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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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50. Kapitel Das Unerwünschte

Während Easton unten in der Stadt war und sich den Abschluss der Wahl ansah, wurde an diesem Abend gegen sieben Uhr Ruths Kind geboren.
Nachdem der Arzt gegangen war, blieb Mary Linden die bis zu Eastons Heimkehr vergehenden Stunden über bei ihr, und unten schlichen Elsie und Charley - die, weil Mrs. Easton krank war, bis spät aufbleiben durften, um ihrer Mutter zu helfen - sehr leise umher und unterhielten sich flüsternd, während sie das Teegeschirr abwuschen, den Fußboden fegten und die Küche aufräumten. Easton kehrte erst nach Mitternacht zurück, und in all den langen Stunden, die bis dahin verstrichen, lag Ruth schwach und müde jedoch unfähig zu schlafen, das Kind neben sich, im Bett. Ihre weitgeöffneten Augen sahen unnatürlich groß und glänzend aus, im Gegensatz zu der fast tödlichen Blässe ihres Gesichts, und ein Ausdruck der Furcht lag in ihnen, während sie wartete und auf das Geräusch von Eastons Schritten lauschte.
Draußen wurde die Stille der Nacht durch viele ungewöhnliche Geräusche gestört: ein fernes Brausen, als brächen sich Wellen an einem Meeresstrand, kam aus der Richtung der Stadt, wo sich die letzten Szenen der Wahl abspielten. Alle paar Minuten rasten in wilder Eile Autos am Hause vorbei, und die Luft war erfüllt vom Klang ferner Rufe und Gesänge.
Ruth hörte zu und fuhr nervös bei jedem vorbeieilenden Schritt zusammen. Wer sich den Ausdruck auf dem Gesicht eines gehetzten Diebes vorzustellen vermag, der sich endlich von seinen Verfolgern umzingelt und gestellt sieht und auf der vergeblichen Suche nach einem Ausweg wild um sich blickt, kann sich vielleicht ein Bild davon machen, in welch panischer Angst sie auf jeden Ton lauschte, der in die Stille des dämmrig beleuchteten Raums drang. Und immer wieder, wenn ihr umherirrender Blick auf das zerbrechliche Bisschen von einem Menschlein fiel, das da an ihrer Seite lag, zogen sich ihre Brauen zusammen, und ihre Augen füllten sich mit bitteren Tränen, während sie ihre schwache, zitternde Hand ausstreckte, um seine Decken zu ordnen und leise, mit bebenden Lippen und brechendem Herzen, ein paar Worte der Liebe und des Mitleids murmelte. Und dann wieder - beunruhigt durch die Schritte eines zufälligen Passanten oder durch das Zuschlagen der Tür eines Nachbarhauses und voller Angst, es sei das Geräusch, das sie all die langen Stunden hindurch erwartet und gefürchtet hatte, wandte sie sich erschreckt zu Mary Linden um, die auf einem Stuhl neben dem Bett saß und beim abgeschirmten Licht der Lampe nähte, und sie hielt sich an Marys Arm, als suche sie Schutz vor einer drohenden Gefahr.
Es war nach zwölf Uhr, als Easton heimkam. Ruth erkannte seinen Schritt, noch ehe er das Haus erreichte, und ihr Herz schien auszusetzen, als sie das Zuklappen der Gartentür hörte, nachdem er hindurchgegangen war.
Es war Marys Absicht gewesen, sich zurückzuziehen, ehe er ins Zimmer kam, aber die kranke Frau klammerte sich in so offenbarer Furcht an sie und flehte sie so inständig an, nicht fortzugehen, dass sie blieb.
Mit einem Gefühl heftiger Enttäuschung bemerkte Easton, wie Ruth vor ihm zurückschreckte, denn er hatte erwartet und gehofft, hiernach werden sie wieder gute Freunde sein; er bemühte sich jedoch zu glauben, es liege daran, dass sie krank sei, und als sie ihn das Kind nicht berühren lassen wollte, damit er es nicht aufwecke, war er einverstanden, ohne eine Frage zu stellen.
Am nächsten Tag und während des größten Teils der folgenden zwei Wochen hatte Ruth hohes Fieber. Zwischendurch gab es Zeiten, in denen sie, obgleich schwach und erschöpft, bei Bewusstsein war, meistens jedoch wusste sie nichts von ihrer Umgebung, und häufig phantasierte sie. Mrs. Owen kam jeden Tag, um sie pflegen zu helfen, denn Mary hatte gerade viel zu nähen und konnte deshalb nur einen Teil ihrer Zeit Ruth widmen, die in ihrem Fieberwahn all den Kummer und die Leiden der letzten Monate wieder und wieder durchlebte und davon sprach. So erfuhren die beiden Freundinnen, während sie an ihrem Bett wachten, das furchtbare Geheimnis.
