5. Kapitel Das Uhrgehäuse
Jack Linden bewohnte ein kleines Häuschen in Windley. Darin lebte er schon seit seiner Heirat vor über dreißig Jahren.
Das Haus und der Garten waren sein Steckenpferd: immer tat er irgend etwas - malte, tapezierte, weißte die Decken und dergleichen. Das Ergebnis war, dass er es schließlich fertig gebracht hatte, das Haus, obwohl es an sich nicht viel wert war, in einen recht guten Zustand zu versetzen, und es war deshalb sehr sauber und gemütlich.
Ein weiterer Erfolg seines Fleißes war, dass der Hauswirt, als er das verbesserte Aussehen des Besitzes sah, zweimal die Miete erhöht hatte. Als Linden das Haus übernahm, betrug der Mietpreis sechs Schilling die Woche. Fünf Jahre später wurde er auf sieben Schilling gesteigert und nach Ablauf weiterer fünf Jahre auf acht Schilling.
Während der dreißig Jahre, die Linden dort wohnte, hatte er im ganzen fast sechshundert Pfund Miete bezahlt, mehr als doppelt soviel, wie der gegenwärtige Wert des Hauses betrug. Jack beklagte sich nicht darüber - er war sogar sehr zufrieden. Oft sagte er, Mr. Sweater sei ein sehr guter Hauswirt, denn mehrmals hatte der Verwalter, der den wohlwollenden Sweater vertrat, es Linden gestattet, wenn der arbeitslos und mit der Miete einige Wochen im Rückstand war, seine Schulden in Raten abzubezahlen. Wie der alte Jack Linden zu bemerken pflegte, hätte so mancher Wirt die Möbel der Familie verkauft und diese auf die Straße gesetzt.
Wie dem Leser bereits bekannt ist, bestand Lindens Haushalt aus ihm selbst, seiner Frau, seinen zwei Enkelkindern und seiner Schwiegertochter, der Witwe und den Kindern seines jüngsten Sohnes, eines Reservisten, der während seines Militärdienstes im südafrikanischen Krieg gestorben war. Der junge Mann war Stuckateur gewesen und hatte unmittelbar vor dem Krieg bei Rushton & Co. gearbeitet.
Die Familie hatte gerade ihren Tee eingenommen, als
Owen an die Haustür klopfte. Die junge Frau ging nachsehen, wer dort war.
„Ist Mr. Linden zu Haus?"
„Ja. Wer sind Sie denn?"
„Mein Name ist Owen."
Der alte Jack hatte jedoch Owens Stimme bereits erkannt und kam an die Tür, neugierig, was der wohl wünschte.
„Als ich nach Hause ging, hörte ich, dass Makehaste & Sloggit am Montag eine große Arbeit beginnen; deshalb bin ich vorbeigekommen, um's dir zu sagen."
„Wirklich?" fragte Linden. „Ich werd morgen früh hingehen und mal anfragen. Ich fürchte zwar, ich hab nicht viel Aussicht, weil 'ne Menge von ihren eigenen Leuten auf Arbeit warten; ich werd aber trotzdem hingehen und mal nachfragen."
„Weißt du, es ist eine große Arbeit. Die ganze Außenfront des Häuserblocks da unten an der Ecke Kerk Street und Lord Street soll gemacht werden. Sie brauchen bestimmt ein paar Leute mehr."
„Ja, da ist was dran", sagte Linden. „Auf jeden Fall 1 bin ich dir sehr dankbar, dass du mir's gesagt hast; aber komm doch rein aus dem Regen. Du musst ja völlig durchnässt sein."
„Nein, ich halte mich nicht erst auf", antwortete Owen. „Ich möchte nicht länger als nötig in diesen nassen Sachen herumstehen."
„Aber du brauchst doch nicht mal 'ne Minute, um 'ne Tasse Tee zu trinken", bestand Linden auf seiner Einladung. „Ich werd dich nicht bitten, länger zu bleiben."
Owen trat ein; der alte Mann schloss die Tür und ging voran zur Küche. An der einen Seite des Feuers saß Lindens Frau, eine gebrechlich aussehende alte Dame mit weißem Haar, in einem großen Lehnstuhl und strickte. Linden setzte sich in einen ebensolchen Sessel auf der anderen Seite. Die beiden Enkelkinder, ein Junge und ei. Mädchen von sieben und acht Jahren, saßen noch am Tisch.
Neben der Kommode an der einen Seite des Zimmer stand eine Nähmaschine mit Tretantrieb, und auf de
einen Ende der Kommode lag ein Haufen Näharbeiten: Damenblusen, die gerade angefertigt wurden. Dies war ebenfalls ein Beispiel der Güte des Mr. Sweater, von dem Lindens Schwiegertochter die Sachen erhielt. Viel war es nicht, denn sie konnte die Arbeit nur in ihrer freien Zeit besorgen, aber, wie sie oft bemerkte, jedes bisschen half.
