nicht für Rennen und Fußball interessierte und immer eine Menge dummes Zeug über Religion und Politik redete. Wäre er nicht allgemein als außergewöhnlich guter Arbeiter anerkannt worden, so hätten sie wohl nicht gezögert, ihn für verrückt zu halten. Dieser Mann war etwa zweiunddreißig Jahre alt und von mittlerer Größe, aber so schlank gebaut, dass er größer schien. Sein glattrasiertes Gesicht hatte feine Züge, aber es war bedenklich bleich, und eine unnatürliche Röte färbte die schmalen Wangen.
Die Haltung seiner Kollegen war bis zu einem gewissen Grade berechtigt, denn Owen hatte höchst ungewöhnliche und unorthodoxe Ansichten über die erwähnten Themen.
Die Angelegenheiten der Welt werden entsprechend den herkömmlichen Ansichten geregelt. [Stimmten die Gedanken eines Menschen mit diesen nicht überein, so entdeckte er das bald selbst. Owen sah, dass in der Welt eine kleine Klasse von Leuten] einen großen Überfluss, ein Übermaß dessen besaß, was durch Arbeit geschaffen wird. Er sah auch, dass eine sehr große Anzahl - tatsächlich die Mehrzahl der Menschen - am Rande der Not vegetierte und dass ein kleinerer, aber immer noch sehr großer Teil von der Wiege bis zum Grabe ein Leben des halben Verhungerns lebte, während eine noch kleinere, aber noch immer große Anzahl tatsächlich Hungers starb oder, von der Not zur Verzweiflung getrieben, sich und ihren Kindern das Leben nahm, um ihrem Elend ein Ende zu machen. Und das Merkwürdigste von allem war - seiner Meinung nach -, dass die Leute, die sich eines Überflusses der durch die Arbeit geschaffenen Dinge erfreuten, diejenigen waren, die nichts taten, und dass die anderen, die in Not lebten oder Hungers starben, die Menschen waren, die arbeiteten. Und da er all dies sah, dachte er, es sei unrecht; das System, das solche Ergebnisse hervorbrachte, tauge nichts und müsse geändert werden. Und er hatte die Schriften der Menschen, die meinten, sie wüssten, wie das zu geschehen habe, ausfindig gemacht und eifrig gelesen.
Weil er die Gewohnheit hatte, von diesen Dingen zu sprechen, waren seine Kollegen zu dem Schluss gekommen, wahrscheinlich sei etwas in seinem Oberstübchen nicht in Ordnung.
Als alle Mitglieder [des Tipsyndikats] Bundy ihren Beitrag übergeben hatten, ging der hinaus, um die Angelegenheit mit dem Buchmacher ins reine zu bringen, und als er fort war, eignete sich Easton die von Bundy weggeworfene Nummer des „Verdunklers" an und arbeitete sich mühsam durch eine sorgfältig frisierte Statistik über Freihandel und Schutzzölle hindurch. Mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund verschlang Bert den Inhalt eines Lesehefts namens „Chronik des Verbrechens". Ned Dawson, ein armer Teufel, der vier Pence die Stunde erhielt, um Bundy, den Maurern oder wer sonst immer ihn brauchte als ungelernter Arbeiter zur Hand zu gehen, legte sich in eine Ecke des Raumes auf den schmutzigen Boden und schlief ein, nachdem er seinen Rock als Kissen zusammengerollt hatte. Sawkins streckte sich in der gleichen Absicht in ganzer Länge auf der Anrichte aus. Einer, der dem Tipsyndikat ebenfalls nicht angehörte, war Barrington, ein ungelernter Arbeiter, der, als er mit dem Essen fertig war, die Tasse, die er für seinen Tee mitgebracht hatte, in seinen Frühstückskorb zurücklegte und diesen, nachdem er ihn wieder verschlossen hatte, auf den Kaminsims stellte. Dann holte er eine alte Bruyèrepfeife hervor, füllte sie langsam und rauchte schweigend.
Einige Zeit zuvor hatte die Firma Arbeiten für einen reichen Herrn ausgeführt, der in einiger Entfernung von Mugsborough auf dem Lande lebte. Er hatte auch Grundbesitz in der Stadt, und es wurde allgemein berichtet, er habe seinen Einfluss bei Rushton geltend gemacht, dass dieser Barrington einstellte. Unter den Arbeitern wurde gemunkelt, der junge Mann sei ein entfernter Verwandter dieses Herrn; er habe sich auf irgendeine Weise mit Schande bedeckt, und seine Familie habe sich von ihm losgesagt. Man nahm an, dass Rushton ihn eingestellt hatte, um sich bei seinem reichen Kunden beliebt zu machen, von dem er weitere Aufträge zu erhalten hoffte. Was auch immer die Erklärung für das Geheimnis sein mochte, Tatsache blieb, dass Barrington, der von der Arbeit nur so viel verstand, wie er seit seiner Einstellung gelernt hatte, als ungelernter Maler zum üblichen Lohn - fünf Pence die Stunde - beschäftigt wurde.
Er war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und ein gutes Stück größer als die Mehrzahl der übrigen, ungefähr ein Meter achtundsiebzig groß und schlank, aber gut und kräftig gebaut. Er schien sehr begierig zu sein, alles, was es nur gab, über den Beruf zu lernen, und obwohl von ziemlich zurückhaltender Art, war es ihm doch gelungen, sich bei seinen Arbeitskollegen recht beliebt zu machen. Er sprach selten, außer um eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten, und es war schwer, ihn in eine Unterhaltung zu ziehen. Wie gerade eben, rauchte er gewöhnlich zur Essenszeit, scheinbar in Gedanken versunken und ohne sich seiner Umgebung bewusst zu sein.
