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Robert Tressell – Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen (1914)
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32. Kapitel Der Deserteur

Gegen Ende Januar verließ Slyme Eastons Haus. Diesem war es nicht gelungen, irgendeine Beschäftigung zu finden, seit die Arbeit in der „Höhle" beendet war, und in letzter Zeit hatte die Qualität des Essens nachgelassen. Die zwölf Schilling, die Slyme für Kost und Logis zahlte, war alles, worüber Ruth für den Haushalt verfügte. Sie hatte versucht, selbst Arbeit zu finden, im großen ganzen jedoch ohne Erfolg; ein oder zwei Stellen hätte sie wohl haben können, wenn sie ihnen ihre gesamte Zeit hätte widmen können; aber natürlich war das nicht möglich -das Kind und der Haushalt mussten versorgt und Slymes Mahlzeiten zubereitet werden. Trotzdem richtete sie es einige Male ein, fortzukommen, wenn sich ihr die Möglichkeit bot, ein paar Schilling zu verdienen, indem sie der einen oder anderen Dame einen Tag lang aufwartete; dann ließ sie zu Hause alles so zurück, dass Easton während ihrer Abwesenheit allein fertig werden konnte. An solchen Tagen brachte sie gewöhnlich den Säugling bei Owens Frau unter, die ihre ehemalige Schulkameradin war. Nora tat ihr den Gefallen um so lieber, als Frankie jedes Mal ganz begeistert war. Er wurde nie müde, mit dem Kind zu spielen, und danach pflegte er seine Mutter tagelang zu bestürmen, sie möge ihm doch ein eigenes Baby kaufen.
Easton verdiente gelegentlich einige Schilling; ab und zu erhielt er Arbeit als Fensterputzer, und ein- oder zweimal arbeitete er einige Tage oder Stunden mit einem anderen Maler zusammen, der das Glück gehabt hatte, einen kleinen Auftrag „auf eigene Rechnung" zu bekommen -wie etwa eine Decke abzuwaschen und zu weißen oder ein, zwei Zimmer zu streichen; aber solche Arbeiten gab es selten.
Manchmal, wenn sie in großer Geldnot waren, verkauften sie etwas; die Bibel, die früher auf dem Tischchen im Erker lag, war eines der ersten Dinge, von denen sie sich getrennt hatten. Ruth hatte die Inschrift auf dem ersten Blatt ausradiert und danach das Buch für zwei Schilling in einem Antiquariat veräußert. Im Laufe der Zeit verkauften sie fast alles, was sich verkaufen ließ, außer natürlich den Dingen, die sie auf Ratenzahlung erworben hatten.
Slyme konnte sehen, dass sie tief in Schulden gerieten und mit der Miete im Rückstand waren, und zweimal hatte sich Easton bereits fünf Schilling von ihm geborgt, die er ihm vielleicht niemals zurückzahlen konnte. Dazu kam noch, dass Slyme ständig befürchtete, Ruth - die sich niemals völlig dem Unrechttun ergeben hatte - möchte Easton von dem Geschehenen berichten; mehr als einmal sprach sie davon, es tun zu wollen. Wenn sie es unterließ, so vor allem deshalb, weil sie wusste, selbst wenn ihr Easton vergab, werde er doch nie mehr so über sie denken können wie zuvor. Slyme legte ihr diese Überlegung mehrmals eindringlich nahe und erklärte, ein solches Geständnis könnte zu nichts Gutem führen.
In letzter Zeit war das Haus sehr ungemütlich geworden. Nicht nur, weil das Essen schlecht war und es zuweilen kein Feuer gab, sondern Ruth und Easton zankten sich auch beständig über dies oder jenes. Mit Slyme sprach sie fast überhaupt nicht und vermied, wann immer sie konnte, mit ihm am Tisch zu sitzen. Er lebte in beständiger Furcht, Easton könnte ihr Verhalten ihm gegenüber bemerken und eine Erklärung fordern. Die ganze Situation war derartig unerfreulich, dass Slyme beschloss, sich aus dem Staub zu machen. Er benutzte die Ausrede, ihm sei für einige Wochen Arbeit in einem Haus angeboten worden, das in einiger Entfernung außerhalb der Stadt liege.
Nachdem er die Eastons verlassen hatte, waren sie während mehrerer Wochen halb am Verhungern und lebten von Kredit, soweit sie welchen erhielten, sowie vom Verkauf ihrer Möbel und der übrigen Besitztümer, die zu Geld gemacht werden konnten. Die Sachen aus Slymes Zimmer wurden fast unmittelbar, nachdem er fortgezogen war, verkauft.

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