Der Boden war mit Linoleum belegt; an den Wänden hing eine Anzahl eingerahmter Bilder, und auf dem hohen Kaminsims stand etwas blankpoliertes Zinn- und Kupfergeschirr. Im Zimmer herrschte jene nicht zu beschreibende gemütliche und warme Atmosphäre, die nur in Häusern zu finden ist, deren Bewohner schon sehr lange Zeit darin leben.
Die junge Frau goss bereits eine Tasse Tee ein.
Die alte Mrs. Linden, die zwar Owen noch niemals gesehen, wohl aber von ihm gehört hatte, war tief religiös. Sie gehörte der Englischen Staatskirche an. Neugierig blickte sie auf den Atheisten, als er ins Zimmer trat. Er hatte den Hut abgenommen, und sie war überrascht, dass er nicht abstoßend aussah - eher das Gegenteil. Doch dann erinnerte sie sich, dass Satan häufig als Engel des Lichts erscheint. Erscheinungen täuschen. Sie wünschte, John hätte ihn nicht ins Haus gebeten, und hoffte nur, es werden sich keine bösen Folgen daraus ergeben. Als sie ihn betrachtete, war sie entsetzt, einen kleinen schwarzen Kopf mit einem Paar funkelnder, grüner Augen aus seiner Brusttasche hervorlugen zu sehen, und unmittelbar darauf begann das Kätzchen, das die Tassen und Teller auf dem Tisch entdeckt hatte, wie rasend zu miauen; plötzlich kletterte es aus seinem Zufluchtsort hervor und versetzte Owens Hand, die es zurückhalten wollte, einen tiefen Kratzer, als es auf den Boden sprang.
Das Tier kletterte am Tischtuch empor und begann, über den ganzen Tisch zu laufen; es huschte hastig von einem Teller zum anderen und suchte etwas zu essen.
Die Kinder jubelten laut auf. Ihre Großmutter war von einem Gefühl abergläubischer Unruhe erfüllt. Linden und die junge Frau standen da und starrten den unerwarteten Besucher erstaunt an.
Ehe das Kätzchen Zeit gehabt hatte, irgendwelchen Schaden anzurichten, fing Owen es ein und hob es, trotz seines heftigen Sträubens, vom Tisch.
„Ich hab's auf der Straße gefunden, als ich herkam", sagte er. „Es scheint am Verhungern zu sein."
„Armes kleines Ding. Ich geb ihm was", sagte die junge Frau.
Sie tat ihm etwas Milch und Brot auf eine Untertasse, und das Kätzchen fraß gierig; fast warf es dabei in seinem Eifer die Untertasse um - sehr zur Belustigung der Kinder, die danebenstanden und ihm bewundernd zusahen.
Ihre Mutter reichte Owen jetzt eine Tasse Tee. Linden bestand darauf, dass er sich setzte, und begann dann über Hunter zu sprechen.
„Weißte, ich musste doch einige Zeit auf die Türen verwenden, damit sie überhaupt nach was aussahen; aber 's war gar nicht die Zeit, die ich gebraucht hab, oder dass ich rauchte, was ihn so auf die Palme gebracht hat. Er weiß ganz genau, wie viel Zeit dazu nötig ist. Der wahre Grund ist, dass er denkt, ich hab zuviel Geld gekriegt. Heutzutage wird die Arbeit so flüchtig gemacht, dass Kerle wie Sawkins für die meisten Sachen genügen. Hunter hat mich rausgesetzt, bloß weil ich den höchsten Satz bekommen hab, und du wirst sehen, ich bin nicht der einzige."
„Ich fürchte, du hast recht", erwiderte Owen. „Hast du mit Rushton gesprochen, als du dein Geld abholtest?"
„Ja", erwiderte Linden. „Ich lief hin, so schnell ich konnte, aber Hunter war zuerst da. Er hat mich auf seinem Rad überholt, als ich den Weg noch nicht mal zur Hälfte hinter mir hatte; deshalb nehme ich an, er hat seine Geschichte erzählt, bevor ich kam. Auf jeden Fall - als ich anfing, mit Mr. Rushton zu sprechen, wollte der nicht zuhören. Sagte, er könnte bei Mr. Hunter und den Leuten nicht dazwischentreten."
„Ach, das ist eine elende Sippschaft, die beiden", meinte die alte Frau und schüttelte weise den Kopf. „Aber die werden's noch alles heimgezahlt kriegen, das werdt ihr schon sehen. Die werden's zu nichts bringen. Der Herr wird sie bestrafen."