Die meisten der anderen zündeten ebenfalls ihre Pfeife an, und eine flüchtige Unterhaltung entspann sich.
„Ist der Herr, der das Haus hier gekauft hat, 'n Verwandter von Sweater, dem Tuchhändler?" fragte Payne, der Vorarbeiter der Tischler.
„Das ist derselbige", antwortete Crass. „War der nicht Mitglied vom Stadtrat oder so was Ähnliches?"
„Ist schon seit Jahren im Stadtrat", antwortete Crass, »und ist es immer noch. Dies Jahr ist er Bürgermeister. Ist schon 'n paar Mal Bürgermeister gewesen."
„Warte mal", sagte Payne nachdenklich, „er hat dem ollen Schinder seine Schwester geheiratet, nicht? Weißt doch, wen ich meine, den Gemüsehändler Schinder."
„Ja, ich glaube", meinte Crass.
„Nicht Schinder seine Schwester", fiel der alte Jack Linden ein, „seine Nichte. Ich weiß es, weil ich mich noch erinnere, dass ich in ihrem Haus gearbeitet hab, wie sie grad geheiratet hatten, vor ungefähr zehn Jahren."
„Ach, richtig, jetzt fällt's mir ein", sagte Payne, „sie hat doch früher eine von Schinders Filialen geleitet, nicht?"
„Jawoll", erwiderte Linden, „ich kann mich noch gut drauf besinnen, weil's damals viel Gerede darüber gab. Nach allem, was man hörte, war der gute Sweater 'n ziemlicher Draufgänger - niemand hätte je geglaubt, er würde sich überhaupt verheiraten, 's liefen 'n paar ulkige Geschichten um über verschiedene junge Frauen, die bei ihm arbeiteten."
Nachdem diese wichtige Angelegenheit geklärt war, folgte ein kurzes Schweigen, das bald von Harlow unterbrochen wurde.
„Komischer Name für 'n Haus, was?" sagte er. „,Die Höhle'. Möcht wissen, wie sie auf so 'nen Namen gekommen sind."
„Heutzutage nehmen sie alle möglichen sonderbaren Namen", meinte der alte Jack Linden.
„Meistens hat's aber irgend'nen Sinn", bemerkte Payne. „Zum Beispiel, wenn einer auf 'nen Gewinner gesetzt hat und 'nen Haufen Geld eingestrichen hat, nennt er sein Haus vielleicht ,Haus Epsom' oder ,Villa Newmarket'."
„Oder manchmal steht 'ne Eiche oder 'n Kirschbaum im Garten", sagte ein anderer, „und dann nennen sie's ,Eichenhorst' oder ,Haus Kirschblüte'."
„Nu, 'ne Höhle ist da, oben am Ende des Gartens", erklärte Harlow grinsend. „Ihr wisst doch, die Senkgrube, wo die Abflussrohre vom Haus reinlaufen; vielleicht haben sie's danach genannt."
„Da wir grade von den Abflussröhren sprechen", meinte der alte Jack Linden, nachdem das durch diesen eleganten Scherz hervorgerufene Gelächter verebbt war, „die Abflussrohren - möcht wissen, was sie damit machen werden; so wie sie jetzt sind, kann man gar nicht in dem Haus leben, und die verdammte Senkgrube sollte überhaupt beseitigt werden."
„So wird's auch gemacht", antwortete Crass. „'s werden ganz neue Rohre bis raus zur Straße gelegt und mit dem städtischen Entwässerungsrohr verbunden."
Crass wusste in Wirklichkeit nicht besser Bescheid als Linden, was in dieser Angelegenheit geschehen sollte; aber er war sicher, man werde es so machen. Er ließ niemals eine Gelegenheit vorübergehen, sein eigenes Prestige bei den Arbeitern zu heben, indem er durchblicken ließ, die Firma ziehe ihn ins Vertrauen.
„Das wird 'ne schöne Stange Geld kosten", meinte Linden.
„Na allemal", erwiderte Crass. „Aber Geld spielt beim ollen Sweater keine Rolle, der hat's wie Heu; du weißt doch, dass er 'n gut gehendes Großhandelsgeschäft in London hat und 'zig Läden im ganzen Land, noch außer dem, den er hier hat."
Easton las noch immer im „Verdunkler"; er konnte nicht verstehen, wohin der Zusammensteller der Zahlen eigentlich wollte - wahrscheinlich hatte der nie beabsichtigt, dass es irgend jemand verstehen sollte -, aber Easton wurde sich eines wachsenden Gefühls der Empörung und des Hasses gegen Ausländer jeder Art bewusst, die das Land ruinierten, und er dachte, es sei höchste Zeit, dass wir etwas täten, um uns zu schützen. Immerhin war es eine ziemlich schwierige Frage; um die Wahrheit zu sagen, konnte er selbst nicht klug daraus werden. Schließlich sagte er laut, zu Crass gewandt:
„Was hälste'n von der Schutzzollpolitik, Bob?"
„Hab noch nicht viel drüber nachgedacht", antwortete Crass. „Zerbrech mir nicht 'n Kopf über Polletik."
„Lässt man auch besser sein", fiel der alte Jack Linden weise ein, „wenn man über Polletik polemifiziert, endet's gewöhnlich mit 'nem Mordskrach, und man tut niemand nischt Gutes damit."
