39. Kapitel In der Brigantenhöhle
Eines Abends fand im Salon der „Höhle" die Zusammenkunft einer Anzahl „Strahlender Lichter" statt, zur Festlegung der Einzelheiten eines Gerümpelbasars, der zur Unterstützung der Arbeitslosen veranstaltet werden sollte. Es war eine inoffizielle Zusammenkunft, und während die Zuersteingetroffenen - die Herren Rushton, Didlum und Schinder, Mr. Oyley Sweater, der städtische Gutachter, Mr. Drahtmann, der Elektroingenieur, der als „Sachverständiger" eingestellt worden war, um ein Gutachten über das Elektrizitätswerk abzugeben, und zwei oder drei andere Herren, sämtlich Mitglieder der Bande - auf die übrigen Leuchten warteten, nahmen sie die Gelegenheit wahr, um sich über eine Anzahl Dinge zu unterhalten, an denen ein gemeinsames Interesse bestand und die bei der am nächsten Tag stattfindenden Sitzung des Stadtrats auf der Tagesordnung stehen sollten. Zuerst einmal war da die Angelegenheit mit dem vermieteten Kiosk auf der Großen Paradeallee. Das Gebäude gehörte der Stadt, und die Gesellschaft „Trautes Eck, Erfrischungen", deren Direktor Mr. Schinder war, hatte die Absicht, es zu mieten, [[um es als erstklassigen Erfrischungsraum zu eröffnen, vorausgesetzt, dass die Stadt gewisse Änderungen daran vornahm und es zu einem annehmbaren Preis abließ. Ein anderes Thema, das auf der Ratssitzung besprochen werden sollte, war das großzügige Angebot Mr. Sweaters an die Stadt, die neue Abflussleitung betreffend, welche die „Höhle" mit der städtischen Abwässerung verband.
Auch das Gutachten Mr. Drahtmanns, des Elektrosachverständigen, stand auf der Tagesordnung, und danach sollte ein Antrag gestellt werden zugunsten des Ankaufs der Elektrizitäts- und Installationsgesellschaft m.b.H. durch die Stadt.
Neben diesen Angelegenheiten bildeten noch verschiedene andere Punkte das Thema der angeregten Unterhaltung zwischen den Briganten und ihrem Gastgeber, darunter auch ein Vorschlag Mr. Didlums, eine wichtige Reform bei der Durchführung von Ratssitzungen vorzunehmen.]]
[Während der Diskussion trafen weitere Leuchten ein, unter ihnen mehrere Damen und Pfarrer Schwätzer von der Kirche des Übertünchten Grabes.]
[[Der Salon der „Höhle" war jetzt sorgfältig möbliert. Ein großer Spiegel in prunkend vergoldetem Rahmen reichte von dem verzierten Marmorkaminsims bis zum Karnies.]] Mitten auf dem Kaminsims stand eine prachtvolle Uhr in einem Alabastergehäuse, flankiert von zwei mit erlesener Kunst bemalten und vergoldeten Vasen aus Dresdener Porzellan. Die Fenster waren mit teuren Vorhängen drapiert und den Fußboden bedeckten ein luxuriöser Teppich und kostspielige Brücken. Üppig gepolsterte Diwans und Sessel trugen zur Gemütlichkeit des Raumes bei, der von einem riesigen, mit Kohlen und Eichenscheiten gespeisten Feuer erwärmt wurde, das im Kamin flackerte und prasselte.
Die Unterhaltung nahm nun allgemeinen Charakter anzuweilen wurde sie äußerst philosophisch, obgleich sich Mr. Schwätzer nicht viel daran beteiligte, denn er war zu beschäftigt, sich das Gebäck und den Tee einzuverleiben und sprudelte nur gelegentlich eine Antwort hervor, wenn eine Bemerkung oder eine Frage direkt an ihn gerichtet wurde. Das war Mr. Schinders erster Besuch hier im Haus, und er drückte seine Bewunderung für die Dekoration der Wände und der Decke aus und bemerkte, er habe „diesen japanischen Stil hier" schon immer gern gemocht.
Mr. Schwätzer murmelte, den Mund voller Gebäck, es sei reizend - bezaubernd - wunderbar ausgeführt - müsse viel Geld gekostet haben.
„Kann man aber woll kaum japanisch nennen, was?" bemerkte Didlum und sah sich mit Kennermiene um. „Ich würd's eher - äÄ- chinesisch oder ägyptisch nennen."