Zuweilen schien Ruth - in ihrem Delirium - von einem großen, schrecklichen Hass gegen das arme kleine Wesen besessen zu sein, das sie in die Welt gesetzt hatte, und sie konnte nur mit Mühe daran gehindert werden, ihm ein Leid anzutun. Einmal ergriff sie es voller Grausamkeit und schleuderte es heftig von sich fort ans Fußende des Betts, als wäre es etwas Giftiges oder Ekelhaftes. So musste das Kind häufig aus dem Zimmer gebracht werden, damit sie es nicht sehen oder hören konnte; war sie jedoch wieder bei Besinnung, so war ihr erster Gedanke das Kind, und sie schien sich schwach zu erinnern an das, was sie in ihrem Wahn gesagt und getan hatte; denn wenn sie sah, dass sich der Säugling nicht an seinem gewohnten Platz befand, war schmerzlich anzusehen, mit welcher Verzweiflung und Angst sie unter Tränen flehte, man möge ihr das Kind zurückgeben. Dann küsste und liebkoste sie es unter zärtlichen Worten und weinte bitterlich.
Easton sah und hörte das meiste von all dem nicht und wusste nur, dass sie sehr krank war; denn jeden Tag ging er auf die beinahe hoffnungslose Suche nach Arbeit. Rushton hatte fast nichts zu tun, und den meisten der übrigen Betriebe ging es ebenso. Sudler & Schluder hatten ein oder zwei Aufträge in Arbeit, und Easton versuchte mehrmals, bei ihnen unterzukommen, erhielt aber stets die Auskunft, es sei alles besetzt. Die dort herrschenden Antreibermethoden bildeten auch weiterhin ein Lieblingsthema bei den Gesprächen der Arbeitslosen; sie spotteten darüber und fluchten fürchterlich. Es war durchgesickert, dass die Firma der Mehrzahl der bei ihr beschäftigten Facharbeiter nur sechs Pence die Stunde zahlte, und selbst dabei waren die Arbeitsbedingungen noch schlimmer, wenn das möglich war, als bei den meisten anderen Firmen. Die Leute wurden wie Sträflinge behandelt, und jede Arbeitsstelle war eine Hölle, in der Antreiberei und Schurigelei das oberste Gesetz waren und unflätige Schimpfworte und Flüche von morgens bis abends die Atmosphäre vergällten. Der Zorn der Arbeitslosen war nicht nur gegen die Inhaber der Firma gerichtet, sondern auch gegen die von diesen beschäftigten elenden, halbverhungerten Packesel. Diese armen Teufel wurden von den Arbeitslosen als „Lohndrücker" und „Schufte" beschimpft; trotzdem aber hatten Sudler & Schluder niemals Schwierigkeiten, zusätzliche Arbeitskräfte zu bekommen, wenn sie einige benötigten, und oft geschah es, dass die, welche die lautesten und bittersten Anklagen geäußert hatten, die ersten waren, die eifrig dorthin stürzten und sich bewarben, sobald eine Aussicht auf Arbeit bestand.
In Rushtons Büro konnte man häufig bis spätnachts Licht brennen sehen; Nimrod und sein Herr berechneten dort Preise und schrieben Kostenanschläge, wobei sie diese,
in der Hoffnung, ihre Rivalen zu unterbieten, so niedrig wie nur irgend möglich hielten. Hin und wieder hatten sie Erfolg; ob sie sich die Arbeit jedoch sicherten oder nicht -stets sah Nimrod gleich elend aus. Erhielten sie den Auftrag, so warf der häufig einen so geringen Profit ab, dass Rushton Nimrod anraunzte und meinte, er hätte schlecht gewirtschaftet. Waren ihre Kostenanschläge zu hoch und verloren sie den Auftrag, so verlangte er von Nimrod zu wissen, weshalb es Sudler & Schluder möglich sei, die Arbeit so viel billiger auszuführen.
Während die Arbeitslosen an den Ecken in Gruppen beisammenstanden oder ziellos in den Straßen umherwanderten, sahen sie häufig Hunter sorgenvoll und gehetzt auf seinem Rad vorbeifahren. Er bot ein solches Bild des Elends, dass unter den Leuten das Gerücht umzugehen begann, er sei nicht mehr der alte, seit er damals mit dem Rad gestürzt war, und einige erklärten, sie gingen jede Wette ein, dass der olle Elend schließlich „'nen Klaps kriegen" werde.
Zeitweise - sobald ein Auftrag hereinkam - wurden Owen, Crass, Slyme, Sawkins und ein oder zwei andere weiterhin bei Rushton beschäftigt; selten jedoch gelang es ihnen, mehr als zwei oder drei Tage die Woche Arbeit zu erhalten, selbst wenn es etwas zu tun gab.

 

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