Bei diesen Worten ließen mehrere der anderen ein zustimmendes Gemurmel hören. Den meisten von ihnen war
es zuwider, über Politik zu diskutieren. Waren zufällig zwei, drei Mann beieinander, welche die gleichen Ansichten hatten, so unterhielten sie sich vielleicht in freundschaftlicher und oberflächlicher Weise über diese Dinge; aber in gemischter Gesellschaft ließ man das Thema lieber ruhen. Die „Schutzzollpolitik" wurde von der Tory-Partei vertreten. Nur das war der Grund, weshalb einige der Leute sie sehr befürworteten, und aus dem gleichen Grunde wurde sie von den anderen abgelehnt. Einige der Arbeiter gaben sich der Illusion hin, sie seien Konservative, und ebenso bildeten sich andere ein, sie seien Liberale. Tatsächlich waren die meisten überhaupt nichts. Sie wussten über die öffentlichen Angelegenheiten ihres eigenen Landes so viel wie über die Zustände auf dem Planeten Jupiter.
Easton begann zu bedauern, dass er ein so unangenehmes Thema angeschnitten hatte, als Owen von seiner Zeitung aufsah und sagte:
„Hindert euch die Tatsache, dass ihr euch ,den Kopf niemals mit Politik beschwert', daran, bei den Wahlen eure Stimme abzugeben?"
Niemand antwortete, und ein kurzes Schweigen folgte. Trotz der Zurechtweisung, die Easton erhalten hatte, konnte er jedoch nicht still sein.
„Na, ich mach mir auch nicht viel aus Polletik, aber wenn das stimmt, was hier in der Zeitung steht, scheint mir, wir sollten uns 'n bisschen dafür intressieren, wenn das Land von Ausländern auf 'n Hund gebracht wird."
„Wenn du alles glaubst, was in dem Drecksblatt steht, bist du gelackmeiert", sagte Harlow.
Der „Verdunkler" war eine konservative Zeitung, und Harlow war Mitglied des örtlichen „Liberalen Clubs". Harlows Bemerkung brachte Crass auf.
„Was soll das?" fragte er. „Du weißt doch genau, dass das Land von Ausländern auf 'n Hund gebracht wird. Geh doch bloß mal in 'nen Laden, was zu kaufen; guck dich da um, und du wirst sehen, dass die Hälfte von dem Zeugs aus 'm Ausland kommt. Die können ihre Ware hier verkaufen, weil sie keinen Zoll zahlen brauchen, aber die passen schon auf und legen hohe Zölle auf unsre Waren,
um sie aus ihren Ländern rauszuhalten, und ich sag, 's ist höchste Zeit, dass damit Schluss gemacht wird."
„Bravo", meinte Linden, der stets mit Crass übereinstimmte, weil es in dessen Macht als Vorarbeiter stand, ein gutes - oder auch ein böses - Wort für einen beim Chef einzulegen. „Bravo! Das nenn ich gesunden Menschenverstand."
Einige der anderen Leute machten sich aus dem gleichen Grunde wie Linden zum Echo der Gefühle Crass'; Owen aber lachte verächtlich.
„Freilich, es stimmt, dass wir 'ne Menge Zeugs aus fremden Ländern kriegen", sagte Harlow, „aber sie kaufen mehr von uns als wir von ihnen."
„Du bildest dir doch ein, du weißt so viel", sagte Crass. „Wie viel mehr haben sie denn letztes Jahr von uns gekauft als wir von ihnen?"
Harlow machte ein dummes Gesicht; tatsächlich war seine Sachkenntnis in der Angelegenheit nicht viel größer als die von Crass. Er murmelte so etwas wie: er habe „keinen Kopf für Zahlen" und bot an, am nächsten Tag alle Einzelheiten zu bringen.
„So einen wie dich nenn ich 'nen Aufschneider", fuhr Crass fort. „Hast 'nen großen Rand, aber wenn man zur Sache kommt, dann weißte nischt."
„Na, sogar hier in Mugsborough wimmelt's von Ausländern!" fiel Sawkins ein - der, obwohl er noch immer auf der Kommode lag, durch den lauten Wortwechsel aufgewacht war. „Fast alle Kellner und der Koch im Grand Hotel, wo wir letzten Monat gearbeitet haben, sind Ausländer."
„Ja", sagte der alte Joe Philpot mit tragisch klingender Stimme, „und dazu kommen noch die ganzen italienischen Leierkastenmänner und die Leute, die heiße Kastanien verkaufen, und als ich gestern Abend nach Hause ging, hab ich 'ne Menge Franzmänner gesehen, die Zwiebeln verkauften, und kurz danach traf ich noch zwei, die mit 'nem Bären die Straße raufkamen."
Trotz der beunruhigenden Natur dieser Mitteilung lachte Owen wieder, sehr zur Entrüstung der übrigen, die der Meinung waren, die Lage sei sehr ernst. Es war unerhört,
dass es diesen Leuten gestattet wurde, dem englischen Volk den Bissen Brot vom Munde wegzunehmen - ins Meer sollte man sie jagen!