„Maurisch", erklärte Mr. Sweater lächelnd. „Die Idee habe ich durch die Pariser Weltausstellung bekommen. Es ist ähnlich wie die Dekoration in der ,Halambara', dem Palast des Sultans von Marokko. Die Uhr da ist im selben Stil."
Das Gehäuse der erwähnten Uhr, die auf einem Tisch in einer Ecke des Zimmers stand, war eine Laubsägearbeit und hatte die Form einer indischen Moschee, mit spitzer Kuppel und Türmchen. Es war das Gehäuse, das Mary Linden an Didlum verkauft hatte; der hatte es dunkel gebeizt, poliert und noch weiter verbessert, indem er die ursprünglich darin enthaltene Uhr durch eine passendere ersetzt hatte. Mr. Sweater hatte sie in Didlums Schaufenster erblickt, und da er bemerkte, dass die Zeichnung im Stil den gemalten Dekorationen auf Wänden und Decke seines Salons ähnlich waren, hatte er sie gekauft.
„Ich bin auch auf der Pariser Weltausstellung gewesen", sagte Schinder, nachdem alle die kunstvolle Arbeit des Gehäuses bewundert hatten. „Ich erinnre mich dran, wie ich durch das große Teleskop den Mond gesehen hab. In meinem Leben war ich noch nicht so überrascht: man kann 'n da ganz deutlich sehen, und er ist rund!"
„Rund?" meinte Didlum mit erstauntem Blick. „Rund? Natürlich ist er rund! Sie haben doch woll etwa nicht gedacht, der ist viereckig?"
„Nö, natürlich nicht, aber ich hab immer gedacht, er ist flach - wie 'n Teller, aber er ist rund wie 'n Fußball."
„Na, gewiss doch: der Mond ist so 'n ähnlicher Körper wie die Erde", erklärte Didlum und beschrieb mit der Hand einen Kreis in der Luft. „Sie bewegen sich immer zusammen durch die Luft, aber die Erde ist immer am nächsten bei der Sonne, und darum fällt alle vierzehn Tage der Schatten von der Erde auf den Mond und macht 'n so dunkel, dass er fürs bloße Auge unsichtbar ist. Der Neumond entsteht, weil der Mond sich 'n bißen aus dem Schatten von der Erde wegbewegt, und er kommt immer mehr und mehr daraus vor, bis wir Vollmond haben; dann geht er wieder in den Schatten zurück, und so macht er 's immer weiter."
Etwa eine Minute lang blickten alle sehr feierlich drein, und die tiefe Stille wurde nur durch das Knuspern des Gebäckes zwischen den Kiefern Mr. Schwätzers und von gewissen gurgelnden Lauten im Innern dieses Herrn gestört.
„Die Wissenschaft ist doch eine wunderbare Sache", sagte schließlich Mr. Sweater und wiegte bedächtig den Kopf, „wunderbar!"
„Ja, aber 'ne Menge dabei ist doch bloß Theorie, wissen Sie", bemerkte Rushton. „Nehmen Sie zum Beispiel diese Idee, dass die Welt rund ist; ich kann's mir nicht vorstellen! Und dann sagt man, dass Australien auf der anderen Seite von der Kugel ist, unter unsren Füßen. Meiner Meinung nach ist das lächerlich, denn wenn's wahr wäre, was hält 'n die Leute dann, dass sie nicht runterfallen?"
„Ja, freilich, 's ist natürlich sehr seltsam", gab Sweater zu. „Daran hab ich auch schon oft gedacht. Wenn's wahr wäre, müssten wir zum Beispiel in diesem Zimmer an der Decke entlang spazieren können; aber natürlich wissen wir, dass das unmöglich ist, und mir scheint's wirklich nicht so als wäre das andere vernünftiger."
„Ich hab schon oft gesehen, dass Fliegen an der Decke laufen", bemerkte Didlum, der sich berufen fühlte, die Theorie von der Kugel zu verteidigen.
„Ja, aber die sind anders", erwiderte Rushton. „Fliegen sind von der Natur mit 'ner klebrigen Masse versehen, die ihnen aus den Füßen fließt, damit sie verkehrt rum laufen können."
„Eine Sache gibt's, die diese Theorie meiner Ansicht nach ein für allemal erledigt", sagte Schinder, „und das ist -Wasser findet immer wieder seine eigne Richtung. Da kommen Sie nicht drum rum, und wenn die Welt rund war, wie man uns weismachen will, würde das ganze Wasser runterfließen, außer 'nem bisschen obenauf. Meiner Meinung nach entscheidet das den ganzen Streit."
