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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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36. Kapitel Das Problem wird angepackt

Fast alle Firmen der Stadt waren in einer ähnlichen Bedrängnis wie Rushton & Co.; keine von ihnen hatte etwas Nennenswertes zu tun, und die Arbeiter machten sich nicht mal mehr die Mühe, in die verschiedenen Betriebe zu gehen und nach Arbeit zu fragen. Sie wussten ja, dass es zwecklos war. Die meisten von ihnen schlenderten einfach ziellos umher oder standen in Gruppen auf den Straßen und schwatzten, vorwiegend in der Nachbarschaft des Lohnsklavenmarkts am Springbrunnen auf der Großen Paradeallee. Hier versammelten sie sich in solcher Anzahl, dass ein oder zwei der Anwohner an die örtlichen Zeitungen schrieben, sich über das „öffentliche Ärgernis" beschwerten und darauf hinwiesen, dass es dazu angetan sei, die „besseren" Besucher aus der Stadt zu vertreiben. Hiernach wurden zwei oder drei Polizisten mehr in der Nähe des Brunnens postiert, und sie hatten Befehl, jede sich bildende Gruppe von Arbeitslosen zum Weitergehen aufzufordern. Sie konnten sie zwar nicht daran hindern, dorthin zu gehen, aber sie hinderten sie daran, dort herumzustehen.
Die Umzüge der Arbeitslosen fanden auch weiterhin jeden Tag statt, und das hierbei vom Publikum erbettelte Geld wurde gleichmäßig unter die Teilnehmer verteilt. Zuweilen kam auf jeden ein Schilling sechs Pence, manchmal etwas mehr und gelegentlich etwas weniger. Die Leute boten einen furchtbaren Anblick, wie sie dort im Regen oder Schnee durch die öden Straßen schlurften, während der Matsch ihre zerrissenen Stiefel durchnässte und, was noch schlimmer war, der bitterkalte Ostwind in ihre zerschlissene Kleidung drang und ihre ausgemergelten Körper erstarren ließ.
Die Mehrzahl der qualifizierten Handwerker hielt sich noch immer von diesen Umzügen fern, wenn ihre hageren Gesichter auch unfreiwillig von ihren Leiden zeugten. Obwohl in ihren trostlosen Wohnungen die Not das Zepter führte und es häufig weder Nahrung, Licht noch ein Feuer gab, waren sie doch zu stolz, ihr Elend voreinander und vor der Welt zur Schau zu stellen. Insgeheim verkauften oder verpfändeten sie ihre Kleidungsstücke und ihre Möbel; von dem Erlös oder auf Kredit lebten sie am Rande des Verhungerns; aber betteln wollten sie nicht. Viele machten sich sogar zum Echo derer, die an die Zeitungen geschrieben hatten, und verurteilten mit einem seltsamen Mangel an Klassenverbundenheit diejenigen, die an den Umzügen teilnahmen. Sie sagten, gerade diese Dinge seien es, welche die „besseren" Leute vertrieben, der Stadt Schaden brachten und all das Elend und die Arbeitslosigkeit verursachten. Manche der arbeitslosen Handwerker nahmen jedoch in anderer Form milde Gaben an: Distriktsbesucherinnen verteilten Gutscheine für Kohle und Lebensmittel. Nicht, als hätten die viel geholfen; gewöhnlich wurde viel Wesens darum gemacht, dabei eine Menge gute Ratschläge erteilt und viele Bibelsprüche zitiert, jedoch sehr wenig Lebensmittel ausgegeben. Und die es gab, gingen gewöhnlich an solche Leute, die es am wenigsten verdienten, denn der einzige Weg, an dieser Art „Barmherzigkeit" teilzuhaben, ist der, heuchlerisch zu tun, als sei man fromm; und je mehr man heuchelt, um so mehr Kohlen und Lebensmittel erhält man. Diese „barmherzigen" Leute gingen in die elenden Häuser der Armen und sagten in Wirklichkeit: „Gebt jedes Tüpfelchen Selbstachtung auf kriecht und schmeichelt, kommt zur Kirche, duckt euch und liegt auf dem Bauch vor uns, und als Entgelt dafür werden wir euch einen Gutschein geben, den ihr in einen gewissen Laden bringen und gegen Lebensmittel im Wert von einem Schilling eintauschen könnt. Und wenn ihr sehr unterwürfig und bescheiden seid, geben wir euch vielleicht nächste Woche wieder einen."