Owen hatte hierzu nicht viel Vertrauen. Die meisten Leute, die er kannte und die es zu etwas gebracht hatten, waren vom gleichen Charakter wie die beiden Biedermänner, von denen die Rede war. Er wollte jedoch mit der armen alten Frau nicht streiten.
Als Tom zum Krieg einberufen wurde", sagte die junge Frau bitter, „schüttelte ihm Mr. Rushton die Hand und versprach, ihm Arbeit zu geben, wenn er zurück wär; aber jetzt, wo der arme Tom nicht mehr ist und sie wissen, dass ich und die Kinder außer Vater niemand haben, auf den wir uns stützen können, machen sie das!"
Obwohl die alte Mrs. Linden sichtlich bekümmert war, als der Name ihres toten Sohnes erwähnt wurde, war sie sich doch noch immer der Anwesenheit des Atheisten bewusst, und sie beeilte sich, ihre Schwiegertochter zu tadeln.
„Du solltest nicht sagen, wir haben niemand, auf den wir uns stützen können, Mary", sagte sie. „Wir sind ja nicht wie die Leute, die gottlos sind und ohne Hoffnung in der Welt. Der Herr ist unser Hirte. Er sorget für die Witwe und die Waise."
Owen zweifelte auch hieran stark. Er hatte in letzter Zeit so viele schlecht betreute Kinder auf den Straßen gesehen, und auch die Dinge, an die er sich aus seiner eigenen kummervollen Kindheit erinnerte, bewiesen ganz das Gegenteil.
Es folgte ein verlegenes Schweigen, Owen wünschte diese Unterhaltung nicht fortzusetzen - er fürchtete, etwas zu sagen, was die alte Frau verletzen könnte. Außerdem war er bestrebt fortzukommen; er begann in seiner nassen Kleidung zu frieren.
Als er die leere Tasse auf den Tisch stellte, sagte er:
„Nun, ich muss gehen. Zu Hause werden sie denken, ich sei verlorengegangen."
Das Kätzchen hatte das Brot und die Milch aufgefressen und wusch sich mit einer seiner Vorderpfoten geschäftig das Gesicht, zur großen Bewunderung der beiden Kinder, die neben ihm auf dem Boden saßen. Es war ein schlau aussehendes Kätzchen, ganz schwarz, mit sehr großem Kopf und sehr kleinem Körper. Es erinnerte Owen an eine Kaulquappe.
„Habt ihr Katzen gern?" fragte er die Kinder.
„Ja", sagte der Junge. „Geben Sie sie uns, ja, Onkel?"
„Oh, lassen Sie sie hier, Onkel!" rief das kleine Mädchen aus. „Ich sorge für sie."
„Ich auch", sagte der Junge.
„Habt ihr denn nicht schon selbst eine?" fragte Owen.
„Ja, wir haben 'ne große."
„Na, wenn ihr schon eine habt und ich euch diese hier gebe, habt ihr zwei Katzen, und ich hab gar keine. Das wäre doch ungerecht, nicht?"
„Sie können ja unsere Katze 'ne Weile geliehen bekommen, wenn Sie uns das Kätzchen geben", meinte der Junge, nachdem er einen Augenblick lang nachgedacht hatte.
„Weshalb möchtet ihr denn lieber das Kätzchen haben?"
„Weil es spielt; unsere Katze will nicht spielen, sie ist zu alt."
„Vielleicht seid ihr zu grob mit ihr", erwiderte Owen.
„Nö, deshalb nicht. Es ist einfach bloß, weil sie zu alt ist."
„Wissen Sie, mit den Katzen ist's genauso wie mit den Menschen", erklärte das kleine Mädchen altklug. „Wenn sie erwachsen sind, haben sie wohl ihren Kopf voll Sorgen."
Owen fragte sich, wie lange es wohl noch dauern werde, bis für das Kind die Sorgen begännen. Als er diese beiden kleinen Waisen anblickte, dachte er an seinen eigenen Jungen und an den rauen, dornigen Pfad, den sie alle drei gehen mussten, falls sie das Unglück hatten, ihre Kindheit zu überleben.
„Können wir's haben?" wiederholte der Junge.
Owen hätte den Kindern gern den Wunsch erfüllt, aber er selbst wollte das Kätzchen haben. Deshalb war er erleichtert, als die Großmutter ausrief:
„Wir wollen nicht noch eine Katze hier; wir haben schon eine, das langt!"
