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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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33. Kapitel Der Veteran

Der alte Jack Linden hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, durch den Handel mit Räucherheringen ein wenig Geld zu verdienen; aber häufig wurden sie schlecht, und selbst wenn es ihm gelang, alle zu verkaufen, war der Verdienst so gering, dass es sich nicht verlohnte.
Ehe die Arbeit in der „Höhle" beendet war, hatte sich Philpot der Familie Linden als guter Freund erwiesen; häufig gab er dem alten Jack sechs Pence oder einen Schilling, und oft brachte er eine Tüte mit Kuchen oder Zuckerbrötchen für die Kinder. Manchmal kam er sonntags zum Tee zu ihnen, um so einen Vorwand zu haben, eine Büchse Lachs mitzubringen.
Elsie und Charlie gingen häufig zu Owens, um mit Frankie Tee zu trinken; tatsächlich lebten sie praktisch dort, solange Owen irgend etwas zu tun hatte, denn Owen und Nora ermunterten die Kinder, oft zu kommen; sie wussten ja, dass die Lindens außer dem, was die junge Frau verdiente, nichts hatten, um zu leben.
Der alte Jack unternahm einige hoffnungslose Versuche, Arbeit zu finden - irgendeine Arbeit -, aber niemand wollte ihn haben, und um die Lage noch schlimmer zu machen, wurden seine Augen, die schon seit langem immer schlechter geworden waren, nun äußerst schwach. Einmal erhielt er von einer großen Lebensmittelhandlung den Auftrag, in den Straßen eine Reklametafel umherzutragen. Der bisherige Träger, ein ehemaliger Soldat, war am Tage zuvor entlassen worden, weil er sich während des Dienstes betrunken hatte. Das Reklameschild war nicht das übliche Doppelplakat, sondern eine Art Kasten ohne Boden und Deckel, ein Holzrahmen, auf den vier Seiten mit Stoff bespannt, und darauf klebten gedruckte Reklameplakate für Margarine. Jede Seite dieses Kastens oder Rahmens war beträchtlich größer als ein gewöhnliches Plakat.
In dieses Ding musste der alte Linden hineinkriechen und es durch die Straßen tragen, mit Hilfe zweier am oberen Rahmenrand befestigten Gurte, die ihm über je eine Schulter gingen. Es schwankte ziemlich heftig, während er lief, besonders wenn sich der Wind darin verfing; innen befanden sich jedoch zwei Griffe, an denen er es festhalten konnte. Die Bezahlung betrug acht Pence pro Tag, und er musste auf einem bestimmten Weg gehen, immer die belebtesten Straßen auf und ab.
Zuerst kam ihm der Rahmen nicht sehr schwer vor; aber mit der Zeit schien dessen Gewicht zu wachsen, und die Gurte schnitten schmerzhaft in die Schultern ein. Er schämte sich auch sehr, wenn er einen seiner alten Kollegen traf von denen einige über ihn lachten.
Da er soviel Aufmerksamkeit darauf verwenden musste, den Rahmen ruhig zu halten, und da er diese Arbeit nicht gewohnt war, wie auch infolge seiner schlechten Augen, wäre er mehrmals beinahe überfahren worden. Und seine Verlegenheit wurde immer noch größer durch den Spott der übrigen Plakatträger, der Müßiggänger vor den Schenken und der Jungen, die ihm „Altes Schachtelmännchen" nachschrieb. Zuweilen bewarfen die Jungen den Rahmen mit Schmutz, und einmal schlug ihm eine verfaulte Apfelsine, die einer von ihnen geschleudert hatte, den Hut vom Kopf.
Als der Abend kam, konnte er vor Müdigkeit kaum noch stehen. Schultern, Beine und Füße schmerzten ihn entsetzlich, und als er das Ding in den Laden zurückbrachte, hielt ihn ein zerlumpter, schmutzig aussehender, vom Bier aufgedunsener alter Mann an, dessen Gesicht von Trunkenheit und Zorn gerötet war. Es war der alte Soldat, der am Tage zuvor entlassen worden war. Er fluchte und schimpfte entsetzlich und beschuldigte Linden, ihm „das Brot vom Munde gestohlen" zu haben, drohte wütend mit der Faust und schrie, er habe nicht übel Lust, ihm das Gesicht durch den Kopf und hinten zum Halse wieder herauszuschlagen. Vielleicht hätte er versucht, seine Drohung wahrzumachen, wenn nicht zur rechten Zeit ein Polizist erschienen wäre; da beruhigte er sich sogleich und trollte sich.
Am nächsten Tag ging Jack nicht wieder dorthin; er dachte, lieber wolle er Hungers sterben, als noch einmal etwas mit dem Reklamerahmen zu tun zu haben, und danach schien er alle Hoffnung, Geld zu verdienen, aufgegeben zu haben: wohin er auch ging, überall das gleiche -niemand wollte ihn haben. Ziellos wanderte er durch die Straßen und traf dort zuweilen einen alten Arbeitskameraden, der ihn zu einem Glas Bier einlud; das geschah jedoch nicht häufig, denn fast alle waren arbeitslos und besaßen keinen Penny.

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