Und so lief die Unterhaltung weiter, vorwiegend von Crass und denen geführt, die mit ihm übereinstimmten. Keiner von ihnen verstand wirklich etwas von der Sache; keiner von ihnen hatte jemals fünfzehn Minuten darauf verwendet, sie ernsthaft zu untersuchen. Die Zeitungen, die sie lasen, waren voller unbestimmter und beunruhigender Berichte über die Menge der ausländischen Waren, die importiert wurden, über die enorme Anzahl von Ausländern, die ständig ins Land kamen, über ihren armseligen Zustand, die Art, wie sie lebten, die Verbrechen, die sie begingen, und den Schaden, den sie dem englischen Handel brachten. Das waren die Samen, die, geschickt in ihre Köpfe gesät, einen erbitterten und unterschiedslosen Hass gegen die Ausländer in ihnen wachsen ließen. Für sie war die geheimnisvolle Sache, die sie abwechselnd die „Schutzzollpolletik", die „Zollschutzpolletik" und die „Zollfrage" nannten, ein großer Kreuzzug gegen die Ausländer. Das Land war in einem furchtbaren Zustand; Armut, Hunger und Elend in hunderterlei Form waren bereits in Tausende Heime gedrungen und standen an der Schwelle von weiteren Tausenden. Wie kam das? Die verfluchten Ausländer waren schuld daran. Deshalb, nieder mit den Ausländern und allem, was sie taten. Hinaus mit ihnen. Jagt die Hunde ins Meer! Das Land ginge zugrunde, wenn man es nicht auf irgendeine Weise schützte. Die Schutzzoll-, Zollschutz-, Zollpolletik, oder wie, Teufel auch, das Ding hieß, war ein Schutz: deshalb konnte nur ein Dummkopf zögern, sie zu unterstützen. Es war ganz offensichtlich -ganz einfach. Man brauchte nicht zweimal darüber nachzudenken. Es war kaum nötig, überhaupt darüber nachzudenken.
Der Schluss, zu dem Crass und diejenigen unter seinen Kollegen kamen, die sich für Konservative hielten - die Mehrzahl von ihnen hätte nicht ein Dutzend Sätze laut lesen können, ohne ins Stottern zu geraten -, war, es sei nicht nötig, nachzudenken, zu studieren oder irgend etwas zu untersuchen. Alles war sonnenklar. Der Ausländer war der Feind und war die Ursache der Armut und der schlechten Lage des Handels.
Als sich der Sturm ein wenig gelegt hatte, sagte Owen höhnisch:
,Einige von euch scheinen zu denken, dass es ein großer Fehler Gottes war, so viele Ausländer zu schaffen. Ihr solltet eine Massenversammlung darüber abhalten; nehmt doch eine Entschließung etwa folgenden Inhalts an: ,Die hier versammelten britischen Christen protestieren energisch gegen die Handlungsweise des Höchsten Wesens, so viele Ausländer geschaffen zu haben, und fordern es auf, umgehend Feuer, Schwefel und mächtige Felsbrocken auf die Köpfe all dieser Philister herabregnen zu lassen, damit sie völlig vom Antlitz der Erde vertilgt werden, die rechtmäßig dem britischen Volk gehört.'"
Crass sah sehr entrüstet aus, aber es fiel ihm nichts ein, womit er Owen antworten konnte, und der fuhr fort:
„Vor einer Weile hast du die Bemerkung gemacht, du zerbrächest dir niemals den Kopf über das, was du Politik nennst, und einige der anderen stimmten mit dir überein, es lohne sich nicht. Nun, da du dir niemals Gedanken darüber machst, folgt daraus, dass du nichts darüber weißt, und doch zögerst du nicht, sehr entschiedene Meinungen über Dinge zu äußern, von denen du zugegebenermaßen nichts weißt. Nächstens, wenn eine Wahl stattfindet, gehst du hin und stimmst für eine Politik, von der du nichts weißt. Ich sage: da du dir niemals die Mühe machst, herauszufinden, welche Seite im Recht oder im Unrecht ist, hast du kein Recht, irgendeine Meinung zu äußern. Du bist nicht reif, zu wählen. Man sollte dir nicht gestatten, zu wählen." Crass war jetzt sehr ärgerlich.
„Ich zahl meine Abgaben und Steuern", schrie er, „und hab ebensoviel Recht wie du, meine Ansicht zu äußern! Verflucht noch mal, ich stimme, für wen ich Lust hab! Werd nicht um deine noch um sonst jemandes Erlaubnis bitten! Was zum Teufel geht's dich an, für wen ich stimme?"
„Das geht mich eine ganze Menge an. Wenn du für Schutzzölle stimmst, hilfst du, sie einzuführen. Gelingt dir das, und die Schutzzölle sind tatsächlich ein solches Übel, wie einige Leute behaupten, so werde ich einer von denen
sein, die darunter zu leiden haben. Ich sage, du hast kein Recht, für eine Politik zu stimmen, die Leiden über andere Menschen bringen kann, ohne dass du dir die Mühe machst zu ergründen, ob du hilfst, die Dinge zu verbessern oder zu verschlimmern."
Owen hatte sich von seinem Sitz erhoben und ging in der Küche auf und ab, wobei er seine Worte mit aufgeregten Gebärden unterstrich.
„Von wegen, ich finde nicht raus, welche Seite im Recht ist", sagte Crass, ein wenig eingeschüchtert von Owens Art und von dem, was er für den Ausdruck des Wahnsinns in seinen Augen hielt, „ich les doch jede Woche den ,Ananias' und kaufe gewöhnlich das ,Tägliche Chloroform' oder den .Verdunkler'; da muss ich also was drüber wissen."