„Und noch was andres, wo ich nicht mitkomme, ist das", fuhr Rushton fort, „der Wissenschaft nach dreht sich die Erde mit 'ner Geschwindigkeit von zwanzig Meilen in der Minute um ihre Achse. Und was ist, wenn 'ne Lerche in den Himmel steigt und ungefähr 'ne Viertelstunde da oben bleibt? Wenn's wahr wär, dass die Erde sich die ganze Zeit so schnell dreht, würde der Vogel doch, wenn er wieder runterkommt, Hunderte von Meilen von der Stelle entfernt sein, wo er raufgestiegen ist! Aber das ist überhaupt nicht der Fall; der Vogel kommt immer wieder an derselben Stelle runter."
„Ja, und dasselbe gilt auch für Ballons und Flugzeuge", sagte Schinder. „Wenn's wahr wär, dass die Welt sich so schnell um ihre Achse dreht, würde sich 'n Mann, der von Calais nach Dover fliegen will, zu der Zeit, wo er in England sein müsste, in Nordamerika wieder finden oder vielleicht noch weiter weg."
„Und wenn's wahr wär, dass die Erde sich so schnell, wie sie berechnet haben, um die Sonne dreht, würde sie doch von 'nem Ballon, wenn er aufgestiegen ist, wegrennen Dann würde der doch nie wieder zurückkommen können!' bemerkte Rushton.
Das war so augenscheinlich, dass fast alle sagten, vermutlich sei etwas daran, und Didlum konnte keine Antwort darauf finden. Nachdem man Mr. Schwätzer um seine Meinung befragt hatte, erklärte der, die Wissenschaft sei ja in ihrer Art ganz schön und gut, aber nicht zuverlässig; was die Wissenschaftler gestern erklärt hätten, widerriefen sie heute, und was sie heute erklärten, erkannten sie wahrscheinlich morgen nicht mehr an. Man müsse sehr vorsichtig sein, ehe man irgendeine ihrer Behauptungen akzeptiere.
„Da wir grade von der Wissenschaft sprechen", sagte Schinder, als der heilige Mann wieder in Schweigen fiel und ein neues Stück Gebäck und noch eine Tasse Tee in Angriff nahm, „da wir grade von der Wissenschaft sprechen - dabei fällt mir 'ne Unterhaltung ein, die ich neulich mit Dr. Schwächling hatte. Sie wissen doch, er glaubt, wir stammen sämtlich von Affen ab."
Alle lachten; die Sache war derartig widersinnig, was für eine Idee, intelligente Wesen auf eine Ebene mit Tieren zu stellen!
„Aber hören Sie sich bloß mal an, wie schön ich den fertiggemacht hab", fuhr Schinder fort. „Nachdem wir lange über das, was er Everlution oder so ähnlich nennt, und über 'nen Haufen Stuss gestritten haben, aus dem ich nicht schlau geworden bin - und ehrlich gesagt, ich glaub auch nicht, dass er selbst die Hälfte davon verstanden hat -, sage ich zu ihm: ,Nun', sage ich, ,muss Ihre Familie woll da aufgehört haben, wo meine angefangen hat.'"
Inmitten des Gelächters, das den Schluss der Erzählung Schinders feierte, bemerkte man, dass Mr. Schwätzer blau im Gesicht wurde. Er ruderte mit den Armen und wand sich, als werde er von einem Anfall geschüttelt; seine Augen quollen aus den Höhlen, während sein riesiger Bauch krampfhaft zitterte und sich abwechselnd zusammenzog und ausdehnte, als wolle er platzen.
Im Überschwang seiner Heiterkeit hatte der unglückliche Prediger zwei Gebäckstücke auf einmal verschluckt. Alle eilten ihm zu Hilfe; Schinder und Didlum ergriffen jeder einen Arm und eine Schulter und zwangen ihm den Kopf hinunter, Rushton stieß ihn in den Rücken, und die Damen kreischten vor Besorgnis. Sie flößten ihm einen großen Schluck Tee ein, um ihm zu helfen, die Gebäckstücke hinunterzubringen, und als es ihm endlich gelungen war, sie zu
verschlucken, saß er im Lehnstuhl - die Augen rot gerändert und voller Tränen, die ihm über das weiße, schwammige Gesicht liefen.
Die Ankunft der übrigen Mitglieder des Komitees machten der interessanten Diskussion ein Ende, und kurz darauf gingen sie an die Erledigung des Geschäfts, dessentwegen die Zusammenkunft einberufen worden war - die Vorbereitungen zu dem kommenden Gerümpelbasar. |
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