Niemals händigen sie „dem Fall" Geld aus. Das Gutscheinsystem dient drei Zwecken. Es hindert „den Fall" daran, die Wohltat zu missbrauchen und das Geld für Alkohol auszugeben. Es macht Reklame für die Wohltätigkeit des Spenders, und es gibt dem Lebensmittelhändler, der gewöhnlich ein Mitglied der Kirche ist, die Möglichkeit, alte oder schadhafte Ware loszuwerden, die er vielleicht auf Lager hat.
Kamen die „Wohlfahrtsdamen" in das Haus eines Arbeiters und fanden sie es sauber und anständig eingerichtet, waren die Kinder sauber und ordentlich gekleidet, so kamen sie zu dem Schluss, diese Leute seien keine unterstützungswürdigen „Fälle". Vielleicht hatten die Kinder fast nichts zu essen und wären in Lumpen gekleidet, hätte ihre Mutter nicht wie eine Sklavin geschuftet, um ihre Sachen zu waschen und zu flicken. Dies waren indessen nicht die Art „Fälle", denen die Wohlfahrtsdamen Unterstützung gewährten; sie gaben nur denen, die sich im Zustand äußersten Schmutzes und absoluten Elends befanden, und nur unter der Bedingung, dass sie winselten und vor ihnen krochen.
Neben dieser Sache mit den Distriktsbesucherinnen versuchten die wohlhabenden Einwohner und die örtlichen Behörden noch auf vielerlei andere Weise, mit dem „Problem" der Armut fertig zu werden - oder vielmehr, sie gaben das vor -, und die Spalten der Ortszeitungen waren
mit Briefen von allerlei Sonderlingen angefüllt, die die verschiedensten Heilmittel vorschlugen. Ein Individuum, Jessen Einkommen von Brauereiaktien herrührte, schob die Schuld an der herrschenden Not auf die Trunksucht und die Sorglosigkeit der niederen Klassen. Ein anderer meinte, diese Not sei ein göttlicher Protest gegen das Wachstum des Anglokatholizismus und das, was er „fleischliche Religion" nannte, und er schlug vor, einen Tag der Demut und des Gebets einzuhalten. Eine große Anzahl wohlgenährter Leute hielt dies für einen so ausgezeichneten Vorschlag, dass sie sogleich darangingen, ihn in die Tat umzusetzen. Sie beteten, während die Arbeitslosen und die kleinen Kinder fasteten.
Wäre man durch die Tragödie der Not und des Elends nicht so niedergedrückt gewesen, so hätte man über die possenhaften, blödsinnigen Maßnahmen lachen können, die zu ihrer Bekämpfung ergriffen wurden. Mehrere Kirchen veranstalteten einen „Gerümpel-" oder „Ramschverkauf", wie sie es nannten. Sie sandten Zirkulare aus, die etwa folgendermaßen lauteten:

GERÜMPEL-VERKAUF
zur Unterstützung der Arbeitslosen

Besitzen Sie irgendwelche Gegenstände, die Ihnen nicht mehr von Nutzen sind? Wir nehmen sie Ihnen dankend ab; bitte füllen Sie beigefügtes Formular aus, und wir werden die Sachen abholen lassen.

Am Tag der Verkaufsveranstaltung wurde der Gemeindesaal in eine Art Altwarenhandlung verwandelt, die mit allerlei Krimskrams angefüllt war. und mitten darin standen grinsend der Pfarrer und die Wohlfahrtsdamen. Die Sachen wurden für einen Pappenstiel an Leute verkauft, die sie erwerben wollten, und der Lumpenhändler des Ortes heimste eine reiche Ernte ein. Die Einkünfte aus diesem Verkauf wurden für „Wohltätigkeitszwecke" verwendet, und gewöhnlich wurde mehr Geschrei gemacht, als alles wert war.
Es gab eine kirchliche Organisation, die „Mugsborougher Totenkopfjungen", die zu dem Zweck bestand, das große religiöse Fest zum Andenken an Guy Fawkes in Ehren zu halten. Dieser Verband kam gleichfalls den Arbeitslosen zu Hilfe und veranstaltete einen „Großen Karnevals- und Fackelzug". Obgleich es auch hier und da einige Personen unter den Teilnehmern gab, die als „Kavaliere", als Königsanhänger aus der Zeit Karls I., in flitterhafte Kostüme gekleidet waren, sowie einige andere, die sich als Räuber und Wegelagerer kostümiert hatten, waren doch die Mehrzahl Jungen, die Frauenkleidung trugen, oder solche, die Säcke anhatten, in die sie für Kopf und Arme Löcher geschnitten hatten, während ihre Gesichter mit Ruß beschmiert waren. Es befand sich auch eine Anzahl Männer dabei, die Bratpfannen trugen, in denen rotes und blaues Feuer brannte. Der Festzug - oder vielmehr der Mob -wurde von einer Kapelle angeführt - und diese wiederum von zwei Leuten, die Arm in Arm einhermarschierten: ein sehr großer Mann, der als Satan verkleidet war und eine enganliegende rote Hose anhatte, Hörner auf dem Kopf trug und eine große Zigarre rauchte, während der andere in das nicht weniger pittoreske Kostüm eines Bischofs der englischen Staatskirche gekleidet war.