„Hört euch bloß das mal an", unterbrach Easton in dem Wunsch abzulenken und begann, aus dem „Verdunkler", den er noch in der Hand hielt, vorzulesen:
„GROSSE NOT IN MUGSBOROUGH
HUNDERTE ARBEITSLOS
WOHLTÄTIGKEITSVEREIN AKTIV
789 FÄLLE BETREUT
So groß die Not unter der Arbeiterbevölkerung auch letztes Jahr war, deutet doch leider alles darauf hin, dass sie bis zum Ende des soeben beginnenden Winters noch fühlbarer werden wird.
Der Wohltätigkeitsverein und ähnliche Organisationen betreuen heute bereits mehr Fälle als zur gleichen Zeit des Vorjahres. Anträge an das Wohlfahrtsamt gehen ebenfalls zahlreicher ein als im vergangenen Jahr, und die Suppenküche musste ihre Pforten um 14 Tage früher als gewöhnlich am 7. November öffnen. Die Anzahl der Männer, Frauen und Kinder, die mit einer Mahlzeit versorgt wurden, ist drei- bis viermal größer als letztes Jahr."
Easton hielt inne; das Lesen war eine schwere Arbeit für ihn.
„Es steht noch viel mehr drin", sagte er, „dass sie Hilfsaktionen starten wollen: zwei Schilling pro Tag für verheiratete Männer und einen Schilling für unverheiratete, und dann noch was über 1572 Liter Suppe, die sie an Familien ausgegeben haben, die nicht mal 'nen Penny zahlen können, und noch viel mehr. Und hier ist noch was, 'ne Annongse:
DIE NOT DER ARMEN
Sehr geehrter Herr! Die Not unter den Armen ist derartig groß, dass ich Sie ernstlich bitte, das große Hilfswerk, das die Heilsarmee zugunsten der Armen durchführt, zu unterstützen. Jede Nacht gewähren wir etwa 6000 Menschen Obdach. Täglich finden wir Arbeit für Hunderte. In London werden um Mitternacht Suppe und Brot an heimatlose Wanderer verteilt. Wir haben zusätzliche Werkstätten für Arbeitslose eröffnet. Unsere Sozialfürsorge für Männer, Frauen und Kinder, für die Haltlosen und Ausgestoßenen, ist das größte und älteste Unternehmen seiner Art in unserem Lande und braucht dringend Unterstützung. Bis Weihnachten müssen 10000 Pfund aufgebracht werden. Auf Wunsch können für jede beliebige Bevölkerungsschicht oder für jede beliebige Familie Geschenke gemacht werden. Wir bitten Sie deshalb, uns Ihren Beitrag zu übersenden, um die Fortführung unserer Arbeit zu ermöglichen. Bitte senden Sie Verrechnungsschecks, zahlbar bei der Bank von England (Law Courts-Filiale), an meine Adresse, Königin-Viktoria-Str. 101, E. C. Bilanz- und Tätigkeitsberichte werden auf Wunsch versandt. Bramwell Booth"
„Och, das gehört zur großen Glückseligkeit und zum Wohlstand, die laut Owen der Freihandel mit sich bringt", sagte Crass mit einem höhnischen Lachen.
„Ich habe nie gesagt, der Freihandel bringe Glückseligkeit oder Wohlstand", erklärte Owen.
„Nu, vielleicht haste nicht genau die Worte gebraucht, aber darauf läuft's doch hinaus."
„Ich habe niemals etwas Derartiges gesagt. Freihandel haben wir während der letzten fünfzig Jahre gehabt, und heute leben die meisten Menschen in einem Zustand mehr oder weniger bitterer Armut, und Tausende sind buchstäblich am Verhungern. Als wir Schutzzölle hatten, war die Lage noch schlimmer. Andere Länder haben Schutzzölle, und trotzdem sind viele ihrer Bewohner froh, dass sie hierher kommen und für einen Hungerlohn arbeiten können. Der einzige Unterschied zwischen Freihandel und Schutzzöllen ist, dass das eine unter gewissen Umständen noch ein wenig schlimmer sein kann als das andere; aber als Heilmittel gegen die Armut hat keins von beiden auch nur den geringsten wirklichen Wert, aus dem einfachen Grunde, weil sie sich nicht mit den wahren Ursachen der Armut befassen."
„Die größte Ursache der Armut ist die Übervölkerung", bemerkte Harlow.
„Freilich", meinte der alte Joe Philpot. „Wenn 'n Meister zwei Leute braucht, drängen sich zwanzig nach der Stellung: 's gibt zuviel Menschen und nicht genug Arbeit."
„Übervölkerung!" rief Owen, „wenn es Tausende Morgen unbebautes Land in England gibt, wo nicht ein Haus oder ein Mensch zu sehen ist. Ist Übervölkerung vielleicht die Ursache der Armut in Frankreich? Ist Übervölkerung vielleicht die Ursache der Armut in Irland? Während der letzten fünfzig Jahre ist die Bevölkerung Irlands um mehr als die Hälfte vermindert worden. Vier Millionen Menschen sind durch Hungersnot ausgerottet worden, oder man ist sie durch Auswanderung losgeworden, aber die Armut ist man dort nicht losgeworden. Vielleicht meinst du, hier in England sollte ebenfalls die Hälfte der Bevölkerung ausgerottet werden."
Jetzt wurde Owen von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt und musste sich wieder setzen. Als der Husten vorüber war, saß er da, wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab und hörte dem nun folgenden Gespräch der anderen zu.
„Trunksucht ist meistens die Ursache der Armut", sagte Slyme.