Sie war im stillen noch nicht sicher, ob das Geschöpf' nicht doch eine Inkarnation des Teufels sei - aber mochte dem so sein oder nicht, sie wollte es nicht im Hause haben noch sonst etwas von Owen. Sie wünschte, er ginge und nähme sein Kätzchen, seinen Kobold, oder was immer es' war, mit sich. Nichts Gutes konnte aus seiner Anwesenheit kommen. Stand nicht in der Heiligen Schrift geschrieben: „So jemand den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der sei anathema. Maran atha!" Sie wusste nicht genau, was anathema, maran atha bedeutete; aber es konnte keinen Zweifel darüber geben, dass es etwas sehr Unangenehmes war. furchtbar, dass dieser Lästerer, der - wie sie gehört hatte -nicht daran glaubte, dass es eine Hölle gab, und der sagte, die Bibel sei nicht das Wort Gottes, hier im Hause auf einem ihrer Stühle saß, aus einer ihrer Tassen trank und zu ihren Kindern sprach.
Die Kinder standen verlangend neben ihm, während er das Kätzchen unter seine Jacke steckte und sich erhob, um zu gehen.
Als Linden sich bereit machte, ihn an die Haustür zu begleiten, bemerkte Owen zufällig eine Uhr, die auf einem kleinen Tisch in der Nische an einer Seite des Kamins stand, und rief aus:
„Das ist eine schöne Uhr!"
„Ja, sieht gut aus, was?" sagte der alte Jack mit leisem Stolz. „Die hat unser armer Tom gemacht - nicht die Uhr selbst, nur das Gehäuse."
Eben das Gehäuse hatte Owens Aufmerksamkeit erregt. Es war etwa sechzig Zentimeter hoch und in der Form einer indischen Moschee geschnitzt, mit einer spitzen Kuppel und Türmchen. Dieses sehr schöne Werk musste sehr viele Stunden geduldiger Arbeit gekostet haben.
„Ja", sagte die alte Frau mit zittriger, gebrochener Stimme und blickte Owen mit tragischem Ausdruck an „Viele Monate lang arbeitete er dran, und niemand hat je erraten, für wen es war. Und dann, als mein Geburtstag herankam, war das erste, was ich sah, als ich morgens aufwachte, die Uhr, die auf einem Stuhl neben meinem Bett stand, und daneben eine Karte:
,Der guten Mutter, von ihrem sie liebenden Sohn Tom. Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag.'
Aber er selbst hat keinen Geburtstag mehr erlebt, denn genau fünf Monate später ist er nach Afrika geschickt worden, und nachdem er erst fünf Wochen dort war, ist er gestorben. Nächsten Monat am Fünfzehnten werden's fünf Jahre."
Owen, der im stillen bedauerte, unbeabsichtigt ein so schmerzliches Thema berührt zu haben, suchte nach einer passenden Antwort, musste sich aber damit begnügen, einige Worte der Bewunderung für die Arbeit zu murmeln.
Als er ihr „Guten Abend" wünschte, konnte die alte Frau, während sie ihn ansah, nicht umhin zu bemerken, dass er sehr gebrechlich und krank aussah - sein Gesicht war sehr hager und blass, und seine Augen hatten einen unnatürlichen Glanz.
Möglicherweise züchtigte der Herr in seiner unendlichen Liebe und Barmherzigkeit diesen unglücklichen Gestrandeten, um ihn zu sich zu führen. Schließlich war dieser Mensch nicht gänzlich schlecht: er war gewiss sehr hilfsbereit, wenn er sich den ganzen weiten Weg machte, um Jack von der Arbeit in Kenntnis zu setzen. Sie bemerkte, dass er keinen Mantel hatte, und draußen raste noch immer wild der Sturm; häufig trafen heftige Windstöße das Haus und erschütterten es bis in die Grundmauern.
Die natürliche Güte des Charakters der alten Frau setzte sich durch; ihre besseren Gefühle waren geweckt worden und triumphierten für den Augenblick über die Bigotterie ihrer religiösen Überzeugungen.
„Was! Sie haben ja keinen Mantel!" rief sie aus. „Sie werden ja völlig durchweichen, wenn Sie in diesem Regen nach Haus gehen!" Dann fuhr sie fort, zu ihrem Mann gewandt: „Da ist doch noch dein alter, den kannste ihm leihen, der ist noch besser als gar keiner!"
Aber Owen wollte davon nichts wissen; er dachte, als ihm das feuchtkalte Gefühl, das seine durchnässten Sachen hervorriefen, zum Bewusstsein kam, er könne nicht mehr viel nasser werden, als er bereits war. Linden begleitete ihn bis zur Haustür, und durch den Sturm, der wie ein beutelüsternes wildes Tier heulte, machte sich Owen wieder auf den Heimweg. |
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