Diese Schar zog johlend und tanzend durch die Stadt, trug lodernde Fackeln, verbrannte rotes und blaues Feuer, und einige von ihnen sangen dumme oder unanständige Lieder, während die Sammler mit den Büchsen umherrannten und Leute um Geld anbettelten, die in den meisten Fällen fast ebenso arm waren wie die Arbeitslosen, denen sie helfen sollten. Das auf diese Weise aufgebrachte Geld wurde später Mr. Sawney Schinder, dem Sekretär des Wohltätigkeitsvereins, übergeben.
Ferner gab es noch die Suppenküche, die in Wirklichkeit ein minderwertiges Lokal in einer schäbigen Straße war. Der Inhaber war ein Verwandter des Sekretärs des Wohltätigkeitsvereins. Alle Zutaten zur Suppe erbettelte er von verschiedenen Geschäftsleuten: von Fleischern Knochen und Fleischreste, von Lebensmittelhändlern Erbsmehl und getrocknete Erbsen, von Gemüsehändlern Gemüse, altes Brot von Bäckern und so fort. Wohlmeinende, mildtätige alte Frauen, die mehr Geld als Verstand hatten, sandten ihm Geldbeträge, und er verkaufte die Suppe zu einem Penny
die Schale oder zu einem Penny den Liter für diejenigen, die Gefäße mitbrachten.
Er ließ eine große Anzahl von Heften drucken, die zu einem Schilling das Stück vertrieben wurden und von denen jedes dreizehn Scheine zu einem Penny enthielt. Der Wohltätigkeitsverein kaufte eine Menge dieser Hefte, verkaufte sie an wohltätige Menschen weiter oder verschenkte sie an „unterstützungswürdige Fälle". Diese Verbindung zum Wohltätigkeitsverein war es, die der Suppenküche in der Meinung des Publikums einen halboffiziellen Charakter verlieh und dem Inhaber den Vorwand lieferte, die Lebensmittel und Geldspenden zu erbetteln.
Ebenso wie bei den Arbeitslosenumzügen waren es zumeist ungelernte Arbeiter oder Gestrandete, die von der Suppenküche Gebrauch machten; mit wenigen Ausnahmen mieden die arbeitslosen Facharbeiter den Ort wie die Pest, obgleich ihre Not ebenso groß war wie die der anderen. Sie scheuten sich sogar, auch nur durch die Straße zu gehen, in der das Lokal lag, damit nicht etwa jemand, der sie aus dieser Richtung kommen sah, dächte, sie seien dort gewesen. Trotzdem gestatteten einige von ihnen ihren Kindern, heimlich abends die Küche aufzusuchen, um ein wenig von dieser mit dem Makel der Wohltätigkeit behafteten Nahrung zu kaufen.
Ein anderes großartiges Projekt - praktisch und staatsmännisch, so ganz anders als die wilden Pläne der wahnsinnigen Sozialisten - wurde von Pfarrer Schwätzer ins Leben gerufen, einem beliebten Prediger, dem Pfarrer der sehr exklusiven Kirche des Übertünchten Grabes. Er sammelte Spenden unter einer Anzahl halb schwachsinniger alter Frauen, die seine Kirche besuchten. Mit einem Teil dieses Geldes kaufte er Holz ein und eröffnete, was er einen Arbeitshof nannte, wo er eine Anzahl von Leuten damit beschäftigte, das Holz zum Feuern zu zersägen. Als Pfarrer, und da er sagte, er brauche das Holz für einen wohltätigen Zweck, erhielt er es selbstverständlich sehr billig - etwa für die Hälfte des Preises, den jeder andere dafür hätte zahlen müssen.