Dieser junge Mann hatte einen merkwürdigen Prozess durchgemacht, den er „Bekehrung" nannte. Er hatte eine „Sinneswandlung" erlebt und sah mit frommem Mitleid auf jene hinab, die er „weltliche" Menschen nannte. Er war nicht „weltlich", er rauchte nicht und trank nicht und ging niemals ins Theater. Er hatte die eigenartige Vorstellung, völlige Abstinenz sei eines der Grundprinzipien der christlichen Religion.
Es kam ihm niemals in den Sinn - oder was er so nannte -, dass seine Doktrin eine Beleidigung des Gründers des Christentums war.
„Jawohl, sagte Crass und pflichtete Slyme bei, „und 's gibt genug Leute, die zu faul sind zu arbeiten, wenn sie Arbeit bekommen können. Manche von den Sch...kerlen, die rumlaufen und auf ihre Armut pochen, haben in ihrem ganzen Leben noch nicht 'nen Finger krumm gemacht. Und dann sind da noch all die neumodschen Maschinen", fuhr Crass fort, „die ruinieren alles. Selbst in unserm Fach gibt's Maschinen, die Tapeten zurechtmachen, und jetzt haben sie schon 'ne Malmaschine rausgebracht. Das ist 'ne Pumpe mit 'nem Schlauch, und sie rechnen damit, dass zwei Mann soviel mit der Maschine schaffen können wie zwanzig Mann ohne die."
„Und dann die Frauen", sagte Harlow. „'s gibt heutzutage Tausende, die Arbeiten verrichten, die eigentlich den Männern zukommen."
„Meiner Meinung nach lernen die heutzutage viel zuviel", bemerkte der alte Linden. „Zum Deibel, wozu ist soviel Lernen für unsereinen gut?"
„Zu überhaupt nischt", sagte Crass; „setzt den Leuten bloß Flausen in 'n Kopf und macht sie zu faul zum Arbeiten."
Barrington, der sich an der Unterhaltung nicht beteiligte, saß noch immer da und rauchte schweigend. Owen hörte diesem jämmerlichen Gewäsch mit einem Gefühl der Verachtung und der Verwunderung zu. Waren sie alle hoffnungslos dumm? Hatte sich ihr Verstand niemals über das Kindheitsstadium hinaus entwickelt? Oder war er selbst verrückt?
„Frühes Heiraten spielt auch noch 'ne Rolle", meinte Slyme. „Keinem Mann dürfte's Heiraten erlaubt sein, wenn er nicht in der Lage ist, 'ne Familie zu ernähren."
„Wie kann denn die Ehe eine Ursache der Armut sein?" fragte Owen verächtlich. „Ein Mann, der nicht verheiratet
ist, führt ein unnatürliches Leben. Warum gehst du mit deinem Argument nicht ein bisschen weiter und sagst, die Gewohnheit des Essens und des Trinkens sei die Ursache der Armut, oder wenn die Leute barfuss und nackt gingen, gäbe es keine Armut? Der Mann, der so arm ist, dass er nicht heiraten kann, befindet sich ja bereits im Zustand der Armut."
„Was ich meine", erwiderte Slyme, „ist, dass kein Mann heiraten sollte, solange er nicht genug gespart hat, dass er 'n bisschen Geld auf der Bank hat, und außerdem denke ich, kein Mann sollte heiraten, bis er nicht 'n eigenes Haus hat. Ist gar nicht schwer, eins durch 'ne Bausparvereinigung zu kaufen, wenn man regelmäßig Arbeit hat."
Diese Worte riefen allgemeines Gelächter hervor.
„Du verdammter Idiot", sagte Harlow spöttisch, „die meisten von uns gehen die halbe Zeit spazieren. Du kannst gut reden; du hast fast 'ne Lebensstellung hier bei der Firma. Wenn sie überhaupt was zu tun hat, bist du einer von den paar, die dabei sind. Und außerdem", setzte er höhnisch grinsend hinzu, „gehn wir nicht alle in dieselbe Kirche wie das olle Elend."
„Das olle Elend" war Meister oder Polier bei Rushton & Co. „Elend" war nur einer der Spitznamen, welche die Arbeiter ihm verliehen hatten; er war ebenfalls als „Nimrod" und „Pontius Pilatus" bekannt.
„Und selbst, wenn's möglich wäre", fuhr Harlow fort und blinzelte den anderen zu, „was soll denn 'n Mann während der Jahre machen, wo er spart?"
„Nu, er muss sich eben besiegen", antwortete Slyme und wurde rot.
„,Sich selbst besiegen' ist genau richtig", sagte Harlow, und die anderen lachten von neuem.
„Natürlich, wenn man versucht, sich nur durch eigene Kraft zu bezwingen", erwiderte Slyme, „muss man Schiffbruch erleiden; aber wenn man Gottes Gnade in sich fühlt, ist's was andres."
„Halt doch um Gottes willen die Klappe!" sagte Harlow angeekelt, „wir haben grade gegessen!"
„Na, und wie steht's mit dem Trinken?" fragte plötzlich Joe Philpot.
„Hört, hört!" rief Harlow aus. „Das ist 'n Wort, 'n viertel Literchen käm mir gar nicht so ungelegen, wenn jemand anders zahlt."
Joe Philpot - oder „der alte Joe", wie er gewöhnlich genannt wurde - hatte die Gewohnheit, sich gern mal ein Gläschen zu Gemüte zu führen. Er war noch nicht sehr alt, vielleicht etwas über Fünfzig, sah aber viel älter aus. Er hatte vor ungefähr fünf Jahren seine Frau verloren und stand jetzt allein in der Welt; denn seine drei Kinder waren bereits im Säuglingsalter gestorben. Slymes Bemerkung über das Trinken hatte bei Philpot Entrüstung hervorgerufen; er fühlte sich getroffen. Der wirre Zustand seines Gehirns gestattete ihm nicht, in seiner eigenen Sache den Fehdehandschuh aufzunehmen, aber er wusste, dass Owen, obgleich er selbst nicht trank, Slyme nicht leiden konnte.
„Über Trunksucht oder Faulheit brauchen wir uns nicht zu unterhalten", gab Owen ungeduldig zur Antwort, „weil sie nichts mit der Sache zu tun haben. Die Frage lautet: Was ist die Ursache für die lebenslängliche Armut der Mehrzahl von denen, die keine Trunkenbolde sind und tatsächlich arbeiten? Wenn alle Trunkenbolde und Arbeitsscheuen, alle unqualifizierten oder untüchtigen Arbeiter morgen durch irgendein Wunder in nüchterne, fleißige und tüchtige Arbeiter verwandelt werden könnten, so wäre das, unter den gegenwärtigen Umständen, doch nur schlimmer für uns, weil es schon jetzt nicht genug Arbeit für alle gibt, und diese Leute würden, indem sie den Wettlauf um die vorhandene Arbeit verschärfen, zwangsläufig eine Herabsetzung der Löhne und einen noch größeren Mangel an Arbeitsplätzen verursachen. Die Theorien, dass Trunksucht, Faulheit oder Untüchtigkeit die Ursache der Armut sei, sind nur Ausreden, von Leuten erfunden und propagiert, die aus Eigennutz daran interessiert sind, den bestehenden Zustand aufrechtzuerhalten, und die uns hindern wollen, die wahren Ursachen unserer gegenwärtigen Lage zu entdecken."
„Nu, wenn wir alle unrecht haben", sagte Crass höhnisch, „kannste uns vielleicht verraten, was wirklich die Ursache ist?"
„Und vielleicht weißt du auch, wie man's ändern kann", bemerkte Harlow und blinzelte den anderen zu.
„Jawohl, ich glaube tatsächlich die Ursache zu kennen", erklärte Owen, „und ich glaube tatsächlich zu wissen, wie man es ändern könnte... "
„Das kann nie nicht verändert werden", unterbrach ihn der alte Linden. „Ich seh nicht ein, wozu all dies Gerede gut sein soll. Arme und Reiche hat's immer auf der Welt gegeben und wird's immer geben."
„Was ich immer sage", bemerkte Philpot, dessen Hauptmerkmal - abgesehen von seinem Durst - der Wunsch war, alle Leute zufrieden zu sehen, und der Streitigkeiten jeder Art hasste, „'s hat gar keinen Zweck nicht, dass sich unsereiner den Kopf über Polletik zerbricht oder sich deshalb rumzankt. Ist ja schietegal, für wen ihr stimmt und wer gewählt wird. Sind ja doch alle gleich; geben weise Ratschläge und sehen dabei selbst zu, wo sie bleiben. Ihr könnt reden, bis ihr schwarz werdt, aber ändern werdt ihr's nie. Hat keinen Zweck nicht, sich Gedanken drüber zu machen. Das einzig Vernünftige ist, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und zu versuchen, das Beste draus zu machen - uns amüsieren und gegenseitig helfen, so gut wir können. Das Leben ist zu kurz, um sich rumzuzanken, und sowieso sind wir alle bald tot!"
Nach dieser langen Rede ergriff der Philosoph Philpot geistesabwesend ein Marmeladenglas und führte es an die Lippen; da ihm aber plötzlich einfiel, dass es aufgekochten Tee und kein Bier enthielt, setzte er es, ohne zu trinken,
wieder ab.
„Fangen wir doch von vorne an", fuhr Owen fort, ohne sich um die Unterbrechungen zu kümmern. „Zuerst einmal: Was versteht ihr unter Armut?"
„Na, wenn du kein Geld hast, natürlich", sagte Crass
ungeduldig.
Die anderen lachten verächtlich. Die Frage schien ihnen
sehr töricht.
„Nun, das stimmt freilich in einem gewissen Maße", gab Owen zurück, „das heißt, so wie die Dinge in der Welt augenblicklich stehen. Aber Geld an sich ist kein Reichtum - es ist zu gar nichts nütze."
Bei diesen Worten brach von neuem höhnisches Gelächter aus.
„Nehmen wir zum Beispiel mal an, du und Harlow, ihr wäret als Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel; du hättest nichts als einen Sack mit tausend Sovereigns gerettet und er eine Dose Zwieback und eine Flasche Wasser."
„Sag lieber Bier!" rief Harlow beschwörend.
„Wer wäre dann der Reichere: du oder Harlow?"
„Wir sind doch aber nicht als Schiffbrüchige auf 'ner vereinsamten Insel", höhnte Crass. „Das ist das Dumme bei deinen Argumenten. Nie kannste weiterkommen, ohne dass du irgend'nen albernen Blödsinn annimmst. Hör doch auf damit, dir Sachen vorzustellen, die gar nicht wahr sind; wir wolln lieber Tatsachen hören und gesunden Menschenverstand."
„Richtig", sagte der alte Linden, „genau das wolln wir -'n bisschen gesunden Menschenverstand."