Das Holz wurde im Stücklohn zerteilt. Ein Balken von der Länge etwa einer Eisenbahnschwelle musste in zwölf
Teile zersägt und jeder von diesen in vier Stücke zerhackt werden. Für das Zersägen und Zerhacken eines Balkens auf solche Weise erhielt der Arbeiter neun Pence. Ein Balken ergab zwei Säcke Feuerungsholz, die zu einem Schilling das Stück verkauft wurden - was ein wenig unter dem üblichen Preis lag. Die Leute, welche die Säcke austrugen, erhielten drei halbe Pence für je zwei Säcke.
Da sich so viele nach dieser Arbeit drängten, durfte niemand mehr als drei Balken am Tag zersägen - das machte zwei Schilling neun Pence -, und niemand durfte öfter als an zwei Tagen in der Woche dort arbeiten.
Der Pfarrer ließ eine Anzahl Plakate drucken und in Schaufenstern aushängen; auf ihnen gab er sein Vorhaben bekannt und teilte dem Publikum mit, Bestellungen könnten per Post zum Pfarramt gesandt werden und würden dann prompt erledigt; das Brennmaterial könne an jede Adresse geliefert werden, denn freundlicherweise habe die Firma Rushton & Co. zur Benutzung durch die im Holzhof beschäftigten Leute einen Handwagen geliehen.
Infolge des Erscheinens dieser Plakate sowie der lobenden Notizen in den Spalten des „Ananias", des „Verdunklers" und des „Chloroforms" - diese Zeitungen waren bereit, unentgeltlich für die Sache zu werben, weil es sich ja um ein Wohltätigkeitsunternehmen handelte - entzogen viele Leute den Lieferanten, von denen sie gewöhnlich ihr Feuerungsholz kauften, ihre Kundschaft und gaben ihre Bestellungen im „Hof" auf, und sie hatten die Genugtuung, ihr Holz billiger als zuvor zu erhalten, während sie gleichzeitig eine wohltätige Handlung vollbrachten.
Als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit hatte dieser Plan den gleichen Wert wie die Methode des Schneiders in der Fabel, der sein Tuch zu verlängern glaubte, indem er an einem Ende ein Stück abschnitt und es am anderen wieder annähte; aber das Unternehmen hatte etwas für sich, womit es den Pfarrer für sich einnahm: es bezahlte sich selbst. Er stellte fest, dass es nicht nötig sei, den ganzen Betrag, den er den halb schwachsinnigen alten Damen entlockt hatte, für Holz auszugeben; daher kaufte er sich mit dem Rest des Geldes einen Neufundländer, ein antikes elfenbeingeschnitztes Schachspiel und ein Dutzend Flaschen Whisky.
per ehrwürdige Herr verfiel auch noch auf ein anderes Mittel, den Armen zu helfen. Er schrieb an das „Chloroform der Woche" einen Brief mit dem Aufruf, abgelegte Stiefel für arme Kinder zu spenden. Dies wurde als eine so glänzende Idee angesehen, dass die Chefredakteure sämtlicher Zeitungen des Ortes in ihren Leitartikeln darauf Bezug nahmen, und von prominenten Bürgern wurden noch weitere Briefe eingesandt, in denen sie die Weisheit und Barmherzigkeit des tiefgründigen Schwätzers priesen. Die meisten Stiefel, die auf diesen Appell hin gespendet wurden, waren so abgetragen, dass sie einer Reparatur bedurften, und in vielen Fällen lohnte eine solche nicht einmal. Die armen Leute, die mit ihnen bedacht wurden, konnten es sich nicht leisten, sie vor dem Gebrauch flicken zu lassen, und infolgedessen begannen die Stiefel für gewöhnlich zu zerfallen, nachdem die neuen Besitzer sie erst einige Tage lang getragen hatten.
Bei diesem Vorhaben kam nicht viel heraus. Es vergrößerte nicht die Anzahl der abgelegten Stiefel, und die meisten Leute, die solche „ablegten", pflegten sie im allgemeinen sowieso irgend jemand zu schenken. Der einzige Unterschied, den das Unternehmen vielleicht gemacht hat, war der, dass es möglicherweise einige Leute, die gewöhnlich ihre Stiefel wegwarfen oder an Althändler verkauften, veranlasst haben mag, diese an Mr. Schwätzer zu senden. Nichtsdestoweniger sagte fast jedermann, der Gedanke sei großartig; sein Urheber wurde als Wohltäter der Allgemeinheit gefeiert, und die geschäftigen Kleinkrämer, die sich mit dem, was sie gern „Wohltätigkeitswerk"' nannten, die Zeit vertrieben, gerieten seinetwegen in blöde Verzückung.

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