„Was verstehst 'n du unter Armut?" fragte Harlow.
„Ich verstehe unter Armut, wenn sich die Menschen nicht alle Wohltaten der Zivilisation verschaffen können: die lebensnotwendigen Dinge, die Bildung, das Vergnügen, den Komfort des Lebens - Muße, Bücher, Theater, Bilder, Musik, Urlaub, Reisen, gesunde und schöne Wohnungen, anständige Kleidung, gute und reichliche Nahrung."
Alle lachten. Es war zu lächerlich. Die Idee, dass ihresgleichen derartige Dinge wünschten oder besäßen! Jeder Zweifel über Owens Geisteszustand, den einige von ihnen etwa noch gehegt hatten, verschwand. Der Mensch war völlig verrückt.
„Wenn ein Mann sich und seiner Familie nur gerade das Existenzminimum beschaffen kann, so lebt diese Familie in Armut. Da er nicht in den Genuss der Annehmlichkeiten der Zivilisation kommt, könnte er ebenso gut ein Wilder sein; dann wäre er sogar noch besser dran, denn ein Wilder weiß nicht, was man ihm vorenthält. Was wir Zivilisation nennen - das gesamte uns von unseren Vorfahren überkommene Wissen -, ist die Frucht Tausender Jahre menschlichen Denkens und menschlicher Arbeit. Sie ist nicht das Ergebnis der Arbeit, die von den Ahnen irgendeiner bestimmten Klasse heute lebender
Menschen geleistet wurde, und deshalb ist sie rechtmäßig das Erbteil aller. Jedes kleine Kind, das in die Welt geboren wird, sei es klug oder beschränkt, ohne körperliche Fehler, lahm oder blind, mag es seine Mitmenschen in anderer Beziehung übertreffen oder ihnen unterlegen sein - in einer Hinsicht zumindest ist es ihnen ebenbürtig: es ist einer der Erben aller vergangenen Zeitalter."
Einige begannen sich zu fragen, ob Owen nicht doch vielleicht bei gesundem Verstand sei. Bestimmt musste er ein kluger Bursche sein, um so reden zu können. Es klang beinahe wie aus einem Buch, und die meisten von ihnen konnten nicht die Hälfte davon verstehen.
„Wie kommt es", fuhr Owen fort, „dass wir nicht nur unseres Erbes beraubt sind - denn wir sind doch beinahe sämtlicher Errungenschaften der Zivilisation beraubt -, sondern dass wir auch häufig nicht in der Lage sind, uns und unseren Kindern das für unsere Existenz Allernotwendigste zu beschaffen?" Niemand antwortete.
„Alle diese Dinge", setzte Owen seine Rede fort, „werden von den arbeitenden Menschen hergestellt. Wir leisten doch unseren vollen Anteil an der Arbeit; deshalb sollten wir auch unseren vollen Anteil an dem, was durch die Arbeit produziert wird, erhalten."
Die anderen schwiegen weiter. Harlow dachte an die Übervölkerungstheorie, beschloss aber, sie nicht zu erwähnen. Crass, der um nichts in der Welt fähig gewesen wäre, eine intelligente Antwort zu geben, hatte ausnahmsweise einmal genügend Verstand, zu schweigen. Zwar dachte er daran, die Patent-Farbenpumpmaschine anzuführen und sich auf den Schlauch zu beziehen, gab aber dann diesen Gedanken wieder auf; schließlich, dachte er, was nütze es, mit einem Narren wie Owen zu diskutieren? Sawkins tat, als schliefe er. Philpot aber war plötzlich sehr ernst geworden. „So, wie die Dinge jetzt stehen", sprach Owen weiter, „sind wir, anstatt die Errungenschaften der Zivilisation zu genießen, schlimmer dran als Sklaven; denn wären wir Sklaven, so würden unsere Herren zu ihrem eigenen Vorteil dafür sorgen, dass wir stets Nahrung hätten und... "
„Oh, da bin ich andrer Meinung", unterbrach ihn rau der alte Linden, der ihm sichtlich mit Ärger und Ungeduld zugehört hatte. „Für dich selber kannste sprechen, aber ich kann dir sagen, ich betrachte mich nicht als Sklaven."
„Ich auch nicht", sagte Crass störrisch. „Soll sich Sklave nennen, wer Lust hat."
In diesem Augenblick waren Schritte auf dem Gang zu hören, der zur Küche führte. Das olle Elend! Oder vielleicht der Alte selbst! Crass zog hastig die Uhr heraus.
„Verdammt noch mal!" schnaufte er. „Vier Minuten nach eins!"
Linden packte in höchster Eile eine Trittleiter und begann, damit in der Küche umherzuwandern.
Sawkins sprang schnell auf die Füße, riss ein Stück Sandpapier aus der Schürzentasche und fing an, mit wildem Eifer die Spülkammertür damit abzureiben.
Easton warf den „Verdunkler" hin und stand hastig auf.
Der Junge stopfte die „Chronik des Verbrechens" in seine Hosentasche.
Crass stürzte zum Eimer und begann, die abgestandene Schlämmkreide darin umzurühren, und der sich ausbreitende Gestank war einfach entsetzlich.
Es herrschte Bestürzung.
Sie sahen aus wie eine Bande von Übeltätern, die bei der Ausübung eines Verbrechens jäh unterbrochen wurden.
Die Tür ging auf. Es war nur Bundy, der von seinem Gang zum Buchmacher zurückkehrte. |
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